Hat er das jetzt wirklich gesagt? Die Journalisten im Presseraum des Espenmoos trauen ihren Ohren nicht, als FCZ-Trainer Lucien Favre nach der Analyse des 3:2-Siegs gegen St.Gallen ein erstaunliches Statement abgibt. «Raffael ist gekidnappt worden», sagt Favre mit eindringlicher Stimme.
Weitere Auskünfte könne er zu diesem Zeitpunkt nicht erteilen, erklärt der Waadtländer – und löst damit einen veritablen Spekulations-Tsunami aus. Die verbreitetste Theorie: Brasilianische Gangster treiben in der Schweiz ihr Unwesen. Bedrohen sie sogar das Leben des 21-jährigen Knipsers?
Einer der grössten Schweizer Fussball-Krimis der vergangenen Jahre beginnt schon zwei Tage vor dem Spiel im Büro von FCZ-Sportchef Fredy Bickel: Dort tauchen zwei Brasilianer auf und verlangen ein Gespräch. Einer von ihnen ist Andre Cury Marduy, Inhaber einer Fussballagentur mit einer offiziellen Spielervermittler-Lizenz. Der andere nennt sich Toni und gibt sich als Bekannter von Raffael aus.
Die Besucher sind nicht zum Spass gekommen. Sie wollen Geld. Viel Geld. «Raffael gehört uns», behaupten sie – und verlangen eine Verfünffachung des Lohns und eine halbe Million bar auf die Hand. Andernfalls würden sie Raffael mitnehmen und ihn nicht mehr für den FCZ auflaufen lassen.
Die Zürcher, die für Raffael im vergangenen Sommer eine halbe Million Franken an den FC Chiasso überwiesen und damit rechtmässig die Transferrechte an ihrem damaligen Topskorer (12 Tore, 14 Assists) erworben haben, lassen sich nicht unter Druck setzen. Die ungebetenen Gäste werden hinaus spediert.
Tags darauf erscheint Raffael in Begleitung von Marduy und Toni zum Abschlusstraining. Nach der Einheit verfrachten ihn die Männer in ein Auto und brausen mit ihm davon. Ab da bleibt der junge Brasilianer verschwunden.
Als sich die Mannschaft am Sonntagmorgen um 10.15 Uhr zur Abfahrt nach St.Gallen trifft, fehlt er unentschuldigt. Sein Handy ist abgeschaltet und seine Wohnung verlassen. Darum schlägt der sonst so besonnene Favre auf der Pressekonferenz Alarm. Sportchef Bickel wendet sich an die Polizei. Er gibt eine Vermisstmeldung auf und erstattet Anzeige wegen versuchter Erpressung und Freiheitsberaubung.
Raffaels Teamkollegen war bereits aufgefallen, dass er in den Tagen zuvor einen völlig verstörten Eindruck machte. Offenbar hatten ihn die beiden Hintermänner massiv eingeschüchtert, ihm weisgemacht, er sei illegal in der Schweiz und dem 1,74 Meter kleinen Brasilianer anschliessend mit finanziellen Versprechen den Kopf verdreht.
Am Sonntagabend gegen 22 Uhr folgt die erste Entwarnung. Raffael meldet sich freiwillig auf der Hauptwache der Zürcher Polizei. Wenigstens eine Entführung kann jetzt ausgeschlossen werden. Die Probleme für den FCZ sind damit aber noch nicht zu Ende.
Im Auftrag der Klubleitung nimmt Mittelfeldspieler César Kontakt mit seinem Landsmann auf und schlägt sich mit ihm bei einer ausgedehnten Beizentour die Nacht um die Ohren. Sein Auftrag: Raffael dazu bewegen, am nächsten Tag wieder im Training zu erscheinen. Der Plan funktioniert nicht. Raffael schwänzt auch am Montagmorgen und César fehlt ebenfalls. Offiziell wegen einer Grippe, in Tat und Wahrheit wohl aber schlicht verkatert.
Am Dienstag folgt endlich das Happy End. Raffaels falsche Freunde haben aufgegeben und sind abgereist. Der Spieler schleicht reumütig zurück ins Training. Er entschuldigt sich bei Favre und der Mannschaft und wird mit offenen Armen empfangen.
Als Strafe für seine ausgedehnte Eskapade muss der Brasilianer nur ein Nachtessen für das ganze Team bezahlen. Schon am nächsten Tag steht er gegen Xamax wieder in der Startaufstellung.
Die Nachsichtigkeit des FCZ lohnt sich: Bis zum Saisonende schraubt Raffael sein Torkonto auf 14 Treffer. Nach zwei weiteren erfolgreichen Saisons beim FCZ holt ihn Favre für 5,4 Millionen Schweizer Franken in die Bundesliga zu Hertha BSC und später zu Borussia Mönchengladbach. Im Januar 2022 beendete der Brasilianer seine Karriere.