«Du denkst, Weed ist Natur? Nein Bro, das ist Chemiekeule pur!» Mit solchen Videos macht Wilhelm Verspohl auf Instagram auf das Suchtpotenzial von Cannabis aufmerksam.
Dafür erntet er viel Lob. Und ebenso viel Kritik. Kommentare wie diese sind die Regel:
Wilhelm antwortet jeweils unverblümt:
Er kennt die Ausreden in- und auswendig, die Cannabissüchtige parat haben. Er hat sie schliesslich selbst 20 Jahre lang genutzt. So lange war Wilhelm süchtig.
Aufgewachsen ist Wilhelm in einem Einfamilienhaus auf dem Land. Der Vater ging arbeiten. Die Mutter war zu Hause. «Klassische Mittelstandsfamilie in Deutschland», sagt Wilhelm.
Er war elf Jahre alt, als ältere Mitschüler ihn zum ersten Mal an einem Joint ziehen liessen. Auf dem Spielplatz hinter der Schule.
Die Wirkung setzte sofort ein. Weg waren Wilhelms Gedanken, die sich Stunden lang um ein und dasselbe Problem drehen konnten. Stattdessen war da eine nie dagewesene Ruhe. Und Ekstase. Plötzlich war alles lustig. Dieses Gefühl sollte nie aufhören. Es war schöner als die Realität.
Schon in diesem jungen Alter fühlte sich Wilhelm nirgends zugehörig. Spürte einen enormen Druck, um den Erwartungen seiner Eltern gerecht zu werden. Er hatte Probleme in der Schule. Konnte keinen ganzen Vormittag lang stillsitzen und sich konzentrieren. Er störte den Unterricht. «Nervte», wie ihm Mitschüler, Lehrpersonen und ganz besonders seine Mutter oft sagten.
In der Primarschule hatte Wilhelm die Diagnose ADHS bekommen. Seit Jahren nahm er Medikamente, um die Symptome im Zaum zu halten: Impulsivität, Unaufmerksamkeit, Bewegungsdrang. «Aber mit diesen Medikamenten fühlte ich mich nicht wie ich selbst.» Er sei zwar nicht mehr ganz so hibbelig gewesen. Dafür hätten sich all seine Emotionen dumpf angefühlt.
Diese Probleme hatte Wilhelm mit Cannabis nicht. Gras machte ihn glücklich. Und ebenso ruhig, konzentriert, selbstbewusst. Ein weiterer positiver Nebeneffekt:
Wilhelm war jetzt Kiffer. Mit Kifferfreunden. Er fühlte sich cool. Und doch war Cannabis mehr als eine jugendliche Rebellion.
«Funktionaler Kiffer», so beschreibt sich Wilhelm selbst. Er habe früh gemerkt, dass Gras auf ihn eine andere Wirkung hatte als auf seine Freunde. Während diese nach einem Joint müde auf der Couch liegen blieben, kicherten und Snacks assen, sei er aktiv geworden. Er sagt:
Dafür musste er nur einen «Sweet Point» erreichen. Die perfekte Dosis einnehmen, um nicht komplett zugedröhnt und doch high zu sein.
Was Wilhelm erzählt, überrascht Oliver Bilke-Hentsch nicht. Er ist Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei der Luzerner Psychiatrie AG und beschäftigt sich seit vielen Jahren mit den Folgen von problematischem Cannabiskonsum. «Es gibt viele Menschen mit ADHS, Angststörungen, Depressionen oder bipolaren Störungen, die sich genau wegen dieses Effekts selbst mit Cannabis medizieren», sagt Bilke-Hentsch.
Insbesondere die Symptome von ADHS könne Cannabis gut betäuben. Doch langfristig brauche man dafür eine immer höhere Dosis. Das war auch bei Wilhelm der Fall. Mit 12 Jahren fing er an, allein zu kiffen.
«Cannabissucht kommt schleichend», sagt Bilke-Hentsch. Marihuana mache zunächst nicht körperlich abhängig, so wie Heroin oder Alkohol. «Von Cannabis wird man in erster Linie emotional abhängig.» Die Droge wirke im Hirn nämlich genau dort, wo Emotionen und Erinnerungen aufkämen.
Bilke-Hentsch macht ein Beispiel: Wenn eine Person mit 13 Jahren anfängt, regelmässig zu kiffen, um mit Antriebslosigkeit, Ängsten, Schlafstörungen oder negativen Gefühlen klarzukommen, lernt sie nie, wie sie stattdessen mit diesen Dingen umgehen kann. «Fällt Cannabis dann weg, geht es dieser Person plötzlich sehr schlecht.» Sie käme im Alltag nicht mehr klar, entwickle Angstzustände, Paranoia – weil ihr ein stabilisierender Faktor ihres Lebens fehle.
