Heroisch, deshalb ungewohnt für unsereins: Ein Helden-Bébé wird in einen Schild gelegt statt in eine Wiege, wie es sich gehört. Prompt nähern sich zwei grässliche Schlangen. Sie ahnen allerdings nicht, was ein angehender Held seinem künftigen Ruhm schuldig ist. Zwei Bébé-Händchen, zwei Ungeheuer – erdrosselt. Sein Name: Herakles, Sohn des Zeus und der Alkmene, einer Königin von Theben. Die Römer werden ihn später Hercules nennen.
Als Jugendlicher gelangt Herakles an einen Scheideweg. Zwei Frauen kommen ihm entgegen. Die eine wird von ihren Freunden Glückseligkeit genannt, von ihren Feinden jedoch Laster. Leicht verwirrlich, weil komplex: es ist dieselbe Frau. Die andere ist eindeutig, kennt kein Wenn und Aber, erklärt: Ohne Fleiss kein Preis! Herakles muss wählen. Das heisst: Er hat keine Wahl. Wie könnte sich ein Held, der später in den Olymp aufgenommen wird, für das süsse Nichtstun entscheiden! Alles andere als der beschwerliche Weg der Tugend und Tatkraft, hin zu Ehre und Bewunderung, ist ausgeschlossen. Vorläufige Bilanz: Eine eher spezielle Kindheit und Jugend. Doch es kommt weit gröber.
Hera, die Göttermutter, verzeiht ihrem Gatten Zeus nicht, dass er den jungen Helden mit einer anderen Frau gezeugt hat. Deshalb macht sie Herakles das Leben schwer, schlägt ihn gar mit Wahnsinn. Der Umnachtete wirft seine zwölf Kinder ins Feuer und kann sich danach von seiner Verdammnis nur befreien, wenn er zwölf Aufgaben löst, für jedes Kind eine.
Als Erstes soll Herakles das Fell des Nemeïschen Löwen herbringen. Das Untier haust in den Wäldern des Peloponnes, unverwundbar, Pfeile prallen ab, Keulenschläge sind für die Katz. Was noch bleibt: würgen. Na also, geht doch. Aus dem Fell macht sich Herakles einen schützenden Umhang, aus dem Löwenkopf eine Helmzier. Als der Auftraggeber von der bestandenen ersten Probe hört, ergreift ihn solche Angst, dass er Herakles nicht mehr zu sich vorlässt. Ein Bote soll ihm die weiteren elf Aufgaben übergeben – ausserhalb der schützenden Stadtmauer.
Held und Ungeheuer im Kampf auf Leben und Tod. Leuchtet allerdings bei der Skulptur aus Dura Europos nicht ein. Handelt es sich nicht eher um ein älteres Ehepaar, das nach einer anstrengenden Ballnacht müde seinem Heim zustrebt, beide noch immer als Löwen verkleidet, der Mann in bedrohlicher Schieflage, die gutmütige Frau, allmählich doch etwas genervt, sichtlich auf die Zähne beissend, dennoch tapfer dagegenhaltend? Als Statue mögen die beiden etwas plump und unbeholfen wirken. Gesichter, Körper, Beine, manches ginge kunstvoller – aber eindrücklicher?
Doch, es gibt ihn noch, den Kampf echter Kerle. Herakles und der Nemeïsche Löwe sind derart ineinander verkeilt, dass sie auf den ersten Blick kaum auseinanderzuhalten sind. Allmählich wird die linke Vordertatze des Löwen über dem Bein von Herakles erkennbar, dazu sein rechter Arm, vielleicht das Gesicht des Löwen, seine Mähne, die Muskeln am Vorder- und Hinterleib. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Kämpfenden farblich stärker voneinander abzuheben. Der Künstler wollte das Gegenteil.
Auch die zweite Aufgabe, so meinen wir unbedarft, müsste selbst einen Helden das Fürchten lehren. In den schwer zugänglichen Lernäischen Sümpfen im Süden Griechenlands soll Herakles die Hydra unschädlich machen. Doch wie denn? Als ob ein einziger Kopf dieser Wasserschlange nicht schon Unheil genug verspräche, besitzt die Hydra deren neun, und wird ihr einer dieser neun Köpfe abgeschlagen, wachsen sofort zwei nach. Einmal an Land gekommen, reisst das Ungeheuer ganze Viehherden.
