Ein Schwing-Modefan geht über das Wochenende ins Ausland. Er geht wandern und hat keinen Handy-Empfang. Am Montag kommt er zurück und will von seiner Frau wissen, wer denn nun Schwingerkönig geworden sei. «Niemand, soviel ich weiss», sagt die Frau. «Aber irgendeiner muss doch Erster gewesen sein.» Der Schwing-Modefan will es nicht glauben.
Er hat zum Teil recht. An jedem Schwingfest gibt es einen Sieger. Manchmal gibt es auch zwei oder – wie am letztjährigen Kilchberger Schwinget – drei Sieger. Aber an einem Eidgenössischen Fest ist der Sieger nicht automatisch der Schwingerkönig. Der Titel des Schwingerkönigs muss am späten Sonntagnachmittag vom Einteilungskampfgericht und vom Zentralvorstand des Eidgenössischen Schwingerverbandes ESV extra vergeben werden.
Am einfachsten ist die Sache, wenn einer der beiden Kontrahenten den Schlussgang gewinnt und dann der alleinige Punkthöchste ist. In diesem Fall wird ohne jede Diskussion sofort gejubelt und gefeiert. Es lebe der König.
Aber nicht selten ist es eine Gratwanderung. Am Eidgenössischen 2010 in Frauenfeld zum Beispiel drohte ein Dilemma. Kilian Wenger gewann die ersten sieben Gänge. Er hatte einen so grossen Vorsprung, dass er vom Schlussgang-Gegner Martin Grab nicht mehr eingeholt werden konnte. Wenger besiegte auch Grab, alles war eindeutig.
Was aber, wenn Grab den Schlussgang gewonnen hätte? Wer sollte jetzt als König ausgerufen werden? Wenger, der die meisten Punkte hatte und Festsieger war, aber den Schlussgang verloren hatte? Oder Grab, der den Schlussgang gewann, aber nur am zweitmeisten Punkte hatte und nicht Festsieger war? Man kann heute nicht sagen, wie die Jury entschieden hätte. Eventuell wäre der Königstitel nicht vergeben worden, und Wenger hätte den nicht gerade beliebten Titel des «Erstgekrönten» bekommen.
2016 in Estavayer fehlte wenig zu einem ähnlichen Problem. Der 16-minütige Schlussgang dauerte nur noch 153 Sekunden, als Matthias Glarner Armon Orlik mit einem Stich-Angriff platt auf den Rücken beförderte. Auch hier eine klare Sache: Glarner war König. Wenn jedoch auch die letzten zweieinhalb Minuten resultatlos verlaufen wären, so wäre der damals 18-jährige Samuel Giger an Glarner und Orlik vorbeigezogen. Der Thurgauer wäre alleiniger Festsieger gewesen. Aber kann ein Festsieger, der nicht im Schlussgang war, Schwingerkönig sein?
Es ist klar, dass man sich im ESV vor solchen Szenarien fürchtet. Die Crux ist in jedem Fall der gestellte Schlussgang. Allein durch die Gangdauer von heute 16 Minuten ist die Wahrscheinlichkeit einer Entscheidung hoch. Aber es ist nur eine Wahrscheinlichkeit, eine Garantie gibt es nicht. Der Eidgenössische Technische Leiter Stefan Strebel hat jüngst die strittigen Szenarien durchgespielt und herausgefunden, dass es elf (!) Möglichkeiten gibt, bei denen die Jury zuletzt entscheiden muss, ob sie den Titel vergeben will oder nicht.
Die Technischen Leiter der Teilverbände und der Zentralvorstand haben alle Varianten (König oder nicht König) erörtert und pro Variante vorentscheiden. Wenn immer möglich soll der Titel vergeben werden. Auch die breite Öffentlichkeit könnte kaum verstehen, warum nach diesem gigantischen Fest kein Schwingerkönig gekrönt wird.
Dennoch gibt es Fallbeispiele, bei denen die Ernennung eines Königs praktisch nicht möglich wäre. Oder sogar unfair. Das Folgende nämlich: Der Schlussgang endet gestellt. Drei vorher hinter den Schlussgangteilnehmern klassierte Schwinger gewinnen ihren letzten Gang. Alle drei sind punktgleich Erste. Aber welcher der drei sollte der König sein? Die Qualität der Notenblätter gibt vielleicht auch keinen Aufschluss. Welche Kriterien bleiben? Alter? Alphabet? Schuhnummer? Oder sollten alle drei zu Königen gekrönt werden? Drei Könige, von denen keiner im Schlussgang war? Eher nicht.
In einfacheren Fällen gibt es schon Präzedenz-Urteile: Endet ein Schlussgang gestellt, und einer der beiden ist alleiniger Festsieger, so wird er auch König. So geschah es 2001 in Nyon zwischen Arnold Forrer (König) und Jörg Abderhalden und 2004 in Luzern zwischen Jörg Abderhalden (König) und Thomas Sutter.
Holt der Schlussgangsieger seinen Gegner mit einem Sieg nach Punkten ein, so ist er König, der Verlierer ist Erstgekrönter. So geschah es 1989 in Stans zwischen Adrian Käser (König) und Eugen Hasler und 2019 in Zug zwischen Christian Stucki (König) und Joel Wicki.
Die Chancen, dass die Schweiz am Sonntagabend einen neuen (oder alten) König haben wird, stehen sehr gut. Denn in den letzten 70 Jahren gab es immer einen solchen. 1950 in Grenchen – die Dauer des Schlussgangs war noch unbegrenzt – brachen die Kampfrichter das Duell zwischen Walter Flach und Peter Vogt nach 35 Minuten ab, weil keiner von beiden noch irgendwelche Anstalten machte anzugreifen. Es gab keinen König. Vogt und der aufrückende Walter Haldemann wurden Erstgekrönte. (pre/sda)