Luftaufnahme? Nein, Vorstellungsgabe, Zeichen- und Lavierkunst. Die Ansicht des Sarner Talbodens hat Suggestivkraft. Weit mehr als eine informative Übersicht, wird sie mit ihrer eleganten, zugleich sachdienlichen Ästhetik zur Einladung, Vergangenheit vor Ort zu rekonstruieren.
Kein Raum ohne Geschichte, keine Geschichte ohne Raum. Eine Bildquelle wird zum Erlebnis.
In den Voralpen verliert die Welle von Stadtgründungen im 13. Jahrhundert ihre ungestüme Kraft. Langnau im Emmental, Beromünster, Stans, Schwyz, Altdorf, Glarus, Herisau, Appenzell bleiben Marktflecken. Auch Sarnen gehört zu diesem Typus. Ein Mauerring fehlt. Die Vogelschau macht deutlich: Sarnen, Hauptort, nicht Hauptstadt, fängt nicht an und hört nicht auf. Der repräsentative Dorfkern kommt zwar optimal zur Geltung, doch nur am Rand. Das gilt auch für den Landenberg und die Pfarrkirche, ganz rechts, beide leicht überdimensioniert, wie zur Kompensation.
Der Talboden, ländlich geprägt, wird von einer Kreuzung beherrscht, als markiere sie einen Punkt null, von dem aus Strassen kreuz und quer den Raum durchmessen. Zentrumsfunktion hat dieses Zentrum nicht. Weder das Frauenkloster und das Kapuzinerkloster im Mittelgrund noch das Kollegium gegen den See hin, beidseits der Brünigstrasse, nehmen Bezug zu dieser Kreuzung. Flussläufe, überspannt von Brücken, rahmen den Talboden. Kurz vorher, 1882, erfolgte die Korrektion der zufliessenden Melchaa links und der abfliessenden Sarneraa rechts. Nun steht weiterer Baugrund bereit.
Mittelpunkt von Sarnen ist der Dorfplatz – genauer der Dorfbrunnen, Jahrgang 1604, wie steinerne Ziffern am Trog belegen.
Wer darf den Brunnen zieren? Allein er, mit Rosenkranz und Pilgerstock, im einfachen Gewand eines Eremiten, Bruder Klaus, und sein Blick kann nur eine Richtung haben, Flüeli-Ranft. Allerdings ist die Ehrerbietung, die ihm im Gasthaus Ochsen rechts zuteil wird, mehr als pragmatisch. Der prunkvolle Brunnenstock wird als Ständer für die Wäscheleine benutzt. Der Landesheilige duldet’s gleichmütig.
Das Rathaus, noch heute Sitz von Regierungsrat, Kantonsrat und Staatskanzlei, beansprucht die Bildmitte. Doch wer über so viel Qualität verfügt, kann etwas zurücktreten. Ein erster Bau datiert von 1419, ein Neubau von 1551, wie der Sockel mit gotischen Öffnungen belegt. Darüber wird 1729–1731 der heutige Barockbau errichtet. Obwalden betraut damit Hans Georg Urban, einen Luzerner Steinmetz, der in der Folge zahlreiche Aufträge für prominente Bauprojekte in Stadt und Land Luzern erhält.
Was Wunder – in Sarnen hat er als erste Probe seines Könnens gleich ein Meisterwerk abgeliefert: prächtige Schaufront, zweiseitige Freitreppe, die kleine Vorhalle mit Säulen bestückt und reich dekoriert. Ein krönender Dachgiebel und ein Uhrturm mit Kuppelhaube auf dem First betonen die axiale Symmetrie und verleihen dem Bau zusätzliche Würde. Nicht zu vergessen, dass ein Rathaus ursprünglich vielen Zwecken dient. Sarnen als typisches Beispiel: Salzmagazin, Metzgerhalle, Tanzlaube, Gericht, Wohnung des Weibels, Gefängnis.
Hintersassen sitzen hinter dem Rathaus, im Gegensatz zu Landammännern, die hier herrschaftliche Häuser bauen: links vom Rathaus die Wirz, rechts die Frunz, auf der gegenüberliegenden Seite, auf dem Aquarell nicht sichtbar, die Heinzli und die Imfeld. Es kann losgehen mit der Imfeld-Saga.
Niklaus Imfeld wird vor 1500 oben in Lungern geboren. Karrieren werden unten im Tal geschmiedet. In Sarnen heiratet er um 1525 Wiberta von Einwil aus einem Obwaldner Landammanngeschlecht. Die Ehe ebnet den Weg in die Führungsschicht: Richter, Talvogt von Engelberg, Landvogt in Baden, Landammann von Obwalden, Mitglied des Geheimen Rats, Gesandter zu Tagsatzungen und 1548 zum französischen König. Gleichzeitig steht er in französischen Diensten und erwirbt als erster Obwaldner den Titel eines Ritters. Ein bekanntes Muster beim Aufstieg in die Führungsschicht: das eine befördert wechselseitig das andere, politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich, militärisch.
