Am 30. November 1481 fällt an der Tagsatzung in Stans die Entscheidung. Die Vertreter der acht eidgenössischen Orte und die Gesandten von Freiburg und Solothurn sind sich einig. Auch alle Regierungen, denen das Ergebnis umgehend überbracht wird, stimmen zu, alle.
Doch Uri, Schwyz und Unterwalden legen sich nochmals quer. Um in die Eidgenossenschaft aufgenommen zu werden, müssen Freiburg und Solothurn Einschränkungen ihrer Rechte akzeptieren. Also nochmals nach Stans. Verhandlungsbeginn am 18. Dezember, Einigung am 22. Ein Geknorze erster Ordnung. Typisch eidgenössisch, schweizerisch? Nicht ausgeschlossen. Hier die Vorgeschichte.
Burgund im «Herbst des Mittelalters»: Hofkultur vom Feinsten, die politischen Ambitionen eher gröber. Ziel Karls des Kühnen (1433–1477) ist ein Mittelreich zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich, von den Niederlanden im Norden über Luxemburg und Lothringen zu den burgundischen Stammlanden. Südlich angrenzend reicht das mit Burgund verbündete Savoyen bis zum Mittelmeer.
Im Berner Rat stehen die Zeichen auf Expansion – und damit auf Krieg. Unter Schultheiss Niklaus von Diesbach erlangt die Kriegspartei Oberhand. Der Anführer der Gemässigten, Adrian von Bubenberg, wird aus dem Rat verstossen. Die Bahn ist frei. Am 25. Oktober 1474 erklärt Bern dem burgundischen Herzog den Krieg – ohne die anderen eidgenössischen Orte zu informieren.
Wenige Tage danach führt ein Berner die antiburgundische Liga auf einem Feldzug in die Freigrafschaft Burgund zum Sieg über ein burgundisches Heer bei Héricourt. 16 gegnerische Anführer werden gefangen nach Basel geführt und dort auf einem Scheiterhaufen öffentlich verbrannt. «Der Alte Schweizer und sein Krieg» – eine Ruhmesgeschichte?
Im Jahr darauf lassen Bern und Freiburg, unterstützt von Luzern, Kriegsbanden in die Westschweiz ziehen. Diese erobern in kurzer Zeit 16 Städte und 43 Burgen. Überall erzwingen sie den Untertaneneid.
Die übrigen eidgenössischen Orte grenzen sich von der rücksichtslosen Expansion Berns vorerst ab. Im bevorstehenden Krieg eilen sie Bern denn auch erst im letzten Moment zu Hilfe. «Karl der Kühne verliert bei Grandson das Gut, bei Murten den Mut, bei Nancy das Blut.» Laut Merkvers ist der edle Herzog das einzige Opfer. So war es nicht.
Beginn einer eidgenössischen Grossmachtpolitik? Bereits 1476 geben die Eidgenossen die Waadt an Savoyen zurück, für wenig Geld. Für etwas mehr verkaufen sie 1479 die Freigrafschaft Burgund, an Frankreich. Vor allem die Landorte misstrauen Bern. Das Gefälle innerhalb der Eidgenossenschaft ist jetzt schon eklatant. Nimmt die Macht Berns weiter zu, was dann?
Die Eidgenossen wähnen sich «in des almechtigen gottes schirm», und wenig später heisst es, «der frommen eidgenossen bleib keiner tot im velde, das schuof das göttlich recht». Wer das von sich behaupten kann. Fest steht: Burgund erlischt, es entsteht kein Mittelreich, das Momentum ist auf Seite der Eidgenossen. Drei Siege gegen die stärkste Militärmacht Europas. «Doch niemand kennt diese Eidgenossen, ihr Land, ihre Sitten und Taten», klagt Albrecht von Bonstetten (1442–1504), Dekan des Stifts Einsiedeln. Sein Gegenmittel: vier Karten, die sich lesen wie eine Schöpfungsgeschichte der Eidgenossenschaft.
Auf der ersten Karte lässt Atlas die Sonne auf- und untergehen, auf der zweiten werden Affrica, Asia und Europa situiert. Die dritte Karte fokussiert auf Europa: die Alpen zwischen Italia, Alamania und Gallia. Auf der vierten Karte geschieht Unerhörtes: Bonstetten setzt die Rigi in die Mitte der Welt und umgibt sie mit den acht Alten Orten der Eidgenossenschaft. Das Werk ist vollbracht, das «usserwelte» Volk der Eidgenossen im Zentrum des Erdkreises.
