Die physische Präsenz macht den Unterschied. Bauten haben gegenüber Textquellen den Vorteil, dass sie uns mit ihrer Körperhaftigkeit in den Bann ziehen. Die Monumentalität des Historismus, die kühle Strenge des Klassizismus, die elegante Verspieltheit des Rokoko – wenige Beispiele genügen, um einen Kosmos von Ausdrucksformen anzudeuten.
Die Körperhaftigkeit ermöglicht, dass wir Gebäude, Ensembles, Plätze gleichzeitig mit mehreren Sinnen wahrnehmen. Dabei geht es auch um Geschmack und Gefallen, subjektiv, wie könnte es anders sein. Im Vordergrund stehen aber die architektonische und die städtebauliche Qualität.
Um 1800 benötigt ein Fuhrmann mit Ross und Wagen für die Strecke Luzern – Basel 19 Stunden. Hundert Jahre später braucht ein Reisender mit dem Schnellzug 2 Stunden 4 Minuten. Josef Zemp, später Bundesrat, fährt als Parlamentarier am Anfang noch mit der Postkutsche von Entlebuch nach Bern, ab 1875 mit der Eisenbahn. Das neue Transportmittel für Menschen und Güter: ein Zivilisationssprung.
Nächste Etappe: Elektrifizierung. Der Eisenbahn gehört die Zukunft, dem Bahnhofgebäude die Vergangenheit. Ein Dom, eine Kathedrale. Die imposante Kuppel ist über 40 Meter hoch und grüsst über den See hinweg erhaben die Hotels am anderen Ufer. Das gefällt nicht allen. Die Kuppel, das vornehmste architektonische Motiv, sei Gotteshäusern vorbehalten, wird moniert.
Derweil verbinden sich sakrale Feierlichkeit und technischer Fortschritt. Das barock anmutende Gewölbe des Luzerner Bahnhofs verfügt über ein Stahlgerippe, eine Innovation, wie sie auf der Weltausstellung 1900 in Paris präsentiert wird.
Für das Schützenfest 1901 übertrifft sich die Stadt Luzern selbst. Die Festhalle ist 115 Meter lang, 50 Meter breit, 18 Meter hoch und bietet Platz für 4500 Personen. Mit ihren drei Schiffen erinnert die Halle an eine Basilika, am Werk ist indes nicht ein mittelalterlicher Bautrupp. Architekt Hans Siegwart konstruiert das Dach mit Eisenbetonträgern, die nach ihm, dem Erfinder, benannt werden. Eine technische Pionierleistung. Auch für die Wände kommen modernste Mittel zum Einsatz.
Die Schweizerische Bauzeitung schreibt 1901 dazu: «Nach eingehenden Proben gelang es, Platten aus armiertem Cement herzustellen, in deren Mitte ein Drahtgeflecht eingegossen ist, in der Gesamtwirkung altersgrauem verwettertem Sandstein-Mauerwerk ähnlich. Epheu und Schlingpflanzen aller Art rankten sich an dem Gemäuer empor, Moosansätze zeigten sich auf Zinnen und schattigen Dachpartien.» Eisenbeton, mittelalterlich verbrämt.
Festhütte und Villa als Burgen könnten wunderliche Ausnahmen sein. Sind sie aber nicht. Um 1900 hat das Romantisieren und Historisieren System.
Wilhelm Keller macht eine Maurerlehre im Geschäft seines Vaters im Luzerner Seetal, nimmt bei einem Pater und einem Architekten Zeichenunterricht, gründet ein Baugeschäft und zieht 1865 nach Luzern. Bereits im Jahr darauf beginnt er mit dem Bau einer schlossartigen Häusergruppe, die er bis 1884 in drei Etappen zu einem monumentalen Wohn- und Geschäftshaus ausbaut, an der Hauptader Luzerns, der Pilatusstrasse.
Die Werkliste von Kellers Firma macht schwindlig: mehr als 40 Neubauten von Kirchen und Kapellen, dazu mehr als 90 Erweiterungen, 34 Schulhäuser, 19 Hotels oder Gasthäuser, mehrere hundert Privathäuser in Stadt und Land. Der Kellerhof markiert 1866 den Anfang einer fulminanten Urbanisierung.
Um 1800 leben in Luzern rund 4500 Menschen. 1850 sind es 10‘000, 1890 doppelt so viele. In den beiden Jahrzehnten von 1890 bis 1910 verdoppelt sich die Bevölkerungszahl gleich nochmals, auf 40‘000. Wohnraum ist gefragt. Geschaffen wird er in der heutigen Neustadt, planmässig, schachbrettartig. Qualitätvolle Vielfalt in der Einheit, wie ein Gang durch das Gebiet zwischen Bahnhof und Obergrund noch heute zeigt.