Um 1546 lässt sich Niklaus Imfeld ein Haus bauen, wie es damals in Sarnen wenige gibt. Die Räume werden mit Fresken geschmückt, und Obwalden und Schwyz stiften Standesscheiben – für Imfelds Privathaus. An Reichtum, Macht und Reputation fehlt es dem Parteigänger Frankreichs nicht, an politischen Gegnern ebenso wenig. Einer von ihnen rät Imfeld: «Wann du nun din Huse ufmachest, so schryb denn daran: Zwing Underwalden.» Starker Tobak. Imfeld, erste Generation.
Der Stammvater der Sarner Imfeld, Niklaus, stiftet 1556 die Dorfkapelle. 100 Jahre später tut sich beim Neubau erneut ein Imfeld hervor. Der «Nebenaltar auf der Weiberseite» wird finanziert von Johann Imfeld (1609–1675), Urenkel des Stammvaters. Imfeld for ever.
Imfeld, zweite Generation. Marquard (um 1525–1591) stellt alle in den Schatten, vor und nach ihm. Wie sein Vater erreicht er alle wichtigen Ämter, einfach noch zahlreicher und öfter, so als Landammann und als Gesandter nach Frankreich. Insgesamt übernimmt er 113 Gesandtschaften. Zusätzlich wird er Landessäckelmeister und Pannerherr. Seine zweite Frau ist eine Wirz von Sarnen, die vierte eine Lussi von Stans. Wie das Haus Habsburg: «Du, glückliches Obwalden, heirate!» Auch Marquard erlangt die Ritterwürde. Mehr geht nicht. Ganz oben angekommen.
Wenn aus Holz, nicht aus Stein, soll das Haus erst recht eine stattliche Erscheinung sein. Ist es. Über einem steinernen Sockel erhebt sich eine prächtige Giebelfront mit drei Haupt- und zwei Dachgeschossen, unterteilt mit Klebedächern. Dass diese auf die tiefen Lauben hinausreichen, lässt den Bau noch breiter und mächtiger erscheinen. Die Balken im unteren Teil sind mit doppeltem Zahnfries und eingekerbten Kielbogen geschmückt. Soignez les détails.
Lange verharrte die Forschung über das «Reislaufen» bei den Söldnern und ihrem vermeintlich einzigen Motiv, der Armut. Heute ist der Ansatz umfassender. Im Zentrum steht ein komplexes Geschäftsmodell. Führende Familien vor allem der Zentralschweiz betreiben vom 16. bis ins 18. Jahrhundert den Handel mit Söldnern als Generalunternehmer, über Generationen hinweg, unter Mitwirkung auch von Frauen; diese ziehen in der Heimat oft die Fäden, organisieren, führen Buch und erweitern bei Heiraten das wichtige Netzwerk.
Neben zahlreichen Ämtern in Obwalden führt Marquard Imfeld vorrangig sein Soldhandelsgeschäft. Er lässt Söldner rekrutieren, ausrüsten, besolden und stellt sie als eigene, private Truppe dem französischen König zur Verfügung. Imfeld finanziert vor, wie in diesem Geschäft üblich, und wird vom Auftraggeber erst nachträglich bezahlt. Wie tückisch und kapitalintensiv das ist, dokumentiert ein Brief seines Schwagers, der sich in Frankreich um eine ausstehende Pensionszahlung kümmert, 300‘000 Goldkronen – eine horrende Summe.
Wie die Sache ausgeht, ist nicht bekannt. Fest steht: Imfeld betreibt ein Familien-Militärunternehmen, das international ausgerichtet ist, dabei zielstrebig die Vorzüge der Lage in der Heimat nutzt. Die Eidgenossenschaft ist geografisch eine Drehscheibe Europas und ihre damalige Neutralität, das «Stillesitzen», eine günstige Voraussetzung für gute Geschäfte. Die Imfeld sind nicht Ausnahme, sondern Modellfall. Das belegen die einheimischen Wirz und von Flüe, in Stadtorten etwa die Pfyffer in Luzern, die Erlach in Bern, in Landorten die Reding in Schwyz, die Zurlauben in Zug, die Tschudi in Glarus, die Salis im Bündnerland. Ein flächendeckendes System von Generalunternehmen.
Melchior Imfeld (1573–1622), dritte Generation Imfeld, Sohn von Marquard, Ämterlaufbahn typenähnlich wie bei Vater und Grossvater.
Als Melchior Imfeld erstmals mit seiner Wahl zum regierenden Landammann rechnen kann, verleiht er seinem Aufstieg Glanz und Würde, indem er den Estrich seines Hauses mit Gemälden vollständig ausmalen und so in einen Festsaal verwandeln lässt. Er folgt damit dem Beispiel seines Cousins Peter, vorn am Dorfplatz. Auch Melchior verpflichtet dafür den einheimischen Meister Sebastian Gisig (1573–1649).
