Die lange – und etwas zu vereinfacht als Mittelalter bezeichnete – Periode zwischen der Antike und der Neuzeit liefert ein breites Spektrum an sexuellen Vorstellungen, Normierungen und Praktiken. Auch wenn viele verschiedene Einflüsse die Geschichte der mittelalterlichen Sexualität prägen, kann sie nicht ohne die Religion erzählt werden – in diesem Fall die christliche.
Es beginnt beim christlichen Anfang der Menschheit: bei Adam und Eva. Die Erzählung des Sündenfalls stellt die Weichen für das, was noch folgen soll: Die Frau wird zur «Verführerin» und der Mann wird zum «Verführten». Schwerwiegend wirkt die Auslegung der Eva auf das Frauenbild, indem sie als «schwaches» und gleichzeitig «verführendes» Geschlecht dargestellt wird.
Adam wiederum wendet sich – stellvertretend für die Männer – von seiner «ratio» (Vernunft) ab und lässt sich verführen. Eine Interpretation, die ebenfalls lange nachwirken soll: Frauen würden Männer zur Irrationalität verführen und Männer seien töricht genug, dies geschehen zu lassen.
Dieses Motiv verhandelt auch die mittelalterliche Legende von Aristoteles und Phyllis: Aristoteles, Lehrer Alexanders des Grossen, warnt diesen vor der Ablenkung durch die schöne Phyllis. Verärgert über die Warnung beschliesst Phyllis, Aristoteles zu demütigen. Sie verführt den Philosophen, der ihr verfällt und sich von ihr reiten lässt. Alexander beobachtet dies und erkennt die Schwäche des grossen Denkers gegenüber der «weiblichen List». Die Geschichte endet mit einer Doppelmoral: Einerseits wird Aristoteles' Warnung vor der ablenkenden Kraft der Liebe bestätigt, andererseits zeigt sich die aussergewöhnliche Intelligenz und Handlungsfähigkeit von Phyllis.
Diese Erzählung zeigt, dass Frauen im Mittelalter nicht nur als passive Objekte der Begierde verstanden wurden, sondern auch als aktive Akteurinnen, die ihre Umgebung beeinflussen können. Aristoteles hingegen, der als Inbegriff der Weisheit und Rationalität gilt, zeigt sich anfällig für die Verführung durch Phyllis. Seine Figur soll verdeutlichen, dass selbst die klügsten Männer von ihren Leidenschaften überwältigt werden und «Torheiten» begehen können.
Neben der Prägung von Geschlechterrollen hat das christliche Dogma auch noch andere Effekte: Es idealisiert die Tugend der «castitas», der Keuschheit, und verurteilt das Laster der «luxuria», der Wollust. Das Keuschheitsideal wird von den Nonnen und Mönchen vorgelebt, oder auch in den Heiligengeschichten angepriesen – und dies auffällig oft bei weiblichen Heiligen.
Der weibliche Körper wird somit einer Gegensätzlichkeit unterworfen: Einerseits wird er negativ mit der Verführung gleichgesetzt, andererseits wird er positiv mit der Enthaltsamkeit verbunden – je nachdem, wie das Verhalten bewertet wird: sündhaft oder tugendhaft.
Die Idealisierung der Keuschheit birgt jedoch ein existentielles Dilemma: Der erwünschte Fortbestand und Ausbau der christlichen Gemeinschaft war gezwungenermassen an den biologischen Aspekt der Fortpflanzung geknüpft. Eine Lösung fand sich sogleich nach dem Motto: wenn man es nicht gänzlich unterbinden kann, dann hilft nur noch die Regulation.
Mit dem Machtausbau der Kirche, der im Hochmittelalter richtig Fahrt aufnimmt, stösst man auch auf immer genauer definierte Regeln bezüglich des Geschlechtsaktes. Erlaubt war der Akt zuallererst einmal nur innerhalb der Ehe, welche im 12. Jahrhundert zum Sakrament erhoben wurde und von Priestern geschlossen werden musste. Dies bedeutet: Alle Vermählungen bedürfen von da an das Einverständnis der Kirche.
Des Weiteren wurde der Ort des Aktes auf das Ehebett begrenzt – also bitte nicht auf dem Küchentisch, wo man isst oder wie das Vieh im Stall. Das Vieh bringt uns auch gleich zur nächsten Vorschrift: die Stellung. Akzeptiert war weder die «Hündchenstellung» (sprich «wie das Vieh») noch mit der Frau in «aktiver» Position, also über dem Mann. Aktiv sollte nämlich nur der Mann zu sein. Demnach war lediglich die «Mönchsstellung», bei der die Frau unten liegt und sich die Eheleute in «menschlicher Weise» das Gesicht zuwendeten, erlaubt.
