Zwei Jahre ist sie her: die brutalste Niederlage, die es im europäischen Klub-Fussball je gegeben hat. In 180 Sekunden verliert Bayern München 1999 den Champions-League-Final gegen Manchester United. Teddy Sheringham und Ole Gunnar Solskjaer treffen in der Nachspielzeit und machen aus dem 0:1 noch ein 2:1.
Am 23. Mai 2001 ist sie endlich da: Die Chance, das Trauma ein für allemal vergessen zu machen. Die Bayern stehen wieder im Champions-League-Final. Im mit 74'500 Zuschauern restlos ausverkauften Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion trifft das Team von Ottmar Hitzfeld auf den FC Valencia. Wie Gewinnen geht, haben die Bayern nicht verlernt. Vier Tage vor dem Spiel in Mailand schnappen sie Schalke 04 in der dramatischsten Meisterentscheidung der Bundesliga durch ein Last-Minute-Tor in Hamburg den Titel vor der Nase weg.
Doch Valencia ist nicht der HSV. Die Spanier, die im Jahr zuvor im Champions-League-Final gegen Real Madrid sang- und klanglos untergegangen sind, haben eine grosse Mannschaft zusammen. Santiago Canizares steht im Tor, Gaizka Mendieta, Ruben Baraja, Kily Gonzalez, Pablo Aimar und Zlatko Zahovic bilden das gefürchtete Mittelfeld und vorne sorgt der norwegische 1,96-m-Hüne John Carew für Unruhe und Tore. Die Bayern mit Captain Stefan Effenberg, Mehmet Scholl und Giovane Elber gelten vor dem Finale höchstens als leichter Favorit.
Die Partie beginnt mit zwei Schocks für die Bayern. Nach drei Minuten geht Valencia durch einen umstrittenen Handelfmeter durch Mendieta in Führung. Hitzfelds Mannen haben zwar nur vier Minuten später die Chance zum Ausgleich, doch Scholl scheitert mit seinem Penalty an Canizares.
Fünf Minuten nach der Pause die Erlösung für die Bayern: Wieder gibt es Elfmeter. Diesmal läuft Effenberg an, der im Gegensatz zu Scholl sicher versenkt. Hitzfeld ballt an der Seitenlinie die Fäuste. Doch in der regulären Spielzeit und auch in der Verlängerung fällt kein Tor mehr. Paulo Sergio für die Bayern und Carew für Valencia verpassen kurz vor Schluss das «Golden Goal», das die Partie abrupt beendet hätte. So wird dieses Finale, das schon drei Penaltys gesehen hat, im Elfmeterschiessen entschieden.
Dort avanciert Oliver Kahn zum grossen Helden. Vom Mensch mutiert er zum Titanen. Nach je zwei Schützen und dem Fehlschuss von Paulo Sergio steht es 2:1 für Valencia, als Kahn der Reihe nach die Versuche von Zlatko Zahovic und Amedeo Carboni unschädlich macht. Später wird er sagen, dass kein einziger der gehaltenen Schüsse schlecht platziert gewesen sei. Doch weil auch Patrik Andersson patzt, geht das Elfmeterschiessen in die Verlängerung.
Als 14. Schütze schreitet Mauricio Pellegrino zum Punkt, er muss treffen. Kahn geht noch einmal in sich. «Ich habe mir beim letzten Elfmeter gesagt, geh' in die gleiche Ecke, in die du schon als kleiner Junge immer gegangen bist», erzählt er später.
Der Argentinier nimmt Anlauf und schiesst in die aus seiner Sicht linke untere Ecke. Doch Kahn ist da und wehrt um genau 23.32 Uhr seinen dritten Penalty an diesem Abend ab. «Kahn! Die Bayern! Die Bayern!», schreit Premiere-Kommentator Marcel Reif in sein Mikrofon. 25 Jahre hatten die Bayern auf die bedeutendste Trophäe im Klub-Fussball warten müssen.
Kahns Jubellauf wird zur Explosion, nichts und niemand scheint den Elfmeter-Killer mehr aufhalten zu können. Schliesslich wird er doch unter einer Jubeltraube begraben. «Ich weiss selbst nicht, wie ich das gemacht habe», sagt der Held des Abends, als sich alles etwas beruhigt hat. «Das war wie im Rausch, ich war in einem Trance-Zustand und habe die Zuschauer um mich herum gar nicht wahrgenommen.»
Bayerns Vize-Präsident Karl-Heinz Rummenigge weiss nach der Partie, bei wem er sich bedanken muss: «Ich war zweimal der Ohnmacht nahe, und dann hat uns Olli Kahn mit seinen Paraden den Titel gesichert. Er ist der beste Torwart der Welt.» Trainer Ottmar Hitzfeld sagt gewohnt trocken: «Oliver hat eine sensationelle Saison gespielt. Gerade er hat es verdient, als Held des Abends gefeiert zu werden.»
Dieses Attribut verdient sich der Torhüter-Titan auch dank einer ganz besonderen Geste. Liebevoll tröstet er nach Spielschluss den am Boden zerstörten Valencia-Keeper Santiago Canizares. In der Stunde des Sieges an den Verlierer zu denken, das zeichnet einen grossen Sportsmann aus.
«Ich konnte mich in diesem Moment sehr gut in ihn hineinversetzen, weil ich zwei Jahre zuvor das Champions-League-Finale verloren hatte. Ich wusste, was in so einem Moment in ihm vorgeht», erinnert sich Kahn, der dafür von der UEFA den Fairplay-Award bekommt, später.
Die Bayern feiern den Titel ausgelassen. Erst in Mailand, dann in München, und nur einen Tag nach dem Finale in New York. Beim Testspiel gegen die NY Metrostars, das wenig überraschend 0:2 verloren geht, singen die mitgereisten Fans: «Unsere Spieler sind besoffen.»
Ein paar unersättliche Bayern-Spieler fliegen dann noch weiter nach Las Vegas, wo der Feiermarathon natürlich fortgesetzt wird. 14 Tage nach dem Triumph von Mailand und etliche Liter Alkohol später kommen auch sie wieder in München an. Der verbissene Sportsmann Oliver Kahn ist da aber natürlich schon längst zuhause.
Ihn als junger Bursche mit Affinität zum Fussball mit erleben zu dürfen war grandios.
Mein Sohn wird wohl kaum mehr einen solchen Typen miterleben können.
Hoffentlich binden die Bayern ihn bald im Verein ein.