Sie sind aus Blei-Zinn gegossen, kaum grösser als ein Einfränkler und haben eine Nadel oder Öse, an der man sie an der Kleidung befestigen kann: spätmittelalterliche Tragezeichen. Vom 12. bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts wurden Tausende davon in Massen produziert. Noch heute werden die kleinen Schmuckstücke in der Nähe von Gewässern und vorwiegend in den Niederlanden, Deutschland, England und Skandinavien gefunden und in der Online-Datenbank kunera.nl erfasst.
Die kleinen Accessoires kommen in allen möglichen Formen daher. Darunter finden sich einfache Ornamente, Abbildungen von Tieren oder Tragezeichen in der Form der bekannten Jakobsmuschel. Abzeichen mit Jakobsmuschel oder anderen sakralen Abbildungen erwarben die Menschen an Heiligenstätten.
Das kleine Blei-Zinn-Zeichen erinnerte den Pilger oder die Pilgerin nicht nur an den besuchten Ort, sondern lud sie mit dessen Kräften auf. Diese Kräfte, gespeichert in dem kleinen Abzeichen, trug die Person durch die Befestigung an der Kleidung ganz nah am Körper bei sich und fühlte sich somit gestärkt für den weiteren Weg.
Doch unter den Pilgerabzeichen und den dekorativen, broschenartigen Tragezeichen findet sich auch eine Grosszahl von Abzeichen mit überraschenden Sujets: Geschlechtsteile, ausgestattet mit Beinen und Armen, sind in phantastische Wesen verwandelt. Eine Vulva reitet auf einem Pferd und zielt mit einem Pfeilbogen auf sich selbst. Ein geflügelter Penis ist mit Glockenhalsband und Krone ausgestattet. Drei Penisse schreiten in einer Prozession voran und tragen auf einer Bahre eine gekrönte Vulva.
Wir betrachten diese Abzeichen heute und stehen vor vielen Fragen: Wie kann es sein, dass in einem doch eher prüde geglaubten Mittelalter Geschlechtsteile so offen gezeigt und zur Schau gestellt wurden? Stellt die Prozession vielleicht eine Verherrlichung des weiblichen Geschlechts dar oder ist es eine Parodie auf die Heiligenverehrung der Kirche?
Die Tragezeichen sind nicht die einzigen Objekte aus dem Mittelalter, die in ihrer Darstellung provozieren können und in obszöner wie auch in sakraler Ausstattung vorhanden sind. An vielen mittelalterlichen Kirchen prangen nicht nur Skulpturen aus Erzählungen des Christentums, es tummeln sich auch nackte Figuren, die ihre Vulven präsentieren, Wasserspeier, die ihre nackten Hintern nach aussen strecken oder ein erigiertes Glied in der Hand halten. Die Vulva zeigenden Sheela-na-Gigs in Grossbritannien sollen wohl die Fruchtbarkeit der Felder und der christlichen Gemeinschaft fördern.
Die obszönen Figuren an den Gotteshäusern am Jakobsweg schützen diese vor dämonischen Kräften, indem ihre Fratzen und überraschende Nacktheit die Dämonen erschrecken und vertreiben sollen. Diese Taktik, «Feuer mit Feuer» zu bekämpfen, lässt sich auch auf die Tragezeichen übertragen. Die Kunsthistorikerin Ruth Melinkoff ging sogar so weit, dass sie annahm, die Geschlechtsteile darstellenden Tragezeichen wurden gemeinsam mit den christlichen Pilgerzeichen getragen, um die Pilgernden zusätzlich vor Dämonen zu schützen.
Dafür spricht, dass die Tragezeichen, unabhängig von ihren christlichen oder obszönen Darstellungen an den gleichen Orten gefunden und somit wohl auch in den gleichen Werkstätten hergestellt wurden. Ob sich ein Dämon jedoch ab einem geflügelten Penis oder einer reitenden Vulva erschreckt, die gegenüber den fratzenhaften Kirchenskulpturen doch eher verniedlichend wirken? Gemäss einer anderen Theorie sind die Geschlechtsteile, die christliche Aktivitäten wie eine Prozession oder das Pilgern nachahmen, Satire. Sie sind mit Humor und einem Augenzwinkern zu lesen, regen zum Lachen und Diskutieren an.
