International
Analyse

Emmanuel Macron erkennt, wie Russland ganz Europa bedroht – und handelt

Teaserbild Putin, Macron
Macron plädiert dafür, dass sich Europa militärisch von den USA emanzipiert.Bild: Keystone / watson
Analyse

Wie Emmanuel Macron zu Europas Kassandra wurde

Der französische Präsident warnt vor Russland und dem Niedergang der europäischen Wirtschaft.
06.05.2024, 14:3707.05.2024, 12:04
Mehr «International»

Kassandra ist in der griechischen Mythologie die Tochter des Königs Priamos. Sie war ausserordentlich hübsch und weckte deshalb die Begierde des Gottes Apollon. Um sie zu verführen, schenkte dieser ihr die Gabe der Weissagung. Vergebens. Kassandra wies ihn ab. Daher verfluchte sie der Gott und prophezeite ihr, dass ihre Prophezeiungen, obwohl zutreffend, niemals gehört werden sollten.

Die Rolle der Kassandra fällt derzeit Emmanuel Macron zu. Der französische Präsident hat zwar keinen griechischen Gott frustriert – auch keinen germanischen –, doch er legt sich permanent mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz an. Grund dafür sind Macrons explosive Äusserungen, notfalls auch Bodentruppen in die Ukraine zu entsenden, und seine Forderung nach Eurobonds, um die Aufrüstung gegen Putin zu finanzieren.

Dabei war Macron bis zum Ausbruch des Krieges noch die Taube im europäischen Umzug. Er war es, der bis zuletzt versucht hatte, Putin von einem Einmarsch in die Ukraine abzuhalten, und er liess sich gar vom russischen Präsidenten an einem überlangen Tisch im Kreml demütigen. Inzwischen hat er seine Haltung jedoch radikal geändert. In einem Interview mit dem «Economist» erklärt er, weshalb.

Russland

Der Überfall auf die Ukraine habe Russland grundsätzlich verändert, so Macron. Das Völkerrecht werde missachtet, nukleare Drohungen ausgestossen und die Kriegswirtschaft hochgefahren. Russland «umarme die Aggression in allen bekannten Varianten», so der französische Präsident.

Zugleich sei offensichtlich, dass Putin imperialistische Ambitionen hege. Moldawien, die baltischen Staaten, Polen und Rumänien seien die nächsten Opfer auf seiner Liste. «Sollte er gewinnen, läge die Sicherheit Europas in Trümmern», so Macron.

Russia Putin Macron 8107381 07.02.2022 Russian President Vladimir Putin and French President Emmanuel Macron meet for talks, at Moscow s Kremlin, in Moscow, Russia. Russian Presidential Press Office M ...
Absurd: Wladimir Putin und Emmanuel Macron am riesigen Tisch im Kreml.Bild: imago

Der Vorwurf, Macron lasse seinen Worten keine Taten folgen, trifft nicht mehr zu. Während Scholz sich nach wie vor weigert, Marschflugkörper vom Typ Taurus zur Verfügung zu stellen, liefert Frankreich mittlerweile ähnliche Waffen in die Ukraine. Zudem haben die Franzosen soeben ein Abkommen unterschrieben, in dem sie sich verpflichten, in den nächsten zehn Jahren Waffen im Wert von über drei Milliarden Dollar zu liefern.

Vehement plädiert Macron auch dafür, dass sich Europa militärisch von den USA emanzipiert. Er warnt, dass die Amerikaner sich nicht bis in alle Ewigkeit als Schutzmacht hinter die Europäer stellen werden. Nicht zu Unrecht, wie die jüngsten Äusserungen von Donald Trump zur NATO zeigen. Die «Financial Times» meldet zudem, dass europäische Geheimdienste vor sich häufenden russischen Sabotageakten warnen. «Wir müssen uns darauf vorbereiten, uns selbst schützen zu können», betont daher Macron.

Der französische Präsident schlägt vor, nebst der NATO eine eigene europäische Streitmacht aufzubauen. Finanziert werden soll diese, wie die Massnahmen gegen die Corona-Krise, mit gemeinsamen Eurobonds. Trotz Brexit soll auch das Vereinigte Königreich in diese Bemühungen eingebunden werden. Frankreich werde, verspricht Macron, seine Atomwaffen als Schutzschild allen zur Verfügung stellen.

China

Derzeit weilt Xi Jinping zu Besuch in Europa. Macron empfängt ihn heute in Paris. Die Gespräche zwischen dem chinesischen und dem französischen Präsidenten werden einer gewissen Brisanz nicht entbehren. Der Ukraine-Krieg hat auch das Verhältnis zwischen Europa und China verändert.

Auch diesbezüglich hat Macron eine Kehrtwende vollzogen. Lange galt der französische Präsident als derjenige, der ein offenes Ohr für die Anliegen der Chinesen hat. Europa solle sich aus der Taiwan-Frage heraushalten, sagte er noch vor kurzem, und solle sich auch diesbezüglich vom Rockzipfel der Amerikaner lösen.

Nun aber schlägt Macron ganz andere Töne an. Er versucht, eine gemeinsame Front der EU gegen China auf die Beine zu stellen und so die Bemühungen Pekings, Russland in seinem Krieg gegen die Ukraine zu helfen, zu untergraben. Deshalb hat er auch Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionspräsidentin, eingeladen, ihn bei seinem Treffen mit Xi zu begleiten.