Einmal ist keinmal, doch dreimal ist dreimal. Nach drei Siegen über Burgund sind die eidgenössischen Söldner in ganz Europa begehrt. Ihr Preis steigt. «Und kam vil geltz in das lant», vermerkt die Zürcher Chronik. Glänzende Aussichten. Sie führen Richtung Abgrund.
Die Burgunderbeute sprengt jeden Rahmen, unter anderem mit 400 Kanonen, 800 Gewehren und 300 Tonnen Schiesspulver. Dazu kommt das «roupguot», doch das ist «boess und verfluecht». Urner und Schwyzer, die nach Neujahr 1477 von der Schlacht bei Nancy zurückkehren, sind mit der Verteilung der Beute unzufrieden. Sie gründen die «Gesellschaft vom torechten [törichten] Leben» und brechen in der Fasnachtszeit mit 1700 Mann in die Westschweiz auf. Vor Jahren hatten sie Genf auf einem Raubzug verschont. Die Stadt hatte die erpresste Summe damals nicht verfügbar. Nun wollen sie das ausstehende Geld eintreiben. Die Konstellation ist explosiv.
Im Zug mitgeführt oder sogar vorangetragen werden die offiziellen Feldzeichen von Uri und Schwyz. Diese Fähnchen müssen auf Befehl der Berner Obrigkeit aus der amtlichen Chronik der Stadt entfernt werden. Doch lässt sich nicht vertuschen, dass eine kriegerische Horde ausser Kontrolle geraten ist. Der obrigkeitliche Krieg und der Krieg bewaffneter Banden vermischen sich.
Der Ernst der Lage ermisst sich daran, dass die Städte alles geben, um diesen Zug zu stoppen. Gesandtschaften aus Bern, Genf, Basel, Strassburg eilen zu den kriegerischen Haufen, die bereits Payerne und Lausanne erreicht haben. Der «Gesellschaft vom torechten Leben» wird hofiert. Genf muss herausrücken, was in sämtlichen Kassen verfügbar ist. Schliesslich werden auf Kosten der Stadt vier Fässer Wein herangekarrt und jedem Kriegsknecht zwei Gulden bar in die Hand gedrückt. – Abbruch der Übung, rechtsumkehrt.
Die Städte lernen schnell, erst recht jene, die mit Frankreich und Savoyen lukrative Verträge abschliessen wollen. Im Ausland soll nicht der Eindruck entstehen, dass in der Eidgenossenschaft jeder macht, was er will. Kriegerbanden sind schon recht, aber nur, wenn es die eigenen sind und sie ihr Unwesen zur rechten Zeit und am rechten Ort treiben. Die Städte Bern, Zürich, Luzern, Freiburg, Solothurn sehen sich gegen die Landorte vor und schliessen ein Burgrecht. Eine Parallelorganisation entsteht, so etwas wie eine zweite Eidgenossenschaft, eine städtische.
Ärger und Wut bei den Landorten, die befürchten, es könnte bald um Sein oder Nichtsein gehen. Obwalden giesst 1478 noch Öl ins Feuer mit dem Versuch, den Luzernern das benachbarte Entlebuch abspenstig zu machen. Der Burgrechtsstreit zwischen Stadt- und Landorten eskaliert und zieht sich fünf Jahre hin. In Stans soll er endlich aus der Welt geschafft werden.
Der angesehene Eremit Niklaus von Flüe trägt zur Schlichtung des Burgrechtsstreits bei, ohne dass er selber nach Stans geht. Die ursprüngliche Einleitung des Stanser Abkommens liest sich «wie eine frei wiedergegebene Predigt von Bruder Klaus».
Das Stanser Verkommnis bestätigt den Pfaffenbrief von 1370, der erstmals von «unser Eydgnoschaft» spricht, ebenso den Sempacherbrief von 1393, der die brutalen Kriegsbräuche einschränken soll. Auch die Übereinkunft von 1481 ist keine Verfassung. Als Folge der Burgunderkriege und des Burgrechtsstreits werden pragmatisch die nötigsten Grundsätze vereinbart und Vorkehren getroffen. So etwa sollen die beteiligten Orte künftig gleichen Anteil an eroberten Gebieten und Herrschaftsrechten haben. Die Beute dagegen wird nach Anzahl der beteiligten Truppen verteilt.