Wie die Hydra mit neun Hälsen schlinkert und schlenkert, macht uns selbst nach zweieinhalbtausend Jahren noch kirre. Grandios. Lässt sich eine Schlange böser und bedrohlicher darstellen? Dazu dieser Farbkontrast! Dass die Göttermutter Hera dem Scheusal einen riesenhaften Krebs zu Hilfe schickt, der den Helden in den Fuss beisst (unten links), ist verlorene Liebesmüh. Herakles kennt nix.
Simultan-Attacken haben es in sich, erst recht, wenn lähmendes Gift mit im Spiel ist und jeder tapfere Teilsieg über das Untier dessen Gefahr verdoppelt. Arbeitsteilung ist vonnöten, ein Gehülfe muss her. Herakles schlägt der Hydra die Köpfe ab, derweil sein Neffe Iolaos die Hälse mit glühenden Baumstämmen ausbrennt, damit nicht alsbald zwei Köpfe nachwachsen. Der treue Gefährte hat zu diesem Zweck ein ganzes Wäldchen in Brand gesteckt. Nötig gewesen wären doch bloss neun Stämme.
Da ist ein Stall mit 3000 Rindern, dreitausend, seit Jahren nicht mehr gesäubert. Was eine derartige Anzahl Rindviecher für ein Quantum an Mist produziert, geht auf keine Kuhhaut. Diesen Stall soll Herakles reinigen, und zwar in einem einzigen Tag – nach damaliger Ansicht erneut eine unlösbare Aufgabe. Kommt dazu, dass Mist für einen Sohn von Zeus kaum der adäquate Werkstoff ist. Was kümmert das den! Herakles bricht das Fundament des Stalls auf und leitet zwei Flüsse durch die Rinderbehausung. Voilà, von wegen unlösbar. Aber auch jetzt mäkelt der Spielleiter, die Reinigung sei dem Wasser zu verdanken, nicht Herakles. Kläffer gibt es seit der Antike, sie sind sozusagen klassisch.
Drei Aufgaben genügen. Dass Herakles auch die restlichen neun erfolgreich erledigt, ist unumgänglich. Dabei geht es um einen Eber und einen Stier, die Land verwüsten, so weit das Auge reicht, ferner um Vögel, die eiserne Federn als todbringende Pfeile abschiessen, um Rosse, die Menschen fressen – nicht zu vergessen das Niederringen des dreiköpfigen Höllenhunds Cerberus, dessen Name zum Ehrentitel jedes tüchtigen Fussballtorhüters wird, der seinen Kasten bewacht wie weiland der Höllenhund den Eingang zur Unterwelt.
Einige der animalischen Gegner verkörpern die lebensbedrohliche Natur. Diesen Dienst für andere leistet Herakles aber nebenher. Fokussiert ist er auf sich und seine Aufgaben, wofür ihm unermessliche Kräfte zur Verfügung stehen. Ein bloss egozentrischer Kraftprotz ist er indes nicht. Allein mit Muskelkraft lässt sich eine Hirschkuh, die so schnell flieht wie der Wind, nicht einfangen. Es fehlt Herakles weder an Geschick noch an Geduld. Ein ganzes Jahr lang setzt er dem Tier nach.
Dennoch: Ein Ehrenkodex im Sinn einer heldischen Moral, wie sie Homer dem Achilleus, Anführer der Griechen im Trojanischen Krieg, zuschreibt, ist nicht auszumachen. Freundschaft, Empathie, Grossmut? Fehlanzeige. Kopf und Hand ja, Herz weniger. Ganz ohne Herz kann Herakles aber nicht sein. Wie sonst könnte er es in der Folge verlieren?
Neues Ungemach ist im Anzug. Dabei zeigt sich, dass Helden, Halbgötter, ja selbst Götter in jenen Zeiten nicht allmächtig sind. Auf das Schicksal haben sie keinen Einfluss. Hin und wieder bricht es entfesselt über sie herein.
Herakles hat im Jähzorn einen Mord begangen und muss als Sühne nun Sklavenarbeit verrichten. Als Sklave wird er an die Königin von Lydien verkauft, Omphale. Herakles leidet, schmachtet, verliert die Besinnung – doch nicht etwa, weil er für den Schutz des lydischen Reiches zu sorgen hat, sondern weil er sich unsterblich in Omphale verliebt.