Witzige Darstellungen der «verkehrten Welt», in der Affen musizieren, Hasen Jagd auf Menschen machen oder Schnecken die Welt regieren, finden sich in den Marginalien vieler Prachthandschriften aus dem Mittelalter. Auch hier vermischen sich das Weltliche und das Sakrale: Es sind christliche Texte, wie Stundengebete und Psalme, die an den Seitenrändern nicht nur mit der Bibelgeschichte geschmückt sind, sondern auch mit phantastischen Szenen.
Der Phantasie der Buchmaler und Buchmalerinnen schienen keine Grenzen gesetzt gewesen zu sein: Nonnen pflücken Phallusse von Bäumen und Mönche erledigen ihr Geschäft direkt über den Köpfen von küssenden Paaren. Tatsächlich sind es diese Buchmalereien, die im Mittelalter den Tragezeichen am nächsten kommen. Die Abbildung eines fliegenden Phallus mit Flügeln, Beinen, Krone und Glockenhalsband ausgestattet, findet sich sowohl als Tragezeichen wie auch als Buchmalerei in einem kirchlichen Rechtsbuch.
Die Darstellung von Geschlechtsteilen in christlicher Umgebung ist im Mittelalter also gar nicht so unüblich. Die Frage stellt sich demnach, ob wir heute nicht prüder sind als die Menschen im Mittelalter, dass wir so überrascht sind, solche Darstellungen in einem christlichen Kontext zu finden.
Die Interpretation der Tragezeichen scheitert an dem Problem, dass wir heute eine andere Wahrnehmung von Bildern haben, gerade auch wenn es dabei um die Darstellung von Geschlechtsteilen geht. Müssen wir, um die «obszönen» Tragezeichen zu verstehen, die Darstellung von Geschlechtsteilen als nicht obszön betrachten?
Versuchen wir uns in eine Pilgerin oder einen Pilger des Spätmittelalters zu versetzen: Wir wandern an eine Heiligenstätte und entdecken an einem Verkaufsstand diverse Tragezeichen. Neben Heiligenfiguren und Jakobsmuscheln finden wir einige, die witzige Phantasiewesen aus Geschlechtsteilen, ein obszönes Sprichwort oder eine Redewendung darstellen. Wir schmunzeln und denken an unsere Freunde und Freundinnen, die zuhause geblieben sind. Was für ein tolles Mitbringsel, das zum Beispiel am nächsten Fastnachtsfest für Gesprächsstoff sorgen würde.
Denn die verkehrte Welt, wie wir sie in den Randillustrationen von Prachthandschriften finden, steht während der Fastnacht an der Tagesordnung. Schliesslich ist es das, was drei Penisse, die eine gekrönte Vulva wie in einer Prozession tragen, darstellen: komplette Narrenfreiheit. Die Geschlechtsteile machen sich vom Körper unabhängig und kreieren ihre eigene Phantasiewelt.
Die Grosszahl der heute noch erhaltenen Tragezeichen deutet darauf hin, dass das Tragen der Zeichen nicht regelwidrig war und diese deshalb vermutlich auch nicht nur an der Fastnacht getragen wurden. Die Abzeichen sind zudem so divers, dass kaum nur ein Zweck oder eine Bedeutung für alle zutreffen kann.
Eines ist jedoch klar: Die teilweise noch erhaltenen Nadeln an den Rückseiten der Tragezeichen zeigen, dass sie offen an der Kleidung getragen wurden. So haben diese individuellen «Statement Pieces» bestimmt für Gesprächsstoff und den einen oder anderen Lacher gesorgt – ein echter Hingucker als Accessoire.