Ein Aufschwung ohnegleichen. Im Gegensatz dazu scheinen die Strassennamen für den neuen Stadtteil einem Schnellkurs für alte Schweizer Geschichte entnommen. Die Frankenstrasse verweist auf das Reich Karls des Grossen; Murbacher- und Habsburgerstrasse erinnern an den Übergang der Stadt von Murbach an Habsburg; die Waldstätterstrasse markiert so etwas wie das eidgenössische Ende der Geschichte.
Die Quartierstrassen wiederum sind benannt nach glorreichen Schlachten: Morgarten 1315 / Sempach 1386 / Winkelried / Dornach 1499, Schwabenkrieg. Die erbeuteten Fahnen von damals machen als Fresken die nahe Franziskanerkirche um 1900 noch immer zu einer Ruhmeshalle.
Die Fahrt vorwärts und der Blick rückwärts sind gekoppelt: je rasanter das Tempo des Wandels, desto grösser das Bedürfnis nach bewusster Vergangenheit, das heisst: nach Geschichte.
Nach 1850 werden in Architektur und Kunst historische Stilformen wiederbelebt, daher der Begriff «Historismus». Dabei geht es nicht um getreues Nachahmen historischer Stile. Der freie Umgang mit der gesamten Baugeschichte soll vielmehr zu einem eigenen Stil führen, der dem gehobenen Bildungsbürgertum des 19. Jahrhunderts entspricht.
Der Historismus manifestiert sich in der damaligen Blüte des Kirchenbaus besonders prägnant und entspricht dem Bedürfnis junger Nationalstaaten nach altehrwürdigem Herkommen.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wird zu einem Wettlauf der Technik. Ein Triumph reiht sich an den andern: die erste Zahnradbahn Europas, Rigi, 1871; der längste Eisenbahntunnel der Welt, Gotthard, 1882; die steilste Zahnradbahn der Welt, Pilatus, 1889.
Auch zum Kraftwerk Thorenberg im Luzerner Vorort Littau pilgern Ingenieure und Interessierte aus ganz Europa. Mit dieser Wechselstromanlage verfügt Luzern seit 1886 als erste Stadt der Schweiz über ein Kraftwerk, das den Strom über eine sechs Kilometer lange Fernleitung in ein Verteilnetz liefert. Zu den ersten Kunden gehört das Hotel Schweizerhof am Luzerner Quai. Nachts ist die beliebte Promenade nun elektrisch beleuchtet. Sehen und gesehen werden.
In den Hotels wird auch bereits telefoniert. 1883 gibt es in Luzern noch übersichtliche 61 Telefonabonnenten, 1900 sind es 1‘026. Eine weitere Zivilisationsstufe ist der Übergang vom Waschbecken zum Wasserhahn. 1876 sind 53 Prozent der Haushalte in Luzern an die Wasserversorgung angeschlossen, 1900 bereits 93 Prozent.
Hier Erfinder, Techniker, Pioniere, zukunftsgerichtet – dort Bauherren, Architekten, rückwärtsgewandt? So eindeutig ist es auch auf dem Gütsch in Luzern nicht. Dies und das ist zwar Attrappe, so die Spitze des Hauptturms, vermeintlich aus Stein, in Wirklichkeit ein Holzgerüst, verkleidet mit weissem Blech. Architekt Emil Vogt orientiert sich an der Burgenromantik von Schloss Neuschwanstein. Aber Vorsicht! Zum Einsatz kommen moderne Baumaterialien wie Gusseisenstützen.
Was Vogt zudem architektonisch vollbringt, gerät zur Demonstration. Allein das Spiel mit Hauptturm, Dachlandschaft und Ecktürmen ist virtuos, von schwereloser Eleganz. Die stilvolle Art, wie die beiden Veranden zueinandergesetzt sind und mit dem Hauptbau korrespondieren, wie dezent zudem die Fassaden mit Elementen der italienischen Renaissance und des Klassizismus geschmückt sind, all dies steht für einen Architekten, dessen internationaler Stern soeben Fahrt aufnimmt, vor allem mit Hotelbauten – von Kriens bis Kairo.
Beim Begriff Mittelalterliche Stadt läuft bei vielen ein ähnlicher Film ab: Mauern, Türme, Tore, Rathaus, Marktplatz, Brunnen, Gassen usw. Die mittelalterliche Stadt gibt es nicht, nur unzählige Variationen davon, die sich verdichten lassen zu einem Idealtypus, zur Vorstellung eines imaginären Modells. Auch das idealtypische Wohn- und Geschäftshaus um 1900 gibt es nicht – aber fast, wie der Gutenberghof in Luzern zeigt. Vaut le détour.