Standesbewusstsein verlangt nach Repräsentation. Das Ergebnis ist die Selbstinszenierung einer Dynastie. In der Heimat wird sie zum Mittel, sich gesellschaftlich nach oben abzusetzen, in der Fremde ermöglicht sie, in höfischer Gesellschaft ebenbürtig aufzutreten. Die Renaissance, die «Wiedergeburt» der Antike, bietet dafür das passende Ambiente. Meister Gisig orientiert sich an Werken seiner Epoche, selbst an Raffael (1483–1520), und greift mit seinen Motiven in spätrömische Zeit zurück. Die Darstellung vom Sieg Kaiser Konstantins an der Milvischen Brücke im Jahr 312 n. Chr. mag in der Zeit der Gegenreformation den ersten christlichen Kaiser ehren. Über die religiöse Reverenz hinaus wird das Motiv jedoch zur ständischen Visitenkarte.
Imfeld, vierte Generation. Das Muster zieht sich durch, auch bei Johann Imfeld (1609–1675), der zur zweiten Sarner Linie der Imfeld gehört: Studium bei den Jesuiten in Luzern und Mailand, idealtypische Ämterlaufbahn, vom Papst zum Ritter erhoben, Militärunternehmer, nun aber für Spanien tätig, wie bereits sein Vater.
Der Urenkel des Stammvaters lässt sein Wohnhaus nicht mehr im Dorfkern errichten, sondern gegen den Sarnersee hin, am Fuss der Pfarrkirche. Wandmalereien bleiben ein Attribut vornehmer Lebensweise. Von besonderem Interesse: der Gartensaal, die Sala terrena.
Im 17. und 18. Jahrhundert kommen in Europa Gartensäle in Mode, ebenerdige Räume, vor allem in Schlössern. Was Fürsten recht ist, ist Johann Imfeld billig. Er lässt die Hofmatt mit einem Panoramazimmer ausstatten. Der Innenraum soll Bezug schaffen zum Aussenraum, die Landschaft ins Haus hereinholen. Ländliche Szenen reihen sich auf: ein Fischerboot auf dem Sarnersee, die Kapelle von Bruder Klaus im Ranft, die Kirche St. Niklausen, eine weidende Kuhherde, Hirten, die einen Abhang hinuntereilen.
Einfache Menschen, Bauern, Hirten, Schiffsleute. Sie gehören zu den zahlreichen Landleuten, die 1653 den geflohenen Anführern des Bauernkriegs aus dem Luzernbiet Zuflucht gewähren. Sie schützen die Geflüchteten vor dem Zugriff der Luzerner Obrigkeit, als diese den milden Friedensvertrag schändlich bricht und nach überstandenem Schrecken scheusslich wütet. Von ebendieser Obrigkeit in ebendiesem Krieg wird Johann Imfeld 1654 für seine Schiedsrichtertätigkeit beschenkt – mit dem Luzerner Stadtrecht. Herren zu Herren, Bauern zu Bauern.
Von 1548 bis 1699 sind neun Imfeld während 43 Amtsjahren Landammänner. Nur die Wirz behaupten sich mit acht Landammännern und 30 Regierungsjahren in der gleichen Kategorie. Die Reihe der Sarner Imfeld setzt sich fort bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts. 59 Vertreter des Geschlechts sind Geistliche, ein Imfeld wird Abt von Einsiedeln. Eine unerhörte Machtstellung.
Dabei hat in Obwalden die Landsgemeinde das letzte Wort, wie in den übrigen Landorten der Zentralschweiz, in Glarus und Appenzell. In Patrizierstädten – Bern, Luzern, Freiburg, Solothurn – regiert ein exklusiver Kreis führender Familien. Die Räte wählen sich selbst und bleiben lebenslang im Amt. In Zunftstädten – Zürich, Basel, Schaffhausen, St. Gallen – sind die Zünfte eine bestimmende Kraft. Doch auch hier kommt es seit dem 16. Jahrhundert zu einer Aristokratisierung.
Fazit: Das politische System je ganz anders, das Ergebnis überall ähnlich, Herrschaft der «hochgeachten, woledlen und gestrengen Ehrbarkeit».
Geschichte ist Projektion, Vorstellung, findet im Kopf statt. Nehmen wir die Vergangenheit unter die Füsse, kommt eine zusätzliche Qualität hinzu: das Sinnliche. Am Ort verweilen. Abwarten, was sich tut. Den Standort wechseln. Vergleichen und gegenüberstellen. Abstände von Bauten nicht nur räumlich wahrnehmen, sondern auch als Zeichen für Nähe und Ferne. Sichtachsen als Fenster begreifen. Volumen und Auftritte von Häusern auf sich wirken lassen. Die Atmosphäre zu erfassen versuchen. Geschichte ist unteilbar.
Für Erkundungen im Massstab 1:1 gibt es viele Rezepte. Wichtiger als ein bestimmtes Vorgehen ist «nochmals», das erneute Hingehen, zweimal, fünfmal, zehnmal. Schicht um Schicht kommt neu dazu, lagert sich ab, erweitert den Horizont. Dazwischen die erstaunte Frage, warum uns dies und jenes nicht schon früher aufgefallen ist. Immer wieder die Freude zu entdecken, oft auch zu finden, wonach wir gar nicht gesucht haben.