Während C. J. Stroud in der NFL Rekorde bricht, muss sein Vater aus dem Gefängnis zusehen
Das war schon fast beängstigend. Die Ruhe, die C. J. Stroud in den entscheidenden Momenten des De-Facto-Playoff-Spiels bei den Indianapolis Colts zeigte, sollte bei einem 22-jährigen Quarterback in seiner ersten Profi-Saison noch nicht vorhanden sein. Doch dieser 22-Jährige ist eben nicht irgendein Rookie – C. J. Stroud ist der beste NFL-Neuling auf seiner Position seit vielen Jahren.
Dabei gab es vor dem Draft im letzten April noch Zweifel. Bei einem Test, der die besten Quarterbacks aus dem College vor der Talentwahl dahingehend prüfen soll, wie schnell und genau sie Informationen verarbeiten und wie sie mit Ablenkungen umgehen, schnitt er angeblich schlecht ab. Dazu kamen seine unglücklichen Aussagen zu Vorbildern. Stroud nannte damals Michael Vick und Deshaun Watson, die auf dem Feld zwar herausragten, daneben jedoch für negative Schlagzeilen sorgten und beide zeitweise von der NFL suspendiert wurden.
Die Houston Texans liessen sich davon jedoch nicht beunruhigen. Sie wählten ihn an zweiter Stelle, direkt hinter Strouds langjährigem Freund Bryce Young, der ebenfalls aus Kalifornien stammt. Es ging nicht lange, bis die Texans wussten, dass ihr Entscheid goldrichtig war. «Wie hat er diesen Ball geworfen?», fragte sich Tight End Dalton Schultz bereits nach der ersten Trainingswoche und fügte gegenüber The Athletic an: «Das sind absolute Traumpässe.» Trainer DeMeco Ryans, der ebenfalls in seiner ersten Saison in dieser Position ist, ergänzt: «Die älteren Spieler wollten ihm folgen. Da wusste ich, dass er das Team auf seiner Seite hat.»
Bald nach Beginn der Saison wusste auch die restliche American-Football-Welt, dass Houston seinen neuen Spielmacher gefunden hat. Die ersten zwei Partien gingen zwar noch verloren, doch liess Stroud sein Potenzial schon dort aufblitzen. Und spätestens nach der dritten Woche der Regular Season war er in der NFL angekommen. Mit grandiosen Würfen und zwei Touchdown-Pässen führte er sein Team zu einem überraschenden Sieg gegen Jacksonville. Sein langer Pass auf Tank Dell, der zwischen drei Verteidigern genau in die Hände des Wide Receivers fiel, fehlte in keiner Highlight-Show.
Und wenn man Ersatz-Quarterback Case Keenum glauben mag, sind solche Würfe bei ihm keine Seltenheit. So würde sich Stroud wöchentlich übertreffen. «Ich habe jede Woche einen neuen Lieblingspass von ihm», so der 35-Jährige.
In der Folge machte Stroud einfach so weiter. Dank ihm und der unter dem früheren Defensiv-Koordinator der San Francisco 49ers, DeMeco Ryans, stark verbesserten Defensive gewannen die Texans sechs der neun folgenden Spiele. Am neunten Spieltag lieferte er dabei ein Meisterstück ab. Gegen Tampa Bay pulverisierte er den Rekord für geworfene Yards in einem Spiel eines Rookies und führte sein Team in den letzten Sekunden des Spiels zum 39:37-Sieg.
Nachdem er im Dezember zwei Partien verletzt verpasst hatte, fand er schnell zu seiner Form zurück. Im letzten Spiel der Regular Season stand dann alles auf dem Spiel. Nur mit einem Sieg in Indianapolis stünden die Texans in den Playoffs, ansonsten würde die Saison trotz der starken Leistungen Strouds und seiner Mitspieler mit einer Enttäuschung enden. Doch der junge Mann, der erst sein 15. Spiel als Profi absolvierte, hielt dem Druck stand – mit ebendieser fast schon beängstigenden Ruhe.
Dank seiner beiden Touchdown-Pässe und seiner hohen Genauigkeit (20 von 26 Würfen kamen beim Mitspieler an) wurde er zum Matchwinner und sicherte Houston die erste Playoff-Teilnahme seit vier Jahren. Dort treffen die Texans auf die Cleveland Browns, welche die bisher beste Defense der Saison stellen.