Die Hauptfunktionen des Baus sind an der Fassade deutlich ablesbar: die untersten zwei Etagen, in Natursteinverkleidung, dienen als Geschäftsbereich; darüber folgen, in hellem Verputz, drei Wohnetagen. Der Stilpluralismus feiert Urständ. Jede Etage ist mit anderen Fensterformen gestaltet. Die Balkone aus Stein und feingliedrigem Schmiedeeisen deklinieren ein architektonisches Repertoire. Erker ziehen sich über mehrere Etagen und sind mit kleinen Kuppeln bekrönt. Der zentrale Erkerturm bildet einen triumphalen Abschluss. Als ob das nicht genügte: zwei historische Figuren, fast lebensgross, ferner Skulpturen aus dem Buchdruckergewerbe, Wappen – mehr Geschichte an einer Fassade geht kaum.
Als das Gotthardgebäude am Schweizerhofquai 1889 fertiggestellt wird, fährt die Gotthardbahn noch nicht nach Luzern. Die Linie Immensee – Luzern wird erst 1897 eröffnet. Bereits im Vorfeld macht das Verwaltungsgebäude seinen städtebaulichen und architektonischen Anspruch geltend, ebenso überzeugend wie berechtigt.
Über einem Sockelgeschoss aus Steinquadern erheben sich drei Obergeschosse. Die Fassade des selbstbewussten Baus wird kraftvoll gegliedert durch drei vorspringende Gebäudeteile, Risalite. Der Mittelrisalit, im Unterschied zu den Eckrisaliten drei Fensterachsen breit und um ein Stockwerk erhöht, verstärkt den schlossartigen Charakter. Kolossale korinthische Säulen führen über zwei Etagen, betonen die Senkrechte zusätzlich und bieten der ausgeprägten Waagrechten vornehm Paroli.
Im ersten Obergeschoss ist der Fensterschmuck besonders reich. Über gesimsartigen Fensterbekrönungen sind Köpfe angebracht, zwischen den Säulen im Wechsel Segment- und Dreiecksgiebel. Was für eine Sorgfalt, was für eine Klasse! Es verwundert nicht, dass dies auch für die Allegorien gilt, die diesen Bau zusätzlich bereichern. Über den Säulen des Mittelrisalits verkörpern vier Frauenfiguren je eine Sparte des technischen Fortschritts. Am Fuss der beiden Eckrisalite symbolisieren je zwei Frauen- und Männerfiguren die vier Alpenflüsse Rhein, Reuss, Tessin und Rhone.
Das Gotthardgebäude des Architekten Gustav Mossdorf ist der bedeutendste Bau der Neurenaissance im Kanton Luzern. Stellvertretend für zahlreiche herausragende Bauten der Zeit um 1900 manifestieren sich hier ein Gestaltungswille und eine Gestaltungskraft, die ihresgleichen suchen.
Die architektonische Verwandtschaft des Sälischulhauses mit dem Gotthardgebäude ist unverkennbar: Gliederung, Sockelgeschoss, betonter Mittelrisalit, Eckrisalite. Der Haupteingang anderthalb Stockwerke hoch, die Türe mit einem Schweizerkreuz versehen und so schwer, dass ein Erstklässler dieses Tor zur Bildung nicht allein aufstossen kann.
Allseitig sind die Dachuntersichten mit den Wappen sämtlicher Kantone bestückt. Im ehemaligen Sonderbundskanton Luzern wird der Bildungsföderalismus betont. Neben Dekorationsmalereien schaut zudem die gesamte geistige Elite von damals zu den Schulkindern herab, aus luftiger Höhe, etwas gar weit entfernt. Who is who, Vorbilder über Vorbilder, Männer unter sich.
Die Belle Époque soll nicht schöngeredet werden. In den 34 Jahren zwischen 1880 und 1914 kommt es in der Schweiz zu 39 Einsätzen der Armee. 39 mal steht der Feind im eigenen Land, wenn die Armee gegen Streikende und Demonstranten vorgeht.
Wir schauen am Hauptportal des Sälischulhauses hinauf, lesen, kommen ins Grübeln: Lern um zu leben. Leb um zu lernen, mit Grossbuchstaben, in goldenen Lettern verewigt. Darüber schützend Pestalozzi, dazu Eduard Pfyffer, aufgeklärter Liberaler und bedeutender Luzerner Bildungspolitiker. Im stilisierten Rankenwerk der Lukarne zwei weitere Sinnsprüche: Diligens officii und Nulla dies sine linea. – Die Freuden der Pflicht und Kein Tag ohne eine Linie [zu schreiben]. Pathetisch, gebieterisch, disziplinierend. Bildung im Spannungsfeld der Gesellschaft um 1900.
Bilanz? Ein doppeltes Plädoyer: Vorerst, speziell, für die Meisterschaft, von der Formensprache früherer Epochen auszugehen und daraus Neuschöpfungen abzuleiten, die im besten Fall jeden Vergleich bestehen. Sodann, generell, ein Plädoyer für den zweiten Blick, denn wie sich bei der Baukunst um 1900 zeigt, muss der erste Blick nicht bereits der letzte sein.