Das Drehbuch ist längst geschrieben: Lara Gut gewinnt heute Mittag auf Corviglia Gold im Super-G und lanciert mit diesem Knalleffekt die Ski-WM in St.Moritz. Und weil im alpinen Ski-Latein ein guter Start die halbe Miete ist, steht unvergesslichen Titelkämpfen nichts im Weg.
Auch Tradition und Statistik, von der die Tessinerin zwar wenig hält, deuten auf einen erfolgreichen Start hin. Einmal Gold? Zweimal Gold? Oder noch mehr? Dass es auch gar nichts werden könnte, diese Variante ist im Drehbuch nicht vorgesehen.
Die Ausgangslage ist einfach. Endlich will die erst 25-Jährige, die doch schon eine lange Karriere hat, diese mit einem individuellen Titel krönen. Sie besitzt schon eine grosse Kristallkugel als beste Skirennfahrerin einer Saison, fünf Medaillen, vier an Weltmeisterschaften und eine an Olympischen Spielen, aber die verflixte Goldmedaille fehlt im Trophäen-Schrank.
Die Parallelen zu Maria Walliser, einer der Grossen im Schweizer Skisport der glorreichen 80er Jahre, sind verblüffend. Auch Walliser hatte schon (fast) alles gewonnen: wie Gut eine zweistellige Zahl von Weltcuprennen, Medaillen und ebenfalls eine grosse Kugel für den Gesamtweltcup. Nur ein Titel fehlte. Olympia-Gold hatte sie um fünf Hundertstelsekunden verpasst, Gut um zehn Hundertstel. Mit identischer Ausgangslage stieg Walliser 1987 in die Heim-WM in Crans-Montana, mit allem psychischen Druck, den so ein Event mit sich bringt.
Und was passierte? Walliser errang zweimal Speed-Gold und dazu eine Bronzemedaille im Riesenslalom – ein gutes Omen? Es wäre die logische Fortsetzung der frappanten Duplizität. Einen Ratschlag kann und will Maria, die letzte Schweizer Weltmeisterin in Abfahrt und Super-G, nicht geben: «Lara weiss genau, was zu tun ist. Ich selbst musste damals mit mir hart ins Gericht gehen und mir einbläuen: He, das ist nicht einfach ein Weltcuprennen. Eine Heim-WM ist etwas Besonderes. Ich steckte alle Energie hinein.»
Walliser relativiert die Vergleiche: «Das war eine andere Zeit, der erste Super-G in der WM-Geschichte überhaupt. Im Gegensatz zu jetzt bewegten wir uns mitten im Publikum. Wir gaben stundenlang Autogramme, bis uns die Finger fast abfroren, zum Teil noch vor den Rennen. Heute sind die Athletinnen viel besser abgeschirmt und können sich in Ruhe vorbereiten.»
Wobei in der Vorbereitung von Gut nach dem kapitalen Sturz in Cortina fast zu viel Ruhe einkehrte. «Ich sehe auch einen positiven Aspekt», findet Walliser: «Vier Siege in Serie wären vor dem WM-Super-G psychisch eine gewaltige Hypothek gewesen. Jetzt kann sie aus dem Vollen schöpfen. Es ist ihr Berg. Sie kennt fast jeden Zentimeter, sie hat die Radien drauf.»
Gut verwendet identische Worte: «Es ist mein Berg, mein Zuhause. Hier habe ich das Gefühl, noch mehr Energie zu besitzen als anderswo.» Heute startet sie auf Corviglia zum 37. Mal zu einem Rennen, so oft wie sonst nirgends. Da fiel sie als 15-Jährige erstmals auf, als sie in ihrem ersten FIS Riesenslalom mit der Nummer 128 den 39. Rang belegte. Und einen Monat später in ihrer ersten Europacup-Abfahrt mit der Nummer 66 Vierte wurde.
In der nächsten Europacup-Abfahrt stand sie bereits auf dem Podest, was ihr einen Startplatz in der Weltcup-Abfahrt eintrug. Bei der sie spektakulär kopfüber über die Ziellinie und aufs Podest stürzte. Im Dezember des gleichen Jahres wurde sie im Alter von 17 Jahren und 8 Monaten jüngste Super-G-Siegerin aller Zeiten
Gut blockt Fragen bezüglich ihrer Favoritenrolle mit ihrer Standard-Floskel ab: «Ich gehe an den Start und gebe mein Bestes.» Die Schweizer Mannschaft trainierte am Freitag auf der Lenzerheide. Am gleichen Tag feierte dort Walliser zufälligerweise mit Freunden das 30-Jahr-Jubiläum ihres WM-Doppelsieges. Ein positiver Wink vom Schicksal?
Gut war zwar nicht dabei: Am Sonntag war sie erstmals im Kraftraum, am Montag erstmals wieder auf Ski: «Ich bin froh, überhaupt fahren zu können. Ich hatte bei meinem Sturz in Cortina Schutzengel bei mir. Deshalb spüre ich keinen Druck. Auf der Piste kann ich wieder 100% geben.» Und fügt an, damit vor lauter positivem Denken die Realität nicht komplett ausgeblendet wird: «Ich kann noch nicht lange stehen, und sitzen ist auch nicht das Beste.» Aber Skifahren kann sie wieder. Darauf kommt es heute an.