Brasilien ist vor dem WM-Final 1998 in Paris gegen Gastgeber Frankreich der haushohe Favorit. Roberto Carlos, Dunga, Rivaldo, Bebeto und vor allem der erst 21-jährige Ronaldo sollen der Seleção «La Penta», den fünften WM-Titel, und die Titelverteidigung bescheren.
Ronaldo ist bislang die grosse Entdeckung dieser WM. 1994 in den USA ist er zwar schon dabei, kommt aber nicht zum Einsatz. Jetzt schlägt seine Stunde: Vier Tore hat der Stürmer von Inter Mailand auf dem Weg in den Final erzielt und mit seinen Tempo-Dribblings nicht nur die brasilianischen Fans verzückt.
Doch als rund eine Stunde vor dem Final die Aufstellungen auf der Pressetribüne des Stade de France verteilt werden, der grosse Schock: Ronaldo spielt nicht. «N.a.», «not available» steht hinter seinem Namen. Für ihn soll Edmundo neben Bebeto stürmen.
Um 20 Uhr ist Brasiliens Wunderwaffe noch nicht einmal im Stadion. Der brasilianische Teamarzt Dr. Lidio Toledo lässt ausrichten, Ronaldo könne aufgrund einer Verletzung am linken Sprunggelenk nicht spielen. Doch eine Viertelstunde später verteilen die Volunteers plötzlich neue Listen. Diesmal steht die Nummer 9, Ronaldo, in der Startelf. Die 21, Edmundo, ist wieder gestrichen.
Ronaldo spielt tatsächlich, doch er ist nur ein Schatten seiner selbst. Nichts will ihm gelingen, wie ein Geist irrt er über das Spielfeld und scheint die in den Spielen zuvor so unbeschwerten, dynamischen Teamkollegen mit seiner Lethargie anzustecken. 0:3 geht Brasilien gegen die von Zinédine Zidane angeführten Franzosen unter. Ein Land steht unter Schock.
Nicht nur Brasilien, die ganze Welt rätselt nach dem Schlusspfiff über den laschen Auftritt von Ronaldo. Warum hatte «O Fenomeno» gespielt, obwohl er offensichtlich nicht im Vollbesitz seiner Kräfte war? Hatte Sponsor Nike ihn gezwungen? Der Ausrüster, der so aggressiv mit der Seleção geworben hat, die Mannschaft mit einem mörderischen Programm von Freundschaftsspielen rund um den Globus gejagt und eine Abmachung, dass Ronaldo immer 90 Minuten spielen müsse, erzwungen hatte?
Oder hatte die Wettmafia etwa die Hände im Spiel? Wurde das Spiel verschoben? Streikte der Magen? Hatte Ronaldo einen epileptischen Anfall? War es eine allergische Reaktion auf das Schmerzmittel Xilocaine, mit welchem seine Schmerzen im Knie unaufhörlich gedämpft wurden? Oder war es eine psychosomatische Reaktion auf all den Rummel um ihn?
Noch heute ist das Rätsel nicht vollends gelöst. Selbst ein vom brasilianischen Parlament eingesetzter Untersuchungsausschuss bringt keine Klarheit in die rätselhafte Affäre. Fakt ist, dass Ronaldo am Nachmittag des Finaltages im Teamhotel den Formel-1-GP von Silverstone im TV schaut.
Plötzlich erleidet der Stürmer einen Anfall und schlägt wild um sich. Ronaldo hat Schaum vor dem Mund, die Mitspieler müssen ihn festhalten. «Es war schockierend, denn er ist so gross und stark und machte es mit aller Kraft», sagt Edmundo später.
Zimmerkollege Roberto Carlos läuft auf den Flur und ruft laut: «Ronaldo stirbt.» Als die Ärzte auf sich warten lassen, rettet ihm Teamkollege César Sampaio das Leben, indem er die Zunge, die Ronaldo verschluckt hat, aus dem Mund zieht.
