Herr Poespodihardjo, ist Sex- und Pornosucht eigentlich dasselbe?
RENANTO POESPODIHARDJO: Bei der Sucht nach Sex meint man
meistens die Sucht nach pornografischem Sex. Jemand, der pornosüchtig
ist, konsumiert so häufig Pornografie, dass sein Verhalten
Auswirkungen auf das normale Alltagsleben, auf den Job oder auf die
Beziehungen hat. Pornografiesucht kann psychisch krank machen und zu
Depressionen führen.
Ab wie häufigem Pornokonsum spricht man von einer Sucht?
Dafür gibt es keine feste Berechnungsgrundlage. Wenn ein Paar zweimal täglich miteinander Sexualität geniesst und dies für sie das Schönste der Welt ist, ist das völlig in Ordnung. Die Absprache mit dem Partner ist wichtig und ob sich die Menschen in ihrem Verhalten wohl fühlen. Wenn aber die Häufigkeit des Konsums der Person selbst und seinem Umfeld Schaden zuführt, dann ist ein wichtiges Suchtkriterium erfüllt. Die Sucht beginnt, wenn ein Verhalten wiederholend schädigend ist und die Person das nicht mehr stoppen kann.
Was heisst das, man kann es nicht mehr
stoppen?
Dass man zum Beispiel während der
Arbeitszeit Pornos schauen muss und damit den Job gefährdet. Oder
dass man zum Masturbieren Orte aufsucht, die man eigentlich
unangenehm findet. Derzeit werde ich auch öfters von Klienten
kontaktiert, die es nicht aushalten, ins Schwimmbad zu gehen, weil es
dort so viel nackte Haut zu sehen gibt. Problematisch wird auch, wenn
das Sexualverhalten gesundheitsschädigend wird. Beispielsweise, wenn
jemand oft mit wechselnden Partnern Sex hat, ohne sich dabei zu
schützen.
Wie unterscheidet sich Pornosucht von
anderen Süchten?
Anders als Alkohol- oder Drogensucht,
werden bei der Pornosucht keine Stoffe eingenommen. Der Körper wird
anders aufgeputscht. Mit körpereigenen Mitteln, sozusagen. Mit der
Erregung, Euphorie und dem Rausch werden innere Empfindungen betäubt.
Das können psychische Schmerzen sein, Depressionen, Angststörungen
oder eine erhöhte Lebensbelastung, die erleichtert ausgehalten
werden, wenn man sich zurückzieht und einen Porno konsumiert.
Das heisst, wenn
jemand pornosüchtig ist, liegt meist schon eine psychische Krankheit
oder ein innerer Schmerz vor, der mit dem Rausch betäubt werden
will?
Nein, das muss
nicht sein. Oft ist es so, dass ein innerer Schmerz, eine Belastung
vorliegt und über die Selbstmedikation von Substanzen, über das
Glücksspiel oder Pornografie kompensiert werden. Es gibt aber auch
Menschen, die kerngesund sind aber in einen Strudel geraten. Zum
Beispiel wenn einer das erste Mal ins Casino geht und dort viel Geld
gewinnt und sich das Glücksgefühl gut anfühlt. Dann geht er wieder
hin und gewinnt nochmals. Und nochmals. Bis er verliert, sich
verschuldet und seinen Job verliert.
Ist heute Pornosucht verbreiteter als
früher?
Es gab schon immer Menschen, die
süchtig nach Sex waren. Doch als noch Sexheftchen konsumiert wurden,
war die Suchtgefahr deutlich geringer. Das Heft war teuer und wenn man
es durchgeblättert hat, war es fertig. Heute ist Pornografie ständig
und vor allem gratis verfügbar. Für den Konsum kann man sich
unbeobachtet in die eigenen Räume zurückziehen. Bei Xhamster, Youporn und dergleichen kann ein Videoclip nach dem anderen
abgespielt werden. Es gibt Videovorschläge, die zum Suchprofil
passen. Diese Faktoren haben die Suchtgefahr von Pornos erhöht.
Wer ist gefährdet, süchtig nach
Pornos zu werden?
Youporn oder Xhamster gehören zu den weltweit am häufigsten angeklickten Internetseiten der Welt. Unglaublich viele Menschen schauen sich Pornos an. Es gibt kaum ein Mann, der keine Pornos schaut und auf drei bis fünf konsumierende Männer kommt eine Frau. Eine Sexsucht kann jeder entwickeln, der eine höhere Verletzlichkeit dafür aufweist.
Wie verbreitet ist die Krankheit in der
Schweiz?
Die Zahlengrundlage ist nicht stabil.
Man geht zwischen drei bis sechs Prozent der Bevölkerung aus, die
ein hypersexuelles Verhalten aufweist. Die allermeisten Betroffenen sind Männer. Es gibt mehr Menschen, die pornosüchtig sind, als solche die abhängig sind nach Geldspielen.
Das ist eine grosse Zahl. Doch nur ein ganz kleiner Teil lässt sich
tatsächlich therapieren.
Aus Scham?
Ja klar. Sex und Pornos sind Tabuthemen
und die Sucht danach umso mehr. Wenn jemand sich entschliesst eine
Therapie zu machen, dann hat er meist schon eine lange Leidenszeit
hinter sich. Ein anderes Problem ist, dass viele, die zu mir in die
Therapie kommen, gar nicht sexsüchtig ist.
Sondern?
Sie haben Beziehungsprobleme. Oder
zumindest Probleme in der Beziehung, weil sie Pornos konsumieren und
es nicht diskutieren können.
Wie gefährlich ist Pornosucht?
So gefährlich, wie jede andere Sucht,
die chronisch ist und die dazu führt, dass man sein Leben nicht mehr
normal führen kann. Wenn man nicht mehr zur Arbeit gehen kann, weil
man zwanzig Mal pro Tag masturbieren muss, ist das schlimm. Sexsucht
hat ein hohes Gefährdungspotential. Und sie kann auch zu erhöhtem
Alkohol-, Drogenkonsum, zu Angst und Depressionen führen.
Inwiefern beeinflusst Pornosucht die
Sexualität in der Partnerschaft?
Auf vielfältige Art und Weise. Sexsucht ist eine Erkrankung, die eine intime, verbindende, lebensbejahende partnerschaftliche Sexualität stark belastet bis verunmöglicht. Bei Pornosucht findet die Sexualität singulär und nicht in der Partnerschaft statt. Das führt zu einer Isolierung.
Was kann man gegen Pornosucht tun?
Der wichtigste Schritt ist das Aufsuchen eines Fachpsychologen oder Facharztes und das Lernen darüber zu sprechen. Dann müssen die auslösenden und aufrechterhaltenen Umstände der Sucht ermittelt und aufgezeigt und behandelt werden. Wenn die Pornosucht zu einer Depression geführt haben, muss auch die erkannt und behandelt werden.
Wie gross sind die Therapieangebote in
der Schweiz?
Leider klein. Es gibt viele Fachpersonen, die sich mit sexuellen Funktionsstörungen beschäftigen. Es gibt Gynäkologen, Urologen, Sexualtherapeuten, et cetera. Aber Fachpersonen für Sexsucht gibt es erst wenige. Wenn man bedenkt, wie viele Leute in der Schweiz sexsüchtig sind, braucht es dringend eine Sensibilisierungskampagne und mehr Einrichtungen für Therapien.