Die Last, die den Stars der Boston Celtics von den Schultern gefallen ist, muss riesig gewesen sein. Erstmals seit 2008 ist das traditionsreiche NBA-Team wieder Meister in der besten Basketballliga der Welt. Jayson Tatum weinte schon vor der Schlusssirene beim entscheidenden 106:88-Sieg vor Freude. Spieler und die Betreuer lagen sich in den Armen. Auch Fans hatten Tränen in den Augen, nun da das lange Warten ein Ende hatte und sie ihre Helden feierten.
Am lautesten wurde neben Tatum vor allem Jaylen Brown zelebriert. Der 27-Jährige wurde wie schon in der Halbfinalserie als bester Spieler des Playoff-Finals gegen die Dallas Mavericks ausgezeichnet. Am wichtigsten war für die beiden jedoch, dass sie endlich eine Meisterschaft nach Boston gebracht haben und die Celtics mit nun 18 Titeln wieder alleiniger Rekordmeister der NBA sind.
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Denn der Druck auf das Star-Duo war riesig. Für Brown war es die achte Saison als Profi, für Tatum die siebte. In drei der gemeinsamen Jahre scheiterten sie im Halbfinal, einmal verloren sie in den Finals gegen Golden State. Ein weiteres Versagen hätte in Boston wohl kaum noch jemand geduldet. Im namhaften Verein ist der Druck auch vonseiten der erfolgsverwöhnten Fans nämlich grösser als anderswo. Im Nordosten der USA herrscht ein anderer Anspruch.
Egal, wie starke Leistungen ein Spieler zeigt, hier gilt er erst etwas, wenn er Champion ist. Wie hoch die Messlatte ist, um bei den Boston Celtics Legendenstatus zu erreichen, zeigt die Tatsache, dass sowohl die Auszeichnung für den besten Spieler der Finals als auch für den herausragenden Akteur der Halbfinal-Serie in der Eastern Conference in Bill Russell bzw. Larry Bird einem Spieler der Franchise mit dem Kleeblatt gewidmet sind. Tatum und Brown haben nun einen ersten Schritt auf dem langen Weg in diese Richtung getan.
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Zwar wurde auch Tatum in der Vergangenheit wiederholt kritisiert, weil er angeblich zu weich für die entscheidenden Situationen in den Playoffs sei und nicht das Zeug dazu habe, ein echter Anführer zu sein. Doch war es vor allem für Jaylen Brown eine Genugtuung, nun endlich die Anerkennung zu bekommen, die er seiner Meinung nach schon lange verdient.
Der Small Forward sah sich immer Skepsis ausgesetzt. Schon bevor Brown zum Profi wurde, wurde an seiner Tauglichkeit für die NBA gezweifelt. So hiess es von einem NBA-Verantwortlichen, dass Brown möglicherweise «zu schlau für die Liga» sein könnte. Was er damit genau meinte, ist nicht überliefert. Vielleicht hielt er es für ein mögliches Problem, dass der damals 19-Jährige sich auch für Dinge ausserhalb des Sports interessierte.
Brown entschied sich mit der Universität von California in Berkeley beispielsweise für ein aus sportlicher Hinsicht nicht ganz so starkes College, obwohl er unter anderem in Kentucky oder Kansas um die nationale College-Meisterschaft hätte spielen können. Doch für ihn zählten auch akademische Gesichtspunkte. Später, während der «Black Lives Matter»-Proteste nach dem Tod von George Floyd, sprach Brown bei einem Protestmarsch in Atlanta.
Für die Celtics waren Browns Interessen und Anliegen neben dem Platz aber kein Problem. Sie wählten ihn an dritter Stelle des Drafts im Jahr 2016. Für einen Rookie, der so früh gepickt wurde, spielte er erst mal jedoch nur eine kleine Rolle. Das lag aber daran, dass Boston das Auswahlrecht von den Brooklyn Nets im wohl einseitigsten Trade der NBA-Geschichte – die Alt-Stars Kevin Garnett und Paul Pierce wurden 2013 für viele Draft-Picks abgegeben – erhalten hatte. Auch Tatum wurde ein Jahr später mit einem dieser Picks verpflichtet. So mussten sich die beiden in einem schon ohne sie starken Team etablieren.
Das gelang sowohl Brown als auch Tatum aber eindrücklich. In der ersten gemeinsamen Saison führten die beiden Jungstars die Celtics, bei denen die eigentlichen Stars Kyrie Irving und Gordon Hayward verletzt fehlten, bis in den Halbfinal. Ab da waren die Erwartungen dann aber riesig. Und so war Brown mit jeder verpassten Chance einmal mehr der Kritik der nun noch grösseren Öffentlichkeit ausgesetzt.