Dann kommen endlich die Ärzte und als Ronaldo eingeschlafen ist, raten sie dem Team, ihm nichts von dem Vorfall zu erzählen. Das tun sie. «Ich kann mich an nichts erinnern. Ich war drei, vier Minuten bewusstlos», sagt Ronaldo, als er später zum Vorfall befragt wird.
Die Teamkollegen stehen unter Schock. «Als wir um 17.30 Uhr gegessen haben, kam Ronaldo als Letzter, sass aber nur mit hängendem Kopf da, schwieg und ass nichts», erinnert sich Edmundo. Die Mannschaft fährt ohne ihn und ohne die sonst übliche Samba-Musik ins Stadion. Ronaldo wird in die Klinik Lilas geschickt.
Bei den Tests im Spital wird nichts diagnostiziert, der Verdacht auf einen epileptischen Anfall bestätigt sich nicht. Der 21-Jährige muss eine Erklärung unterschreiben, auf eigene Verantwortung entlassen zu werden. Einen Kontakt zur Mannschaft oder den Teamärzten, die mit dem Bus ins Stadion gefahren sind, gibt es nicht.
Eine Stunde vor Spielbeginn kommt Ronaldo im Stade de France an. In der Kabine erklärt er sich für fit. Ronaldo zieht sich das Trikot an und bittet Mannschaftsarzt Dr. Lidio Toledo, spielen zu dürfen. Die Ärzte in der Klinik hätten nichts gefunden. «Wirklich?», fragt Toledo und Ronaldo antwortet vor versammelter Mannschaft: «Ja, ich habe keine Probleme. Ich möchte spielen und ich werde spielen!» Trainer Mario Zagallo entscheidet sich, Ronaldo aufzustellen. Ohne sich aufzuwärmen, betritt dieser den Platz, mit den bekannten Folgen.
Ronaldo bestreitet später, von Nike zum Spielen gezwungen worden zu sein: «Mein Verhältnis zu ihnen war immer sehr gut, sie haben von mir nur verlangt, ihre Schuhe zu tragen und ein paar Tore zu schiessen.» Zur Auflösung des Mysteriums schweigt er, wann immer möglich. Der spanischen Tageszeitung «El País» sagte er vor einigen Jahren: «Ich kann es nicht erklären. Ich weiss nur, dass ich mich sehr krank fühlte, dass wir ins Krankenhaus fuhren und alle nur möglichen Tests machten. Medizinisch war nichts, rein gar nichts.»
2012 erreicht uns eine neue Verschwörungstheorie aus einem Gefängnis in Simbabwe. Dort sitzt ein Wettpate aus Singapur und dieser erzählt, er habe Ronaldo damals bestochen, schlecht zu spielen, um Frankreich zum Titel zu verhelfen. Das vorherige Theater soll nur als Alibi für die schlechte Leistung gedient haben. Na ja, tönt mehr als zweifelhaft.
In einer BBC-Doku mit Gary Lineker kurz vor der WM 2014 in Brasilien gibt sich Ronaldo noch immer zugeknöpft: «Es war nicht das beste Spiel meines Lebens, aber es war okay. Ich rannte und versuchte, alles zu geben. Frankreich spielte sehr gut und war ein harter Gegner.»
In Brasilien will man den Vorfall ruhen lassen. Erst recht, seit Ronaldo die Seleção 2002 mit acht Toren – zwei im Final gegen «Titan» Oliver Kahn – zum fünften WM-Titel geschossen hat. Neben den zwei grössten Fussball-Katastrophen des Landes – «Maracanaço», der verpasste Titel 1950 im eigenen Land, und «Mineiraço», das 1:7 gegen Deutschland an der Heim-WM 2014 – und dem Tod von Ayrton Senna gehört der mysteriös verpatzte Final 1998 in Paris definitiv zu jenen Sport-Ereignissen, mit welchen sich die brasilianische Volksseele lieber nicht mehr allzu intensiv beschäftigen will.