Kassandra ist in der griechischen Mythologie die Tochter des Königs Priamos. Sie war ausserordentlich hübsch und weckte deshalb die Begierde des Gottes Apollon. Um sie zu verführen, schenkte dieser ihr die Gabe der Weissagung. Vergebens. Kassandra wies ihn ab. Daher verfluchte sie der Gott und prophezeite ihr, dass ihre Prophezeiungen, obwohl zutreffend, niemals gehört werden sollten.
Die Rolle der Kassandra fällt derzeit Emmanuel Macron zu. Der französische Präsident hat zwar keinen griechischen Gott frustriert – auch keinen germanischen –, doch er legt sich permanent mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz an. Grund dafür sind Macrons explosive Äusserungen, notfalls auch Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden, und seine Forderung nach Eurobonds, um die Aufrüstung gegen Putin zu finanzieren.
Dabei war Macron bis zum Ausbruch des Krieges noch die Taube im europäischen Umzug. Er war es, der bis zuletzt versucht hatte, Putin von einem Einmarsch in die Ukraine abzuhalten, und er liess sich gar vom russischen Präsidenten an einem überlangen Tisch im Kreml demütigen. Inzwischen hat er seine Haltung jedoch radikal geändert. In einem Interview mit dem «Economist» erklärt er, weshalb.
Der Überfall auf die Ukraine habe Russland grundsätzlich verändert, so Macron. Das Völkerrecht werde missachtet, nukleare Drohungen ausgestossen und die Kriegswirtschaft hochgefahren. Russland «umarme die Aggression in allen bekannten Varianten», so der französische Präsident.
Zugleich sei offensichtlich, dass Putin imperialistische Ambitionen hege. Moldawien, die baltischen Staaten, Polen und Rumänien seien die nächsten Opfer auf seiner Liste. «Sollte er gewinnen, läge die Sicherheit Europas in Trümmern», so Macron.
Der Vorwurf, Macron lasse seinen Worten keine Taten folgen, trifft nicht mehr zu. Während Scholz sich nach wie vor weigert, Marschflugkörper vom Typ Taurus zur Verfügung zu stellen, liefert Frankreich mittlerweile ähnliche Waffen in die Ukraine. Zudem haben die Franzosen soeben ein Abkommen unterschrieben, in dem sie sich verpflichten, in den nächsten zehn Jahren Waffen im Wert von über drei Milliarden Dollar zu liefern.
Vehement plädiert Macron auch dafür, dass sich Europa militärisch von den USA emanzipiert. Er warnt, dass die Amerikaner sich nicht bis in alle Ewigkeit als Schutzmacht hinter die Europäer stellen werden. Nicht zu Unrecht, wie die jüngsten Äusserungen von Donald Trump zur NATO zeigen. Die «Financial Times» meldet zudem, dass europäische Geheimdienste vor sich häufenden russischen Sabotageakten warnen. «Wir müssen uns darauf vorbereiten, uns selbst schützen zu können», betont daher Macron.
Der französische Präsident schlägt vor, nebst der NATO eine eigene europäische Streitmacht aufzubauen. Finanziert werden soll diese, wie die Massnahmen gegen die Corona-Krise, mit gemeinsamen Eurobonds. Trotz Brexit soll auch das Vereinigte Königreich in diese Bemühungen eingebunden werden. Frankreich werde, verspricht Macron, seine Atomwaffen als Schutzschild allen zur Verfügung stellen.
Derzeit weilt Xi Jinping zu Besuch in Europa. Macron empfängt ihn heute in Paris. Die Gespräche zwischen dem chinesischen und dem französischen Präsidenten werden einer gewissen Brisanz nicht entbehren. Der Ukraine-Krieg hat auch das Verhältnis zwischen Europa und China verändert.
Auch diesbezüglich hat Macron eine Kehrtwende vollzogen. Lange galt der französische Präsident als derjenige, der ein offenes Ohr für die Anliegen der Chinesen hat. Europa solle sich aus der Taiwan-Frage heraushalten, sagte er noch vor kurzem, und solle sich auch diesbezüglich vom Rockzipfel der Amerikaner lösen.
Nun aber schlägt Macron ganz andere Töne an. Er versucht, eine gemeinsame Front der EU gegen China auf die Beine zu stellen und so die Bemühungen Pekings, Russland in seinem Krieg gegen die Ukraine zu helfen, zu untergraben. Deshalb hat er auch Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin, eingeladen, ihn bei seinem Treffen mit Xi zu begleiten.
Die Einladung ging auch an Olaf Scholz. Der Kanzler hat dankend abgelehnt, denn das Verhältnis von Deutschland zu China ist deutlich komplexer als das französische. Für den Exportweltmeister ist der chinesische Markt, insbesondere der Automarkt, nach wie vor von zentraler Bedeutung. Von Strafzöllen gegen den sich anbahnenden Import von billigen chinesischen Elektroautos will Scholz daher nichts wissen.
Macron hingegen hat diesbezüglich weit weniger Beisshemmungen. Er will die aktuelle Schwäche der chinesischen Wirtschaft ausnutzen. Der China-Experte Noah Barkin erklärt gegenüber der «Financial Times»: «Die Chinesen sind derzeit auf europäische Investitionen und europäische Technologie angewiesen. Doch diesen Vorteil kann man nur in die Waagschale werfen, wenn alle am gleichen Strick ziehen.»
Von den USA will sich Macron nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich lösen. Um zu verhindern, dass Europa – was die technische Entwicklung betrifft – von den beiden Supermächten abgehängt wird, müsse auch der alte Kontinent grosse gemeinsame Anstrengungen unternehmen. Schliesslich hätten weder die Chinesen noch die Amerikaner Skrupel, ihrer Wirtschaft mit grosszügigen Subventionen unter die Arme zu greifen.
Die dritte Gefahr für Europa sieht Macron im aufkommenden Populismus. Die Umfragen sagen Rassemblement National und der AfD grosse Gewinne bei den bevorstehenden Wahlen ins Europa-Parlament voraus. Marine Le Pen werden gar gute Chancen eingeräumt, Macron 2027 als Präsidentin abzulösen.
Macron vergleicht daher die Lage mit der Situation im Jahr 1940. Damals haben sich die Franzosen mehr oder weniger kampflos den deutschen Truppen ergeben. «Was mich umbringt, ist der Geist der Niederlage, in Frankreich und in Europa», so Macron. «Das bedeutet zweierlei: Man gewöhnt sich an die Niederlage und hört auf, zu kämpfen. Und man konzentriert sich nur noch auf Meinungsumfragen. Doch Politik ist etwas anderes. Es geht letztlich um Ideen und Überzeugungen.»
Dem französischen Präsidenten eilt der Ruf eines Schwätzers voraus. Diesmal zu Unrecht. Oder wie es der «Economist» formuliert: «Macron erkennt die Gefahren, vor denen Europa steht, klarer als die übrigen Staatsoberhäupter der grossen Länder. In einer Zeit, in der es viel zu wenig Führung gibt, hat er den Mut, der Geschichte ins Auge zu blicken. Europas Tragödie könnte darin bestehen, dass die Worte von Frankreichs Kassandra ebenfalls auf taube Ohren stossen werden.»
Zudem ob man Macron mag oder nicht, er hat Charakter und ist sehr sehr Intelligent und kann die derzeitige Situation beurteilen und einschätzen sowie, analysieren und einordnen! Was ich seinem Kollegen in Berlin nicht zu traue!
Die Verhandlungen bezüglich der Hilfkredite für die Ukraine wird in den USA spätestens zum Jahresende wieder aufkeimen.