Mal wurde sich über ihn lustig gemacht, weil er den Ball nur mit rechts prellen konnte und ihn häufig verlor, wenn er gezwungen war, die linke Hand zu benutzen. Mal wurde seine verbesserungswürdige Trefferquote bei Dreipunktewürfen kritisiert. Und auch die Fähigkeiten als Vorbereiter wurden ihm regelmässig abgesprochen. Es handelt sich dabei tatsächlich um Schwächen Browns, weshalb die Kritik sicher plausibel, oftmals aber auch etwas überzogen war. Zeitweise versuchten die Celtics ihn gar für einen erfahreneren Star wie Kevin Durant einzutauschen.
Doch damit muss sich Brown nun nicht mehr auseinandersetzen. Obwohl er nach wie vor nicht zur absoluten Elite der NBA-Superstars gezählt wird, hat er die Chance genutzt, die sich ihm in diesem Jahr geboten hat. Er schlüpfte in die Rolle des Anführers, den die Celtics dringend brauchten, und in der sich der eigentlich talentiertere und spielerisch bessere Tatum bisher nicht so richtig wohlfühlte.
Der 27-jährige Brown ist hingegen wie dafür gemacht, ein Anführer zu sein. Zumal er sich nicht nur offensiv – knapp 24 Punkte pro Spiel in den Playoffs – sondern vor allem auch defensiv stark engagiert. Das ist bei Stars in der NBA alles andere als selbstverständlich. Brown fordert aber regelmässig die schwierigste Aufgabe in der Defensive – und übernimmt diese auch.
In den Playoff-Finals verteidigte er Dallas-Superstar Luka Doncic. Der spielte zwar noch immer gut, erzielte über 29 Punkte pro Spiel, lieferte aber deutlich weniger Assists, war weniger effizient und verlor den Ball einiges häufiger als zuvor. Es war das Ergebnis einer starken Team-Defense, aber es lag eben auch an Jaylen Brown. Assistenztrainer Tony Dobbins lobt seinen Schützling gegenüber The Athletic für sein Arbeitsethos: «Es ist fast so, als würde er noch härter arbeiten, je mehr er erreicht.»
Brown, der sich nicht immer ausreichend gewürdigt fühlte, wurde während den Playoffs dann plötzlich zum besten Spieler seines Teams. Das sagte auch Jason Kidd, Trainer des Final-Gegners, was von Boston-Coach Joe Mazzulla als Versuch gewertet wurde, die Celtics zu spalten. Brown und Tatum liessen sich aber nicht ködern und demonstrierten Zusammenhalt. Es gehe nicht um individuelle Auszeichnungen, nur der Titel zähle.
Und so sagte Tatum nach dem entscheidenden Sieg im 5. Spiel der Best-of-7-Serie: «Ich freue mich extrem für ihn. Er hat es sich verdient.» Brown selbst war sprachlos, nachdem er die nach Bill Russell benannte Auszeichnung als Finals-MVP entgegengenommen hatte. «Ich kann es gar nicht beschreiben. Es ist unglaublich», so der frisch gebackene NBA-Champion, der anfügte: «Die Auszeichnung hätte eigentlich an jeden gehen können. Zum Beispiel Jayson Tatum, über dessen Uneigennützigkeit ich nicht genug sprechen kann.»
Tatsächlich hatte auch der 26-jährige Tatum, der sein Team bei den Punkten, den Rebounds und den Assists anführte, vier der elf Stimmen für den Finals-MVP erhalten. Zuvor galt zudem Jrue Holiday als möglicher Kandidat. Dass die Celtics ein solch breites Kader – auch Derrick White, Al Horford und Kristaps Porzingis trugen entscheidend zum Titelgewinn bei – haben, liegt vor allem an Brad Stevens. Der 47-Jährige wechselte vor drei Jahren vom Posten des Cheftrainers ins Amt des General Managers, also sozusagen des Sportchefs, und bastelte ein Team, das in einer Liga mit einer Gehaltsobergrenze eigentlich gar nicht möglich zu sein scheint. Dafür wurde er in diesem Jahr als Bester in seiner Position ausgezeichnet.
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Mit diesem Team dürfte Boston auch im nächsten Jahr um den Titel spielen. Der Hauptgrund dafür, dass die Celtics gemäss ersten Wettquoten als Favorit gelten, sind aber natürlich Jayson Tatum und Jaylen Brown. Wollen sie den nächsten Schritt in Richtung Bill Russell (11 Titel) und Larry Bird (3 Titel) gehen, müssen sie sich wohl auch in der Eastern Conference gegen stärkere Konkurrenz durchsetzen – in diesem Jahr fehlten Stars wie Joel Embiid (Philadelphia), Giannis Antetokounmpo (Milwaukee) oder Jimmy Butler (Miami) verletzt.
Doch ohne die abgefallene Last auf den Schultern dürfte selbst das leichter fallen.