Es ist ein herrlich milder und sonniger Frühsommertag in der belgischen Hauptstadt Brüssel. Beste äussere Bedingungen für ein grosses Spiel zwischen Liverpool und Juventus Turin im Europacup der Landesmeister. Alles deutet auf einen Final in ruhigen, geordneten Bahnen hin.
Niemand kann die Eskalation der Gewalt erahnen, die am Abend auf den Stehplatzrängen der altehrwürdigen Heysel-Arena zu einer der schlimmsten Katastrophen in der Geschichte des Sportes führen sollte.
Was geschah damals? Wie konnte es passieren, dass Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Fans derart viele Menschenleben kosteten? Weshalb stürzten unter dem Druck der in Panik geratenen Menschenmassen ganze Betonmauern ein? Erst Monate später, als diverse Untersuchungsberichte vorliegen und Augenzeugen befragt werden, dringt etwas Licht in die dunkle Angelegenheit.
Die Provokationen, vornehmlich durch Fans von der britischen Insel, beginnen bereits in der Innenstadt. Nur werden sie trotz unzähliger in Brüche gegangener Schaufensterscheiben und kriegerischer Streitparolen der Fans nicht ernst genommen, sondern als alltäglich empfunden.
Diese Mischung aus kraftmeierischem Übermut und pubertärer Rüpelei ist von anderen Veranstaltungen her zu bekannt, als dass befürchtet wird, sie könnte im Stadion zu einem Problem werden. Deshalb wird die fanatisierte, zum grössten Teil übel betrunkene und völlig ausser Kontrolle geratene Horde britischer Rowdys in verhängnisvoller Weise unterschätzt. Die heraufziehende Gefahr im Stadion erkennt niemand.
Erst nach der Katastrophe wird festgestellt, in welch überaltertem Zustand sich grosse Teile des Heysel-Stadions befinden. Wie brüchig Stützmauern und andere Betonbauten und wie löchrig Drahtzäune geworden sind. Es verwundert unter diesen Umständen wenig, dass bereits mit der ersten Angriffswelle der britischen Fans ganze Sektorenabschrankungen aus Metall und Drahtgeflechten niedergewalzt werden und dass unter der enormen Wucht der Menschenmassen sogar Betonmauern einstürzen.
Auf diese Weise kommen auch die meisten Besucher ums Leben. Sie werden buchstäblich zu Tode gedrückt, ersticken zum Teil unter ihren Freunden oder Familienmitgliedern oder werden auf der Flucht zu Boden getrampelt. Dem Augenzeugen bieten sich nach diesen Szenen erschütternde Bilder.
Reglose Körper mit aufgedunsenen Gesichtern liegen auf dem von Menschen überfluteten Terrain oder bereits ausserhalb des Stadions. Ununterbrochen treffen Krankenwagen auf dem Gelände ein, und der andauernde Sirenenklang dringt den Matchbesuchern allmählich durch Mark und Bein.
Die Schuldfrage ist danach noch lange ein Thema. Die bereits an Ort und Stelle beanstandeten, völlig unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen beschäftigen sogar das Parlament und stürzen schliesslich die belgische Regierung in eine Krise, die den Innenminister beinahe das Amt kostet.
Der Ablauf des Dramas kann nur einigermassen rekonstruiert werden. Bereits eine Stunde vor Anpfiff attackieren die Anhänger von Juventus im Stadion die Liverpool-Fans mit Steinen und Leuchtraketen. Die Briten antworten mit Schmähgesängen und bengalischem Feuer. Zwei Juventus-Fans stürmen auf den Rasen.
Das Unglück wird schliesslich ausgelöst, als englische Hooligans den Block Z der italienischen Fans stürmen und diese immer näher an den Stadionrand drängen. Dadurch werden die Menschen an die seitliche Mauer des Blocks getrieben, die unter dem Druck zusammenbricht. Die meisten der Opfer werden in der Panik zu Tode getrampelt.
Die italienischen Fans bekommen die Eintrittskarten für Block Z von einem italienischen Reisebüro, das diese wiederum von einem korrupten UEFA-Offiziellen bezogen hat. Die Fans hätten eigentlich nicht in Block Z stehen dürfen, dort hätten sich nur neutrale Zuschauer befinden sollen.