Sich gegen Widerstände durchzukämpfen, lernte Stroud aber schon während seiner Jugend. Als er erst 13 Jahre alt war, wurde sein Vater wegen verschiedenen Verstössen, darunter Autodiebstahl, Raub und sexueller Nötigung zu 38 Jahren Gefängnis verurteilt. Für den kleinen Coleridge, wie C. J. Stroud eigentlich heisst, ein harter Schlag. Der Mann, den er als besten Freund bezeichnete und der ihm das Werfen eines Footballs beigebracht hatte, verschwand einfach so aus seinem Leben.
Zunächst wollte Stroud nichts mehr mit seinem Vater zu tun haben. Wenn dieser aus dem Gefängnis anrief, ignorierte sein jüngster Sohn ihn. Stroud war wütend und beleidigt, weil er mit seinen beiden Geschwistern und der Mutter in einer kleinen Wohnung über einem Lagerhaus in Los Angeles zurückgelassen wurde. Das Geld wurde knapp, Stroud durchlebte eine schwierige Zeit – privat wie auch sportlich.
In seinem Highschool-Team sass er in den ersten beiden Jahren nur auf der Bank, auch danach wartete er lange auf Angebote von Colleges, die ihn als Quarterback an ihrer Schule haben wollten. Eine Lehrperson sagte ihm mal, dass seine Chance, in die NFL zu kommen, nur bei 0,0078 Prozent liegen würde. Davon liess er sich aber nicht beirren, auch dank seiner Mutter Kimberly, die ihn immer zu Geduld und Beharrlichkeit mahnte. Und schliesslich kamen dann die Angebote der Top-Universitäten in Sachen American Football – unter anderem von Ohio State.
Dort überzeugte er in zwei Jahren als Stamm-Quarterback mit insgesamt 85 Touchdown-Pässen bei nur zwölf Interceptions, eine selbst fürs College hervorragende Statistik. Für die Schule tat er in der Zeit zwar nur das Nötigste, wie er erzählt, doch habe er stets einen Schnitt gehalten, der in der Schweiz etwa der Note 5 entsprechen würde. «Ich bin kein dummer Junge», stellt Stroud gegenüber The Athletic klar, nachdem die Berichte über sein schlechtes Testresultat vor dem Draft aufgekommen waren. Ein guter Notenschnitt sei im Hause Stroud verlangt worden, «es war die Regel meiner Mutter».
Dass er nicht nur seinen Sport im Kopf hat, zeigt auch die Tatsache, dass er sich für eine Justizreform in den USA einsetzt. Nachdem er sich mit seinem Vater versöhnt hatte – mittlerweile sei die Beziehung wieder wie damals, als C. J. Stroud noch ein Kind war – wurde er auf Misstände aufmerksam, die in seinen Augen in amerikanischen Gefängnissen herrschen. «Unser Strafrechtssystem ist fehlerhaft», sagte Stroud nach einem Spiel.
Um dies zu verändern, unterstützt er eine Organisation, die sich für ein besseres Bewährungs- und Begnadigungssystem einsetzt, das Inhaftierten ermöglicht, einfacher zu Arbeit und zurück ins Leben zu finden. Stroud träumt davon, dass sein Vater bald einmal eines seiner Spiele im Stadion besuchen könne. Bisher kann er nur aus dem Gefängnis zusehen.
Wie Stroud allen Widrigkeiten trotzt und sich bis in die NFL gekämpft hat, wo er gemeinsam mit Trainer Ryans als erstes Quarterback-Trainer-Duo der NFL-Geschichte, bei dem sich beide in ihrer Rookie-Saison befinden, die eigene Division gewann, sorgt selbst bei Kimberly Stroud für Bewunderung. So sagt die Mutter über ihren Sohn: «Ich bin erstaunt, wie widerstandsfähig er ist. C. J. ist der erstaunlichste Mensch, den ich je getroffen habe.»
Nun stellt sich ihm mit seinem ersten Playoff-Spiel auf Profi-Niveau das nächste Hindernis. Die Houston Texans gehen als leichter Aussenseiter ins Spiel gegen Cleveland am Samstagabend (22.30 Uhr). Die Chancen auf einen Super-Bowl-Sieg der Texaner sehen die Buchmacher gar nur im tiefen einstelligen Prozent-Bereich – aber was heisst das schon für C. J. Stroud.
Die weiteren Spiele der ersten Playoff-Runde:
Sonntag, 22.30 Uhr: Dallas Cowboys – Green Bay Packers
Montag, 2 Uhr: Detroit Lions – Los Angeles Rams
Montag, 22.30 Uhr: Buffalo Bills – Pittsburgh Steelers
(Das Spiel wurde wegen eines erwarteten Schneesturms am Sonntag um einen Tag verschoben.)
Dienstag, 2 Uhr: Tampa Bay Buccaneers – Philadelphia Eagles
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