Es sind schicksalhafte Momente für die Beteiligten, diese Schlussgänge. Es geht manchmal fast um zu viel. Zwischen 1937 und 1950 fällt nur gerade an zwei Eidgenössischen im finalen Hosenlupf eine Entscheidung. Viermal wird gestellt (Unentschieden). Am 23. Juli 1950 endet der Sägemehl-Final zum bisher einzigen Mal gar in einem Skandal.
Der Kampf zwischen den jahrelangen Erzrivalen Peter Vogt und Walter Flach wird nach 35 ereignisarmen Minuten unentschieden abgebrochen. Die Krone wird wegen «mangelndem Kampfgeist» (so der damalige Chronist) nicht vergeben. Was bei Vogt einen Wutanfall auslöst. Zeitzeugen berichten, der bärenstarke Böse sei richtig böse geworden und habe im Zorn den Kranz zerrissen. Eine Ungeheuerlichkeit, die nicht ohne Folgen bleibt: Er wird dafür ein Jahr lang für sämtliche Schwingfeste gesperrt.
Nach dem Skandal von Grenchen wird das Eidgenössische 51 Jahre lang vor missglückten Schlussgängen verschont. Erst 2001 in Nyon kommt es wieder zu einem Kampf ohne Ergebnis: Arnold Forrer und Jörg Abderhalden stellen nach 20 Minuten. Der Zentralvorstand des Verbandes entscheidet, ob nach einem Gestellten im Schlussgang der Königstitel trotzdem vergeben wird. Anders als 1950 wird nach einem ergebnislosen Schlussgang ein König ausgerufen: Arnold Forrer.
2004 in Luzern fällt wieder keine Entscheidung: Jörg Abderhalden wird nach einem Gestellten gegen Thomas Sutter trotzdem zum König gekrönt. Längst haben die Medien das Schwingen entdeckt, der König ist, anders als 1950, eine nationale Berühmtheit, und das Schwingen kann es sich ganz einfach nicht leisten, die drei Jahre bis zum nächsten Eidgenössischen den Thron nicht zu besetzen.
In die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts fallen die besten Schlussgänge. Unvergessen natürlich der Schlussgang vom 14. August 1966 in Frauenfeld. Rekrut Rudolf Hunsperger entthront König Karl Meli bereits nach zwei Minuten. Und welches ist der beste Schlussgang aller Zeiten (seit 1895)? Keine Frage: Adrian Käser gegen Eugen Hasler am 20. August 1989 in Stans. Ein Höhepunkt nicht nur der Schwinger-, sondern der Schweizer Sportgeschichte. Es ist ein glühend heisser Sonntag. Der krasse Aussenseiter Käser, erst kürzlich achtzehn geworden, steht aussichtslos im Schlussgang. Und gewinnt.
Es lohnt sich, vor Pratteln 2022 noch einmal die Erinnerung an Stans 1989 aufzufrischen. Der junge Käser, ein risikofreudiger Schwinger, unbekümmert, gelassen, beherrscht, ruhig und selbstsicher, hat nichts zu verlieren. Er ist seinem um sechs Jahre älteren Gegner Eugen Hasler an Gewicht, Grösse und Erfahrung weit unterlegen. Einzige Pluspunkte: seine jugendliche Unbeschwertheit und seine relative Frische am Ende eines heissen Tages. Er wird nicht mit einer technischen Finte oder dank grösseren Kraftreserven gewinnen. Sondern weil er das Selbstvertrauen eines Königs hat und seinen Gegner mental «zerstört».
