Frau Baldasarre, der US-Kunstturnerin Simone Biles ist der Olympia-Auftakt komplett missraten, danach zog sie sich wegen mentaler Probleme zurück. Was ist da passiert?
Cristina Baldasarre: Der Druck auf Ausnahme-Athletinnen wie Biles ist enorm.
Sie waren selbst Spitzenathletin im Synchron-Eiskunstlauf und heute Sportpsychologin. Wie muss man sich diesen Druck vorstellen?
In Biles' Fall erwartet nicht nur ihr Team, sondern eigentlich die ganze Welt eine Medaille. Wenn man nicht gewinnt, enttäuscht man nicht nur sich selbst, sondern alle anderen mit.
Vor den Medien in Tokio sagte Simone Biles, dass ihre psychische Gesundheit das Wichtigste sei und sie sich deshalb dazu entschieden habe, sich vom Mehrkampf-Finale zurückzuziehen. Wie werten Sie dieses Statement?
Es zeigt sehr viel Stärke und den langen Leidensweg von Biles. Eines der wichtigsten Turniere sausen zu lassen, das entscheidet man nicht einfach aus einer Laune heraus. Das war ein langer Prozess. Bis jetzt hat sie sich immer durchgebissen. Doch jetzt ging es nicht mehr. Es zeigt, wie die Turnerin unter allen Erwartungen und dem Druck fast zerbricht. Sie hat es Gott sei Dank gemerkt und für sich entschieden, «das ist es mir nicht wert».
Ist das das Ende der grossen Simone Biles?
Das ist schwierig zu sagen und ihre individuelle Entscheidung. Es kann gut sein, dass sie im Einzelfinale noch turnt. Sie wird sich die Frage stellen müssen: Turne ich und nehme ich eine schlechte Leistung oder gar eine Verletzung in Kauf? Oder lasse ich es bleiben? Kunstturnerinnen haben immer Schmerzen, egal wie gut und fit sie sind. Die Frage ist, wann man sich dafür entscheidet, genug gelitten zu haben.
Neben Biles war die japanische Tennisspielerin Naomi Osaka die grosse Hoffnung in Tokio. Doch sie scheiterte bereits im Achtelfinale.
Auch sie hat eine unglaubliche Last zu tragen.
Beide Athletinnen sind sehr jung und sehr erfolgreich. Welche Rolle spielt das Alter für die mentale Gesundheit?
Biles und Osaka hatten sehr schnell sehr viel Erfolg. Und das in einem Alter, wo man eigentlich die wichtigsten Entwicklungsschritte macht. Die Anforderungen an sie als Teenager waren hoch. Und das mitten in der Pubertät, wo man eigentlich Zeit bräuchte, eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Dieser Entwicklungsprozess braucht viel Zeit und den Austausch mit Gleichaltrigen. Das fehlt diesen jungen Athletinnen. Wer an der Weltspitze Tennis spielt oder turnt, kann nicht selbst entscheiden. Alles ist vorgeschrieben, das Tagesprogramm von Trainerinnen und Trainern durchgetaktet. Zeit für Freunde oder andere Hobbys hat man nicht.
In einer Doku-Serie sagte Simone Biles, sie wisse manchmal nicht, ob sie neben dem Turnen überhaupt jemand ist.
Genau da liegt das Problem. Die Persönlichkeitsentwicklung bei so jungen Sportlerinnen ist einzig und allein an den Sport geknüpft. Alles, woran man sich misst, ist der sportliche Erfolg. Wenn das die einzige Säule für den Selbstwert ist, dann ist das Konstrukt enorm instabil. Und bricht in sich zusammen, wenn der Erfolg irgendwann einmal ausbleibt.
Warum werden Spitzensportlerinnen und Spitzensportler regelmässig zu Übermenschen stilisiert, die einfach abliefern müssen?
Sie haben bereits in frühen Jahren gelernt, mit Niederlagen umzugehen und bei Fehlern wieder aufzustehen. Vielleicht besser als wir alle. Doch auch sie haben Gefühle und Bedürfnisse. Und diese können für dieses perfekte Bild der Spitzensportlerin nicht für immer weggesteckt werden.
Naomi Osaka zog sich beim French Open freiwillig zurück und begründete dies mit dem öffentlichen Druck und den verpflichtenden Medienterminen. Welche Rolle spielen die Medien?
Keine zentrale, aber sie können das Tüpfli auf dem I sein. Für viele Sportlerinnen und Sportler sind die Medientermine ein zusätzlicher Stress. Die ganze Welt will etwas wissen, man muss hinstehen und sich erklären. Das ist für viele nicht einfach.
Lange war unklar, ob die Olympischen Spiele 2020 stattfinden. Dann wurden sie verschoben. Jetzt finden sie grösstenteils ohne Zuschauende statt. Viele Sportler haben ihr Umfeld nicht dabei. Ist das ein weiterer Stressfaktor?
Nur schon vier Jahre auf die nächsten Olympischen Spiele zu warten, ist eine lange Zeit. Und dann noch ein weiteres Jahr. Das ist für Körper und Psyche eine grosse Belastung. Kommt hinzu, dass vielen ohne das Umfeld vor Ort ein Rückzugsort fehlt, wo sie runterfahren und innehalten können.
Immer mehr Spitzensportler sprechen ihre psychischen Probleme an. So auch der Rekord-Olympionike Michael Phelps. Er litt an Depressionen. Wird für die psychische Gesundheit im Sport genug getan?
Es geht in die richtige Richtung, aber es kann noch mehr passieren. Das Wissen ist da, aber es müsste noch adäquater und professioneller umgesetzt werden. Es wird sehr viel für die Leistungssteigerung von Sportlerinnen und Sportlern getan, aber häufig fehlt der therapeutische Blickwinkel. Der Mensch hinter dem Sport darf nicht auf der Strecke bleiben. Denn wer psychisch gesund und stabil ist, bringt auch bessere Leistungen.
Was muss im Spitzensport passieren, dass Athletinnen und Athleten auch psychisch gesund bleiben?
Am besten wäre es, wenn es bei Wettkämpfen eine Alterslimite gäbe. Es darf keinen Kinderleistungssport mehr geben. 14 Jahre ist viel zu jung. Zudem würde es den Sportlerinnen und Sportlern helfen, wenn sie und ihr Umfeld von Fachpersonen begleitet und unterstützt würden.
Womöglich ist es der Anfang der wirklich grossartigen Simone Biles und gleichzeitig das Ende des "Superstar" der "Überfliegerin" etc. und all der Rollen, der Schmerzen und Qualen, der Erfüllung der Erwartungen, dem Nachkommen der vorgetackteten Programme etc, welche der jungen Frau abverlangt wurden.
Leistungssport ist eine ungesunde Welt.
Ich finde Biles Entschluss mutig und richtig, dass sie auf sich höhrt.
Muss in unserer Leistungsgesellschaft mehr thematisiert werden, das würde vielen helfen.
Es ist keine Schande, Angst vor Versagen zu haben und existentielle Fragen zu wälzen.
Stärke heisst auch, sich Unterstützung zu suchen und zu lernen. Das bedeutet persönliches Wachstum.