Manchmal sind Erklärungen so simpel. Jörg Stiel wird beim 0:0 gegen Kroatien zum Matchwinner – aber erklären muss er sich nach dem Spiel vor allem zu einer Szene. Jene, in welcher der Schweizer Nati-Goalie einen Befreiungsschlag der Kroaten beinahe unterläuft, wo er dem Ball hinterher rennt, sich dann vor der Torlinie ins Gras legt und den Ball mit der Stirn stoppt. Die Bilder der kuriosen Rettungstat gehen um die Welt.
Die Aktion ist typisch für Stiel, der vieles ist, aber ganz sicher kein gewöhnlicher Fussballer. Als er 1993 als junger Goalie mit dem FC St.Gallen absteigt, geht er nach Mexiko, wo er für ein Jahr bei Toros Neza spielt. Er kehrt zurück, wird beim FC Zürich ausgemustert und steht als 28-jähriger, vertragsloser Spieler vor dem Karriereende. Stiel verkauft Fernseher, als St.Gallen plötzlich einen Goalie braucht und man sich an ihn erinnert.
Der Rest ist ein Fussballmärchen. Mit Jörg Stiel wird der FCSG im Jahr 2000 sensationell Schweizer Meister und wirft Chelsea aus dem Europacup.
Ein Jahr darauf wechselt Stiel noch einmal ins Ausland, da ist er bereits Nationalgoalie. Dieses Mal ist es die Bundesliga, die ruft. Den bereits 33-Jährigen zieht es zu Borussia Mönchengladbach. Dort wird er Publikumsliebling und Captain, dort beendet er auch 2004 seine Profikarriere.
Seine letzten Spiele bestreitet Stiel an der EM in Portugal. «Ich wünsche mir, dass die Zuschauer am Sonntag zwischen sechs und viertel vor acht vor dem Bildschirm viel Spass und einen schönen Abend haben», sagt er am Tag vor der ersten Partie gegen Kroatien.
Nun, zumindest in der einen Szene haben die Zuschauer Freude. Denn das Spiel ist nicht hochstehend, der Unterhaltungswert hält sich in Grenzen. Wie gut, dass es da wenigstens einen wie Stiel gibt! «Fussball soll auch ein wenig Spass machen», sagt er nach dem Spiel zu seiner Kopf-Parade.
Die Schweiz ist gegen Kroatien überraschend die etwas bessere, weil aktivere und kämpferischere Mannschaft. Doch ein umstrittener Platzverweis gegen Johann Vogel – er sieht Gelb-Rot wegen Ballwegschlagens – sorgt dafür, dass die Nati sich bei 38 Grad in Leiria in der zweiten Halbzeit aufs Verteidigen konzentrieren muss.
Angesichts der 40 Minuten langen Unterzahl ist es ein gewonnener Punkt. Nati-Trainer Köbi Kuhn hält fest: «Meine Mannschaft hat ein grosses Lob verdient.» Doch nun stehen Partien gegen England und Frankreich an. «Wir fürchten uns nicht, aber wir haben Respekt», sagt Kuhn. Zu Recht, wie sich herausstellt.
Der 18-jährige Wunderknabe Wayne Rooney schiesst die Schweiz beim 3:0 mit einem Doppelpack ab und gegen Frankreich setzt es eine 1:3-Niederlage. Zwischen dem 0:1 durch Zinédine Zidane und den beiden Toren von Thierry Henry gleicht Johan Vonlanthen für die Schweiz aus. Der Treffer ist historisch: Denn mit 18 Jahren und 141 Tagen ist der Stürmer bis heute der jüngste EM-Torschütze der Geschichte.
Jörg Stiel wird bis heute auf seine Einlage angesprochen. «Man verbindet die Bilder mit mir», sagt er zwei Jahrzehnte später der NZZ. «Es ist ein schmaler Grat. Wäre die Aktion damals danebengegangen, wäre ich sicherlich auch in den Fussball-Geschichtsbüchern gelandet – einfach ein bisschen anders.»