Genau deshalb bliebe sie in der Sucht. Mit potenziell schweren Folgen. «Mit Cannabis nimmt man die Welt wie durch einen Schleier wahr», sagt Bilke-Hentsch. Das mache nicht nur empathieloser und antriebslos. Es beeinträchtige auch Gedächtnis und Erinnerung. Darunter leide vor allem das eigene soziale Umfeld, von dem man sich immer mehr entferne.
«Trotzdem gilt Cannabis landläufig als unproblematische, coole Lifestyledroge.» Das sei paradox. Zumal die Gefahr, die von Cannabis ausgehe, gestiegen sei. Das heutige Cannabis sei deutlich stärker als jenes von vor 50 Jahren. Damit sei auch das Risiko einer Psychose gestiegen.
Doch dieses Argument schrecke kaum jemanden vom Konsum ab. «Es ist eine Tatsache, dass auch mit erhöhtem Risiko durch Cannabis nur sehr wenige Personen eine Psychose entwickeln. Schätzungsweise etwa 3 Prozent aller Cannabiskonsumierenden», sagt Bilke-Hentsch. Das sei ein geringer Anteil, wenn man bedenke, dass etwa 20 Prozent der regelmässigen Konsumierenden eine Sucht entwickelten.
Mit vielen negativen Aspekten, die Bilke-Hentsch aufzählt, war auch Wilhelm konfrontiert. Dennoch war er lange überzeugt:
Eine Bestätigung dafür habe er in seinen Erfolgen gesehen: Wilhelm schloss die Hauptschule ab, holte Realschule und Abitur nach. Danach ging es an die Uni.
All das schaffte er bekifft. Morgens vor einer Prüfung einen kleinen Joint gegen die Nervosität. Zum Mittagessen noch ein paar Züge, um besser lernen zu können. Abends, zum Einschlafen, eine «Gute Nacht»-Tüte.
Gleichzeitig lebte Wilhelm ein unstetes Leben. Mit 13 Jahren begann er zu stehlen, um seinen Konsum zu finanzieren – seine Eltern schickten ihn deshalb für zwei Jahre ins Heim. Mit 16 wurde er Dealer. Mit 18 kam er für elf Monate in den Jugendknast. Kaum entlassen, kiffte er weiter, wechselte ständig den Job, schaffte keine Ausbildung zu Ende, brach das Studium ab.
Erst mit 26 Jahren fand Wilhelm endlich einen Beruf, der ihm Freude bereitete. Als Tourismuskaufmann. Diese Ausbildung hätte sein Wendepunkt werden können. Doch es kam anders.
Wilhelm wollte die Ausbildung aufgrund seiner guten Leistungen verkürzt abschliessen. Seine Chefin war dagegen. Daraufhin gerieten die beiden immer wieder aneinander. Mit diesem gärenden Konflikt wusste Wilhelm nur auf eine Weise umzugehen: Kiffen. Doch nun ging seine Strategie nicht mehr auf.
Um abends einschlafen zu können, morgens die Kraft zu haben, ins Büro zu gehen, um bei der Arbeit ruhig zu bleiben, brauchte er immer grössere Mengen. Das Resultat:
Für etwas anderes reichte Wilhelms Energie nicht mehr. Den nüchternen Zustand hielt er nicht aus.
Es war sein persönlicher Tiefpunkt. Und gleichzeitig ein Schlüsselmoment. Zum ersten Mal in seinem Leben wollte Wilhelm aus eigenem Antrieb aufhören. Davor war er nur gezwungenermassen abstinent gewesen: im Heim, im Gefängnis oder wenn Arbeitgeber Drogentests verlangten. «Ich gestand mir endlich ein, dass ich ein Problem habe.»
Seine Abschlussprüfungen schaffte Wilhelm ohne Gras. Im Anschluss zur Ausbildung brach er alle Zelte in Deutschland ab und ging nach Asien auf Reisen. Ein Jahr lang.
Dass in den Ländern, die er bereiste, hohe Strafen auf Drogenbesitz und -konsum standen, waren beste Voraussetzungen, um clean zu bleiben. Wilhelm kiffte kein einziges Mal. Stattdessen lernte er sich zum ersten Mal selbst kennen. Er sagt:
Am Ende der Reise liess sich Wilhelm in Thailand nieder. Wollte ein Café eröffnen. Endlich sein Leben beginnen. Doch dann legalisierte Thailand Cannabis und Wilhelms Café wurde zum Coffeeshop samt Indoor-Cannabisfarm.