Dass sich der Held im Delirium befindet, zeigt sein umflorter Blick, den er gar nicht auf Omphale richtet, sondern in eine unbestimmte Ferne. Im Gegenzug würdigt ihn seine Angebetete, erkennbar an ihrem affektierten Kopfputz, keines Blicks. Von wo und wannen er ist und wie ihm geschieht, weiss Herakles nicht mehr. Widerstandslos hat er sich das Fell des Nemeïschen Löwen abnehmen lassen. Stattdessen setzen ihm zwei Dienerinnen eine weisse Frauenhaube auf. Zuvor haben sie ihm einen Spinnrocken in den Arm gelegt, dazu Faden und Spinnwirtel in die Hände gegeben. Was für eine doppelte Verhöhnung! Höchststrafe Nummer 1: Held in Frauenkleidern, Höchststrafe Nummer 2: Held verrichtet Frauenarbeit.
Die Wertschätzung der Frau im freien Fall? Umgekehrt: Femina triumphans, zumindest auf diesem Gemälde, das allerdings die reale Geschlechterhierarchie der Renaissance auf den Kopf stellt. Gerade dieser Sachverhalt mag das Bild schon bei seiner Entstehung so beliebt gemacht haben: die listige soziale Umkehrung in Vollendung, der Mann als Spielball der Frau.
Das Gemälde göttlich, das Thema menschlich, Fazit: ein Renner. Bestellungen treffen aus allen Himmelsrichtungen ein. Auf die lebhafte Nachfrage antwortet Lucas Cranach mit einer Geschäftstüchtigkeit, die seiner Malkunst in nichts nachsteht. Er stellt begabte Gesellen ein, und nach Anweisungen und Gemäldevorlagen von ihm und seinen Söhnen lässt er sie Serien ähnlicher Bilder anfertigen.
Das Erfolgsrezept: nicht bloss Kopien, eher «tema con variazioni». Kein Werk ist wie das andere, auch die Formate unterscheiden sich je nach Auftraggeber. Ein subtiles Mittelding zwischen Kopie und Unikat. Entscheidend für viele beim Kauf eines Bildes: des Meisters Güte-Siegel, winzig klein, drachenähnlich, geflügelt, die «Cranach-Schlange».
Herakles, à discrétion: einmal nachdenklich oder geistig abwesend, sodann scheinbar verschmitzt mitspielend, darauf komplett im Delirium, schliesslich, Christus nachempfunden, als Trophäe einer lässig triumphierenden Dienerin. Omphale, dreimal ganz unterschiedlich, kann auf einem Bild auch einmal fehlen. Die Dienerinnen sind, je nachdem, zu zweit oder zu dritt. Rebhühner an der Wand hat es deren zwei, fünf oder gar keine. Ähnlich, aber nie gleich.
Herakles hat einen langen Weg hinter sich, vor allem unter seinem lateinischen Namen Hercules, von der Antike über die Renaissance zum Klassizismus und vom Historismus bis in die Gegenwart (Zwischenstation). Wie er das schafft? Jede Nacht ruht er sich aus, im Sternenzelt.
Zuerst waren die Sagen. Daraus wurden Skulpturen, Objekte, Gemälde. Die älteste hier vorgestellte Repräsentation eines antiken Mythos reicht zurück ins 6. Jahrhundert v. Chr. Zweieinhalbtausend Jahre sind ein abgründiges Alter. Vollends in Bann ziehen uns der Sinngehalt und die Ausdruckskraft der Werke. An die kunstgeschichtlichen Interpretationen reihen sich die zeitgenössischen Actionfilme und Graphic Novels des letzten Jahrzehnts. Willkommen im Musée imaginaire!
Vielfach spiegeln sich in den griechischen Sagen zeitlose Träume der Menschheit. Was, wenn wir wie Herakles die Welt vor Unglück und Leid bewahren könnten? Heldenlieder sind jedoch mit Vorteil zweistimmig zu singen. Neben der oberen, hellen Stimme gibt es in aller Regel eine untere, dunkle. Herakles lässt zweistimmig grüssen.
Worum geht es im Kern? Die antiken Mythen konfrontieren uns mit einer Fülle archetypischer Konstellationen, Charaktere, Motive. Umrisse der Conditio humana zeichnen sich ab, darin unzählige Hypothesen über uns. Beim Einblick in diesen Kosmos ahnen wir, woher wir kommen und wer wir sind.