Das Stadion erfüllt die Anforderungen der UEFA für ein Europacup-Endspiel in keiner Weise. Zudem ist Block Z nur unzureichend gesichert. Es gibt als Abgrenzung lediglich einen schwachen Maschendrahtzaun, den man ohne grösseren Kraftaufwand niederdrücken kann. Die später eingestürzte Mauer ist brüchig. Polizisten sind im Block Z nicht anwesend. Eine Eingangskontrolle gibt es ebenfalls nicht. Flaschen, Feuerwerkskörper und Eisenstangen können problemlos ins Stadion geschmuggelt werden.
Die Partie wird vom Schweizer Schiedsrichter André Daina mit einer Stunde und 27 Minuten Verspätung trotz der Tragödie angepfiffen. Der Europäische Fussballverband UEFA, der Bürgermeister von Brüssel und die Polizeileitung entschliessen sich in der prekären Lage zu einer Durchführung des Spiels. Dies geschieht allerdings gegen den Willen der meisten Spieler. Das Spiel endet mit 1:0 für Juventus durch einen umstrittenen Elfmeter von Michel Platini.
Sehr viele TV-Stationen blenden jedoch die Live-Übertragung des Spiels aus und berichten ausschliesslich über das verheerende Unglück. Zahlreiche Sender, wie beispielsweise das ZDF, brechen die Übertragung ganz ab. Das Schweizer Fernsehen bleibt eine Halbzeit drauf.
Kommentator Beni Thurnheer erinnert sich: «Von meinem Platz im Stadion habe ich nur das Spielfeld, aber nicht die Ränge überblickt. Erst als ich sah, wie viele Menschen auf den Rasen liefen, wusste ich: Hier stimmt was nicht. Aus der Zentrale in Zürich wurde mir mitgeteilt, dass es möglicherweise Tote gab.» Da die Leitstelle beschliesst, den Match zu zeigen, macht Beni seinen Job: «Ich habe noch nie ein Spiel so lustlos kommentiert.»
Ab der zweiten Halbzeit beendet auch das Schweizer Fernsehen die Übertragung. Dass man überhaupt eine Halbzeit zeigt, wird später heftig kritisiert. Ein Sturm der Polemik braust über die SRG hinweg. Auch weil der damalige Sportchef Martin Furgler an diesem Abend nicht nach Zürich kommt, um die Krisenberichterstattung zu koordinieren, sondern zu Hause in St.Gallen bleibt.
Die Mehrzahl der Toten sind Italiener (32). Auch vier Belgier, zwei Franzosen und ein Nordire verlieren ihr Leben. Von insgesamt 26 an Belgien ausgelieferten britischen Hooligans werden 14 später zu Haftstrafen von bis zu drei Jahren verurteilt. Belgien zahlt den Hinterbliebenen umgerechnet rund zwei Millionen Franken Entschädigung. Alle englischen Fussballklubs werden in der Folge für fünf Jahre von allen internationalen Wettbewerben ausgeschlossen, der FC Liverpool sogar für sieben Jahre.
Nach der Katastrophe wird das Brüsseler Heysel-Stadion kaum noch für Fussballspiele genutzt, 1994 wird es neu gebaut und am 23. August 1995 mit dem Spiel Belgien gegen Deutschland (1:2) als König-Baudouin-Stadion wiedereröffnet. Auf der Tribünen-Rückseite erinnert eine Gedenktafel an die Tragödie von damals. Genau zwanzig Jahre nach der Katastrophe wird eine 60 Quadratmeter grosse Sonnenuhr-Skulptur zum Gedenken der Opfer der Stadionkatastrophe von 1985 eingeweiht.
Eine der grössten Katastrophen in der Geschichte des Fussballs führt schliesslich zu baulichen Veränderungen in vielen Fussballstadien auf der ganzen Welt und zu einer Neuorganisation des Ticketverkaufes. Bei internationalen Spielen dürfen seither nur noch Sitzplätze angeboten werden.
Durch die bei grossen Turnieren vorgenommene Personalisierung der Eintrittskarten soll zudem verhindert werden, dass bekannte Hooligans ins Stadion gelangen. Die Auseinandersetzungen zwischen den rivalisierenden Hooligans bleiben ein Problem und haben sich teilweise von den Stadien weg in die Innenstädte, in osteuropäische Stadien oder auch in untere Ligen verlagert.