Natürlich wurde auch der Zeitraum definiert: nicht während der kirchlichen Feiertage – da hatte man schliesslich anderes zu tun, als sich fortzupflanzen. Dies führte so weit, dass Ehepaare, wenn sie sich denn an die strengen Vorgaben hielten, nur zwei bis fünf Tage im Monat Sex haben durfen. Ebenfalls nicht zu vergessen galt es: Sex nur zu Fortpflanzungszwecken – man erinnere sich an das Dilemma des Fortbestandes.
Somit fallen alle anderen Körperöffnungen und Praxen als «widernatürlich» weg, bei der das Sperma nicht in der Gebärmutter landet. Denn bezüglich der Empfängnis besass man durchaus gewisse Kenntnis, wenngleich man sich nicht einig war, ob nur die männlichen oder auch die weiblichen Komponenten eine Rolle spielten.
Indem die Kirche Verbote, Normen und Regeln definierte, versucht sie, die Sexualität seiner Gläubigen zu normieren – und zwar auf individueller sowie auch auf kollektiver Ebene. Als Konsequenz folgte auf das Konstrukt einer «normalen» Sexualität auch gleich die Idee einer «abnormalen», oder damals als «widernatürlich» bezeichneten, Praxis.
Besonders einschneidende Konsequenzen hatte diese normierte Vorstellung für die Homosexualität. Während sie in der Antike noch ziemlich offen praktiziert wurde, folgte mit der Christianisierung deren Verurteilung als «widernatürlich».
Homosexuelle Praktiken provozierten die propagierte Norm. Auffällig ist dabei, dass weibliche Homosexualität wesentlich weniger im Fokus der Kritik stand. Dies mag mitunter daran liegen, dass die männliche Homosexualität die vorherrschende heterosexuelle Männlichkeitsvorstellung in einem männerdominierten Diskurs untergrub und somit das «Zentrum der Gesellschaft» herausforderte.
Äussert ambivalent war die Haltung der Kirche gegenüber der Prostitution. Im Grundsatz aufs Schärfste verurteilt, eröffnet sich in der damaligen Auffassung jedoch erneut ein Dilemma: Auf der einen Seite wollte man Sex nur innerhalb der Ehe. Andererseits sah man in der unterdrückten männlichen Sexualität eine Gefahr, welche die «Ordnung der Gesellschaft» bedrohte, indem die Junggesellen sich ansonsten den unverheirateten Jungfrauen zuwenden würden. Wiederum bediente die Kirche sich ihrer altbewährten Taktik: Was nicht verhindert werden kann, wird einfach reguliert.
So war der Besuch in einem «Freudenhaus» für ledige Männer zwar gestattet, aber dennoch nicht gerne gesehen. Wer nun denkt, die öffentliche Kritik habe sich hauptsächlich gegen die jungen Freier gerichtet, der irrt sich. Im Zentrum der Kritik stand natürlich – und wer zu Beginn bei der Deutung der Figur Eva aufgepasst hat, weiss was kommt – die Prostituierte, die den «irrationalen, tölpelhaften Jüngling» verführt haben soll.
Es fehlt nicht an kritischen, oft theologischen, Stimmen zum «wollüstigen» Verhalten der Menschen. Oft in der Kritik stand die Homosexualität, aber nicht nur. Auch der aussereheliche Sex, der spätestens mit der Zeugung eines illegitimen Kindes aufflog, wurde ausführlich angeprangert. Selbstbefriedigung war zudem nicht gerne gesehen, da diese augenscheinlich nicht direkt der Fortpflanzung diente.
Die Medizin hingegen sah in der Onanie oder auch ganz allgemein im Ausleben der Lust weniger ein Problem. Ganz im Sinne des Ausgleiches der Vier Säfte wurde der Austausch von Säften gar als gesundheitsfördernd präsentiert.
Medizinische Ratgeber, häufig von Ärzten, Hebammen, Geistlichen oder Laien verfasst, behandelten Themen wie sexuelle Gesundheit, Fortpflanzung und die moralischen Aspekte der Sexualität. Sie empfahlen beispielsweise bestimmte Kräuter oder Techniken zur Steigerung der Fruchtbarkeit oder zur Behandlung sexuell übertragbarer Krankheiten, jedoch basierten ihre Empfehlungen noch oft auf veralteten Vorstellungen von Anatomie und Physiologie.