Die Einladung ging auch an Olaf Scholz. Der Kanzler hat dankend abgelehnt, denn das Verhältnis von Deutschland zu China ist deutlich komplexer als das französische. Für den Exportweltmeister ist der chinesische Markt, insbesondere der Automarkt, nach wie vor von zentraler Bedeutung. Von Strafzöllen gegen den sich anbahnenden Import von billigen chinesischen Elektroautos will Scholz daher nichts wissen.

Macron hingegen hat diesbezüglich weit weniger Beisshemmungen. Er will die aktuelle Schwäche der chinesischen Wirtschaft ausnutzen. Der China-Experte Noah Barkin erklärt gegenüber der «Financial Times»: «Die Chinesen sind derzeit auf europäische Investitionen und europäische Technologie angewiesen. Doch diesen Vorteil kann man nur in die Waagschale werfen, wenn alle am gleichen Strick ziehen.»

Von den USA will sich Macron nicht nur militärisch, sondern auch wirtschaftlich lösen. Um zu verhindern, dass Europa – was die technische Entwicklung betrifft – von den beiden Supermächten abgehängt wird, müsse auch der alte Kontinent grosse gemeinsame Anstrengungen unternehmen. Schliesslich hätten weder die Chinesen noch die Amerikaner Skrupel, ihrer Wirtschaft mit grosszügigen Subventionen unter die Arme zu greifen.

Populismus

Die dritte Gefahr für Europa sieht Macron im aufkommenden Populismus. Die Umfragen sagen Rassemblement National und der AfD grosse Gewinne bei den bevorstehenden Wahlen ins Europa-Parlament voraus. Marine Le Pen werden gar gute Chancen eingeräumt, Macron 2027 als Präsidentin abzulösen.

Macron vergleicht daher die Lage mit der Situation im Jahr 1940. Damals haben sich die Franzosen mehr oder weniger kampflos den deutschen Truppen ergeben. «Was mich umbringt, ist der Geist der Niederlage, in Frankreich und in Europa», so Macron. «Das bedeutet zweierlei: Man gewöhnt sich an die Niederlage und hört auf, zu kämpfen. Und man konzentriert sich nur noch auf Meinungsumfragen. Doch Politik ist etwas anderes. Es geht letztlich um Ideen und Überzeugungen.»

Dem französischen Präsidenten eilt der Ruf eines Schwätzers voraus. Diesmal zu Unrecht. Oder wie es der «Economist» formuliert: «Macron erkennt die Gefahren, vor denen Europa steht, klarer als die übrigen Staatsoberhäupter der grossen Länder. In einer Zeit, in der es viel zu wenig Führung gibt, hat er den Mut, der Geschichte ins Auge zu blicken. Europas Tragödie könnte darin bestehen, dass die Worte von Frankreichs Kassandra ebenfalls auf taube Ohren stossen werden.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
8 Arten, Frankreich aufzuteilen
1 / 10
8 Arten, Frankreich aufzuteilen
quelle: twitter / twitter
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Genderkampf in Frankreich: Macron will das Gendern verbieten
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
87 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Fairness
06.05.2024 15:01registriert Dezember 2018
Macron dürfte Recht haben. Leider. Scholz‘ Führung lässt tatsächlich zu Wünschen übrig. Aussizen geht nicht, wenn nur Stärke zeigen funktioniert.
16814
Melden
Zum Kommentar
avatar
Rannen
06.05.2024 15:09registriert Januar 2018
Irgend jemand muss ja den Lead übernehmen um so mehr Frankreich das einzige Land ist das eine Armee hat wo diesen Namen verdient!
Zudem ob man Macron mag oder nicht, er hat Charakter und ist sehr sehr Intelligent und kann die derzeitige Situation beurteilen und einschätzen sowie, analysieren und einordnen! Was ich seinem Kollegen in Berlin nicht zu traue!
13411
Melden
Zum Kommentar
avatar
Der Micha
06.05.2024 15:03registriert Februar 2021
Es wird wirklich Zeit, dass Europa unabhängiger wird. Spätestens seit dem Einmarsch der Russen in die Ukraine wurde offen gelegt, wie abhängig Europa von der USA ist und seit Trump wissen wir auch, dass man sich auf die USA nicht verlassen kann.

Die Verhandlungen bezüglich der Hilfkredite für die Ukraine wird in den USA spätestens zum Jahresende wieder aufkeimen.
10310
Melden
Zum Kommentar
87
Maghreb-Asylsuchende haben zumeist keine Papiere – das sind die Sonntagsnews
Russische Spionage in der Schweiz, verfassungswidrige Reservekraftwerke und zunehmende Fälle von Zwangsheirat aus dem Asylbereich: Das und mehr findet sich in den Sonntagszeitungen.

Der Bundesrat will trotz Widerstand von Aussenminister Ignazio Cassis härter gegen russische Spione vorgehen. Er befürwortet eine Motion, über die sich der Ständerat am Montag beugt, wie die «SonntagsZeitung» schrieb. Cassis habe sich bei einer Sitzung der Aussenpolitischen Kommission im Herbst für Zurückhaltung bei der Ausweisung von als Diplomaten akkreditierten Spionen ausgesprochen. Nach seinem Votum habe sich ungefragt ein Vertreter des Nachrichtendiensts des Bundes (NDB) zu Wort gemeldet. Die Schweiz beherberge die meisten russischen Agenten in Europa, und das sei eine Gefahr, sagte er gemäss der Zeitung sinngemäss. In der Schweiz arbeiten 217 russische Diplomatinnen und Diplomaten. Gemäss NDB sind mindestens ein Drittel von ihnen nachrichtendienstlich tätig.

Zur Story