Adrian Käser hat den wuchtigen ersten Angriffsversuchen des haushohen Favoriten getrotzt. Mitten im Schlussgang legt Eugen Hasler, leicht am Mund verletzt, eine taktische Kampf- und Verschnaufpause ein und begibt sich zur Erfrischung an den Brunnen am Rande des Kampffeldes. Käser macht in dieser psychologisch alles entscheidenden Phase instinktiv und mit erstaunlicher Nervenkraft das Richtige: Auch er geht, unbeeindruckt und gemessenen Schrittes, stolz und zielbewusst, als wäre er der König, zum Brunnen, an dem sich sein Gegner eben retabliert, kühlt sich ab und begibt sich, ohne den Kontrahenten eines Blickes zu würdigen, als Erster wieder in den Sägemehlring zurück. Dort wartet er in provozierender, herausfordernder Haltung auf Hasler.
In diesen Sekunden gewinnt Käser den Schlussgang. Denn in diesem Augenblick hat er seinem Gegner signalisiert, dass er Herr der Lage, König des Sägemehlringes ist. Käser gewinnt in der 10. Minute durch Gammen und Überdrücken. Ein Schlussgang, der an Spannung und Dramatik vielleicht nie mehr überboten werden kann. Mehr noch: Adrian Käser ist der erste moderne Schwingerkönig. Jugendlich, cool und doch traditionsbewusst, schaffte er als Erster den Brückenschlag zwischen Brauchtum und Moderne, Pop und Ländler, Stadt und Land, Kühermutz und Jeans.
Auch der Schlussgang von 2013 hat seinen Reiz: Unmittelbar nach der feststehenden Niederlage umarmt Christian Stucki seinen Bezwinger Matthias Sempach. Er wird so zum König der Herzen. Erst 2019 wird er dann zum richtigen König. Nach einem Schlussgang gegen Joel Wicki, den er im ersten Anlauf bodigt. Der Kampf ist zu kurz, um ein Drama zu werden. Dafür gibt es hinterher Polemik: Die TV-Bilder zeigen, dass Joel Wicki möglicherweise gar nicht auf dem Rücken lag.
Erst im Schlussgang eines Eidgenössischen kann einer ein Titan werden, dessen Heldentaten von Generation zu Generation überliefert werden. Ja, lange Zeit scheint es gar, dass die ungeschriebenen Gesetze des Schwingens wollen, dass einer, der einen Schlussgang verliert, mit einem Fluch belegt wird und nie mehr König werden kann. Den Thron haben viele verteidigt: beispielsweise Karl Meli (König 1961 und 1964), Rudolf Hunsperger (1966, 1969 und 1974), Ernst Schläpfer (1980 und 1983) oder Jörg Abderhalden (1998, 2004 und 2007).
Aber wer im Schlussgang unterliegt, kehrt nie mehr auf den Thron zurück. Karl Meli erholte sich von der Schlussgangniederlage von 1966 (gegen Hunsperger) ebenso wenig wie Ernst Schläpfer (Schlussgangniederlage 1986 gegen Harry Knüsel). Geni Hasler, einer der Bösesten aller Zeiten, kann einfach nie König werden. Er verliert den Schlussgang 1989 und 1995. Jörg Abderhalden kehrte zurück auf den Thron, weil er 2001 den Schlussgang eben nicht verlor, sondern den Titel durch einen Gestellten vorübergehend abgeben musste. Erst Christian Stucki bannt den Fluch. Als Schlussgang-Verlierer von 2013 wird er 2019 König. Der erste König, der einen Schlussgang verloren hat.
Die Geschichte von Jörg Schneider, dem Schlussgangverlierer von 1992, endete gar in einer Tragödie. 1977 wird der Basler mit fünfzehn Jahren in Basel der jüngste Schwinger, der je beim Eidgenössischen einen Kranz gewinnt. Es ist der Beginn einer grandiosen Karriere. 1992 greift er in Olten im Schlussgang gegen Silvio Rüfenacht nach der Krone und verliert. Am 29. März 1998 scheidet er im Alter von 37 Jahren nach einem Familienfest freiwillig aus dem Leben. Die Titanen, die Bösen, das zeigt sich hier, sind eben nicht einfach gross und stark und unbekümmert. Ihr Gemüt kann ebenso verletzlich oder gar noch anfälliger und weicher sein als das von scheinbar weniger robusten Naturen.