Der Knackpunkt ist die Aufnahme von Freiburg und Solothurn in die Eidgenossenschaft. Vorerst sind die beiden Städte noch als Mitunterzeichner der Satzungen vorgesehen, Ende 1481 auf Drängen der drei inneren Orte aber nicht mehr. Das Stanser Verkommnis wird nur mit den Siegeln der acht Alten Orte beglaubigt – ohne Freiburg und Solothurn.
Der Geniestreich: zwei Urkunden. Die Tinte des Stanser Abkommens ist noch nicht trocken, wird eine zweite Urkunde aufgesetzt, mit der Freiburg und Solothurn in die Eidgenossenschaft aufgenommen werden, wenn auch mit Einschränkungen. Das Geknorze von Stans endet mit einem Unentschieden, fünf zu fünf, fünf Stadtorte, fünf Landorte. Was heisst da Unentschieden? Die Eidgenossenschaft hat knapp gewonnen – in der Nachspielzeit.
Ein Schlüssel zum Erfolg: Beide Seiten wahren das Gesicht. Die Landorte setzen durch, dass der Städtebund aufgelöst wird. Im Gegenzug erreichen die Stadtorte, dass Freiburg und Solothurn in die Eidgenossenschaft aufgenommen werden. Eine bedeutende Leistung. «Stans 1481» steht für Einigung im Geiste Niklaus von Flües, des Landesheiligen.
Bevor uns aber Ehrfurcht und Mythos am Denken hindern, sei zu Protokoll gegeben: 1481 bildet sich ein obrigkeitliches Machtkartell, das sich in den folgenden 300 Jahren zwar leidlich paternalistisch gibt, aber über die Religionsgrenzen hinweg die Fronten schliesst und gnadenlos zuschlägt, wenn seine Macht angetastet wird.
Die politischen Satzungen sind wirkmächtig. «Mutwillige Gewalt» wird untersagt. Die Untertanen dürfen sich ohne Einwilligung der Obrigkeit nicht versammeln. Das schränkt ihre politischen Handlungsmöglichkeiten massiv ein. Sollte es dennoch zu Widerstand oder offenem «Abfall» kommen, verpflichten sich die Regierungen gegenseitig zu militärischer Unterstützung.
Erstens – In Stans zeigt sich 1481 exemplarisch, was auf die ganze Geschichte der Alten Eidgenossenschaft zutrifft: Zusammengehalten wird der lose Bund eigenständiger Partner nicht von Patriotismus, sondern von der nüchternen Einschätzung, die Vereinigung habe mehr Vorteile als Nachteile.
Zweitens – Stadt und Land sind aufeinander angewiesen. Sie stehen dennoch in einem latenten Spannungsverhältnis, bis heute. Dass es gelegentlich kracht im Gebälk, ist unvermeidlich. Entscheidend ist das Sich-Zusammenraufen. Als Grundhaltung alternativlos.
Drittens – Mehrheit und Minderheit sind politische Zwillinge. Beide schauen mit Argwohn, dass sie je auf ihre Rechnung kommen. Nach ungeschriebenem Gesetz ist die Minderheit zu respektieren. Doch keine Regel ohne Ausnahmen.
Viertens – Hauptantriebe beim politischen Seilziehen sind Gemeinsinn und Eigennutz. Der Gemeinsinn hat es schwerer und versucht den Eigennutz in Schranken zu halten. Vor allem Hau-Ruck-Aktionen, die das Gemeinwohl schwächen, sollen verhindert werden. Erfolgsaussichten vorhanden, doch unsicher.
Fünftens – Das schweizerische Allzweckwerkzeug ist der Kompromiss, die Kunst des Möglichen. Die Bereitschaft dazu führt 1481 zur ultimativen Lösung. Auch in der Konkordanzdemokratie unentbehrlich. Allerdings: Kompromisse gibt es in 1481 Schattierungen.
Nachgefragt – Wie steht es mit unseren kollektiven mentalen Prägungen? Wirken sie sich über Jahrhunderte hinweg auf unser politisches Denken und Handeln aus? Wie entwickeln sich kollektive Identitäten in einem Land wie der Schweiz, die von einem ehemaligen Auswanderungsland längst zu einem Einwanderungsland geworden ist? Alles komplex, schwierig, unsicher. Dennoch: Stans 1481, vielleicht sind das wir.