Der Rückfall war vorprogrammiert. Wilhelm verkaufte nicht nur Gras und vorgedrehte Joints. Er kiffte auch regelmässig mit seiner Kundschaft. Nach wenigen Wochen konsumierte er mehr Marihuana als je zuvor. Bis zu fünf Gramm pro Tag. Da war nichts mehr von «Sweet Point». Wilhelm sagt:
Er bekam Aussetzer. Schlief ein, obwohl er das gar nicht wollte. Hatte Gedächtnislücken. Dass es so nicht weitergehen konnte, für diese Erkenntnis brauchte Wilhelm wieder einige Wochen. Schliesslich packte er seine Koffer und reiste zurück in die Heimat.
Es dauerte nicht lange, da legalisierte auch Deutschland Cannabis. Politik, Bürgerinnen und Bürger feierten diesen Schritt als grosse Errungenschaft. Für Wilhelm war es ein Albtraum. Nun konnten ihn nicht einmal mehr rechtliche Konsequenzen vor einem Rückfall abschrecken.
Ihm blieb nur eines übrig: «Ich musste mich endlich meiner Sucht stellen und sie überwinden.» Er las zahlreiche Sach- und Selbsthilfebücher. Suchte nach Antworten auf die Fragen: Wozu kiffe ich eigentlich? Und warum komme ich nicht davon los?
Wilhelms Antwort: «Ich wollte alles Negative in meinem Leben unterdrücken. Ich habe nie ein gesundes Selbstvertrauen entwickelt und ich habe viel Erlebtes nie verarbeitet.» Gras habe ihm geholfen, diese Baustellen zu betäuben.
Chefarzt Oliver Bilke-Hentsch kann bestätigen:
Nur ein Bruchteil der Cannabissüchtigen hole sich professionelle Hilfe. «Und wenn doch, dann meist nicht wegen ihres Cannabiskonsums, sondern wegen anderer psychischer Probleme.»
Wilhelm hat viel Zeit investiert, um seine Vergangenheit aufzuarbeiten. Heute sagt er nicht, er sei clean. Sondern: «Ich bin frei.» Er habe gelernt, seine Emotionen zu regulieren. Ohne Substanzen.
Ein Verlangen nach Cannabis habe er nicht mehr. Er könne sogar in einer WG wohnen, in der seine Mitbewohner regelmässig kifften. Ohne Rückfall. Trotzdem sagt Wilhelm:
Zumindest gegen eine Legalisierung, wie sie in Deutschland geschehe. Mit seinem diagnostizierten ADHS könnte er sich ganz leicht Zugang zu medizinischem Cannabis verschaffen. Das habe er bei Freunden mit ebenso problematischem Suchtverhalten beobachtet. Wilhelm findet:
Bilke-Hentsch kann dies bestätigen: «In Deutschland entwickelt sich derzeit ein grauer Markt.» Es gebe Ärztinnen und Ärzte, die gegen Bezahlung Arznei-Cannabis verschreiben würden. Ebenso investiere Deutschland zu wenig in den Jugendschutz. «Wir haben bei Cannabis dieselbe Schwierigkeit wie bei Alkohol: Jugendliche, die erwachsene Freunde haben, kommen trotz Altersbeschränkung daran heran», sagt Bilke-Hentsch.
Auch in der Schweiz diskutiert das Parlament über die Legalisierung von Cannabis. Parallel sammelt ein Kollektiv aus Privatpersonen Unterschriften für ihre Volksinitiative «Cannabis-Legalisierung: Chancen für Wirtschaft, Gesundheit und Gleichberechtigung».
Bilke-Hentsch beobachtet diese Entwicklungen genau. Für eine Legalisierung spricht aus seiner Sicht, dass Cannabis zahlreichen Patientinnen und Patienten als Medikament helfen könne – beispielsweise Epileptikern oder Rheumatikerinnen. Vor der Entwicklung einer Cannabissucht könne der Staat die Menschen zudem genauso wenig bewahren wie vor einer Alkoholsucht. Aber, so Bilke-Hentsch:
Und das mit intensivem Jugendschutz, Präventionsmassnahmen, Informationskampagnen und einem stark regulierten Markt. Beispielsweise nach dem Vorbild Kanadas.
Wilhelms Leben war 20 Jahre lang von Cannabis bestimmt, obwohl es noch illegal war. Rückblickend wäre er trotzdem froh gewesen, besser über die Gefahren der Droge informiert gewesen zu sein. Heute, mit 32 Jahren, weiss er:
Ein echtes Problem unserer Gesellschaft, dass viele das Gefühl haben von sich auf alle anderen zu schliessen.
Schön hat er herausgefunden, dass es für ihn nicht mehr stimmt.
Aber das dass mir Lebenszeit geraubt hat ist mir nicht aufgefallen. Im Gegenteil. 😂 Da kommen einem 10 Minuten manchmal wie eine Stunde vor.