«Gnothi seauton!» – «Erkenne dich selbst!» Das empfahl der Gott Apollon den Leuten, welche seinen Rat suchten. Die Inschrift stand an seinem Tempel in Delphi, dem Ort, der seit der Antike für sein Orakel bekannt ist. Was der Spruch für die Praxis bedeutet, war allerdings auch schon seit jeher orakelbedürftig. Denn keine Erkenntnis ist so wenig theoretisch wie die über einen selbst. Sich selbst zu erkennen, heisst unmittelbar die Folgen daraus zu ziehen: Praktiziere ein bestimmtes Verhalten. Du bist, was du tust.
Sich selbst erkennen kann auch heissen: Erkenne, wohin du gehörst. Das Individuum weiss erst, was es selbst ist, wenn es sich verortet. Oder wenn es bekennt, zu welchem Stamm es gehört. Wobei man «Stamm» hier nicht genealogisch, wo man hineingeboren wird, verstehen darf. Sondern als Gruppe mit geteilten Überzeugungen über die Welt und über richtig und gut. Man ist, wie man tickt.
Stämme definieren sich über das Kollektiv-Bewusstsein. Der Begriff stammt vom französischen Soziologen Emile Durkheim (1858–1917). Er sah die Arbeitsteilung der modernen Gesellschaft und wunderte sich, dass es trotzdem ein starkes Gemeinsames gab. Obwohl die Menschen im Handeln verschiedener oder autonomer waren als je, schienen sie gleichzeitig stärker von der Gesellschaft abzuhängen. Das «Wir» war keinesfalls verschwunden, obwohl die Menschen nicht mehr miteinander auf den Feldern arbeiteten.
Wir stellen uns vor, wir urteilten autonom und fühlten jeder für sich. Gefühle seien individuell und nicht mitteilbar. Diese Empfindung entspricht nicht der Realität. Wir urteilen und fühlen nach einem gemeinsamen, unsichtbar-vorbewussten Band. Wie stark es ist, hat man erst im Internet-Zeitalter richtig erkannt. Oder umgekehrt: Das Internet hat die Verbreitung dieses gemeinsamen Kollektiv-Bewusstseins enorm gesteigert. Das Internet liefert auch die Daten, die ermöglichen, es zu messen und zu beschreiben.
Jetzt kann der Soziologe mit statistischen Methoden untersuchen, welche Einstellungen und Äusserungen mit welchen korrelieren. Es wird deutlich, mit welchen Gefühlen wir kollektiv auf Ereignisse reagieren. Peter Gloor brachte eindrückliche Beispiele. Der Tod von Prinzessin Diana löst Trauer aus, die Bombenattentate beim Marathon von Boston und die anschliessende Jagd nach den Tätern machten den Leuten Angst. Ob die Leute mit Freude oder Wut reagierten, als der US-Kongress Präsident Trump beim Mauerbau auflaufen liess, lieferte eine genaue Trennlinie zwischen Trump-Fans und Gegnern.
Die Algorithmen entlarven uns. Wir glauben an unsere Autonomie, dabei gehören wir zu einem «virtual tribe», zu einem Stamm. Wir neigen dazu, die Realität ähnlich wahrzunehmen. Und das Gemeinschaftsgefühl oder der Wunsch nach Gemeinschaft verleiten uns gar dazu, die Realität so wahrzunehmen, wie es unsere Nachbarn tun. Wir halten eher für wahr, was uns zusammenbringt, als was ein Realitycheck ergeben würde.
Wir tanzen lieber in der Reihe, als ausserhalb zu stehen. Für Peter Gloor entspricht das zwei Grundsätzen der Quantenphysik. Elementarteilchen verhalten sich manchmal seltsam. Man nennt es «Verschränkung» (entanglement), zwei Teilchen verhalten sich gleich, auch wenn sie räumlich weit voneinander entfernt sind. Auch wir neigen zur Verschränkung. Und der andere Grundsatz ist Heisenbergs Unschärferelation: Man kann nicht messen, ohne das System zu beeinflussen. Wenn uns die Daten sagen, wer wir sind, haben wir die Chance zum «reboot»: zur Änderung unseres Verhaltens.