Da sexuelle Aktivitäten jedoch selten losgelöst von den moraltheologischen Vorstellungen betrachtet wurden, geben viele Ratgeber auch detaillierte Anweisungen, wie man sexuelle Lust im Einklang mit den religiösen Aspekten praktizieren kann und bauen so eine Brücke zwischen Medizin und Religion.
Gewiss mögen die strikten Vorgaben und die gesellschaftliche Verurteilung Einfluss auf das individuelle Leben gehabt haben. Jedoch muss man sich wohl fragen: Wann in der Geschichte der Menschheit hat sich schon jeder und jede an vorgeschriebene Regeln gehalten?
Es sind uns diverse Quellen überliefert, welche allein durch ihre Existenz auf eine breiter gelebte Praxis hindeuten. «Bussbücher» beispielsweise sind eine Art Katalog, der vorgibt, bei welchem Vergehen, wie Busse getan werden sollte. In einem irischen Exemplar aus dem 6. Jahrhundert liest man:
Ehebruch, eine schwer geahndete Sünde, findet man auch in diversen bildlichen Darstellungen. Obwohl viele in moralischem und urteilendem Ton sprechen, scheinen sie zu bestätigen, dass Ehebruch ein Teil des alltäglichen Lebens war.
Neben strikten Regulationen sind auch diverse erotische oder obszöne Inhalte aus dem Mittelalter überliefert. So beispielsweise Tragezeichen, die gekrönte Vulven und geflügelte Phalli zeigen, oder auch «anrüchige» Geschichten, welche der Unterhaltung dienten. Solche Texte überraschen uns heute durch ihren expliziten Inhalt, wie dieses Fabliau, eine Schwankerzählung, von Jean Bodel:
Wenngleich wir jetzt nicht mehr selbst in die mittelalterlichen Schlafgemächer spähen können, erzählen Quellen, wie die Bussbücher oder erotische Literatur, Geschichten fernab von der rigiden Sexualnorm der Kirche. Schlussendlich ist es einfach: Die Existenz von Kritik und expliziten Regeln deuten unterm Strich immer eine gelebte Praxis an – denn was wäre sonst ihr Sinn?
Im Mittelalter inszeniert die christliche Theologie den Kampf der tugendhaften Keuschheit gegen die lasterhafte Wollust. Aus der Perspektive der Kirche soll die Keuschheit siegen und Ordnung in die doch sonst so wollüstige Welt bringen. Doch das alltägliche Leben erzählt eine andere Geschichte: Weder war das Mittelalter ausserordentlich prüde, noch war es ausserordentlich lüstern. Sexualität wurde praktiziert: in der Ehe, mit Mass, im Bett, heterosexuell und mit einer passiven Frau, aber auch ausserehelich, im Bordell, masslos, homosexuell, mit auf Männer reitenden Frauen – und vieles mehr.
Die Auseinandersetzung mit der Sexualität scheint – wenngleich sich die Ansichten und Schwerpunkte ändern – zeitlos. Nun drängt sich die Frage auf: Wieso wird sie stets zu einem Diskursgegenstand gemacht, den es zu definieren, normieren und regulieren gilt?
Die Menschen tendieren dazu, ihre körperlichen Prozesse – sei es die Verdauung, die Nahrungsaufnahme oder die Fortpflanzung – zu interpretieren, zu bewerten oder schlichtweg: zu kultivieren. Die Hintergründe dafür mögen vielseitig sein: Seien es politische, religiöse oder philosophische Bestrebungen, Machtansprüche, soziale Kontrolle oder schlichtweg einfach ein Versuch, sich vom «Vieh» abzugrenzen. Doch – ob früher oder heute – mindestens eine Gemeinsamkeit lässt sich jedenfalls feststellen: Der Mensch hat den Sex zum Gegenstand seiner Kultur gemacht.
Ja, das hört sich tatsächlich völlig abwegig und absurd an.
😉
Leseempfehlung an watson-Community: Decamerone von Bocaccio oder Canterbury Tales von Chaucer. Diese Sammlungen von Geschichten stammen von ca. 1350 (Dec.) bzw. ca. 1390. Sie sind unverblümt sinnlich, erzählen aber auch sehr viel über die Mentalität der Menschen kurz vor den Umbrüchen der Neuzeit.
Aber vom Mittelalter über Neuzeit bis ins 21. Jhdt.: "Regulierungen" der Sexualität meinten faktisch eigentlich immer Einschränkungen für die Sexualität der Frau. Vor der sexuell selbstbestimmten Frau hatte 'mann' immer Angst.