
Sag das doch deinen Freunden!
«Du bist also mono?», werde ich gleich zu Beginn des Abends von Jürg gefragt. «Ja», antworte ich. «Du hast also nur einen Freund.» «Richtig», antworte ich wieder kurz und knapp, während mich mindestens fünf Personen ungläubig anschauen. Dann platzt es aus mehreren von ihnen heraus: «Und das soll glücklich machen!?» Schnell wird klar: In dieser Runde bin ich ein echt schräger Vogel.
Und das ist auch der Grund, warum sich diese bunte Truppe regelmässig zum Feierabendbier, oder auch mal für ein ganzes Wochenende, trifft: Weil sonst sie die schrägen Vögel sind, die sich für ihre Art zu leben – und vor allem zu lieben – rechtfertigen und erklären müssen. Hier sind sie unter Gleichgesinnten, können Erfahrungen austauschen und über ihre Probleme reden.
Dass diese Probleme – und damit die Art und Weise, Polyamorie zu leben – durchaus sehr verschieden sein können, zeigen die folgenden vier Liebes-Geschichten.
«Viele Leute meinen, Polyamorie bedeute, dass man sich einfach wild durch die Weltgeschichte vögelt», setzt Micha an, um mir das Konzept ihrer Beziehung zu schildern, als seine Freundin Sibylle lachend hinzufügt: «Das habe ich früher aber auch gedacht.» Mit «früher» meint die junge Frau alles, was bis letzten Sommer gewesen ist. Damals hat sie zum ersten Mal an einem Polyamorie-Wochenende teilgenommen – und dort auch Micha kennengelernt.
«Ich war einfach neugierig und habe dort erfahren, dass das ziemlich genau das Konzept beschreibt, was ich seit Jahren lebe», erklärt die 38-Jährige. Sie habe ein relativ grosses Netz von Menschen, die sie liebe. Das sei nicht immer unbedingt mit körperlicher Nähe verbunden – machmal aber schon. Mit einer Frau aus diesem «Netz» hat Sibylle damals an dem Wochenende teilgenommen.
Ob Micha bei ihrem Kennenlernen single gewesen ist, möchte ich von dem Pärchen wissen. «Ja», sagt er. Und sie sagt: «Nein». Schnell wird klar, dass Begriffe wie «single» oder «vergeben» in dieser Runde eigentlich gar keinen Sinn ergeben. «Da wir für weitere Beziehungen offen sind, sind wir sozusagen immer single – obwohl wir verlobt sind», erklärt Micha.
Klingt irgendwie logisch. Aber wie funktioniert das Ganze praktisch? Bis jetzt wohnen die Schweizerin und der Deutsche noch in getrennten Wohnungen, aber das soll sich bald ändern: «Wie wir das genau regeln, werden wir dann sehen. Wir ziehen jedenfalls zusammen und jeder von uns wird sein eigenes Zimmer haben», erklärt Sibylle.
Und das soll ganz ohne Eifersucht vonstattengehen? «Ich bin nicht eifersüchtig auf Michas Freundinnen. Im Gegenteil, ich würde sie unheimlich gerne kennenlernen und ganz fest knuddeln, weil ich ja sehe, wie glücklich sie meinen Verlobten machen und das macht wiederum mich glücklich», so Sibylle.
Dennoch mache man sich in gewissen Situationen so seine Gedanken: «Siehst du den Mann mit dem blauen Pullover da drüben? Das ist Thomas*. Er und ich sind uns letztes Wochenende bei einem Poly-Treff näher gekommen – während Micha im selben Raum war.» In solchen Momenten frage sie sich schon, wie sich das für ihren Partner anfühle und ob sie ihm damit nicht weh tue. Aber in solche Situationen würde man eben gemeinsam hineinwachsen.
Bei Jürg spielt Eifersucht eine deutlich grössere Rolle. Er ist seit 25 Jahren mit seiner Frau zusammen, 1997 haben die beiden geheiratet. Doch nur in den ersten beiden Jahren war seine Frau ausschliesslich mit Jürg zusammen. Seitdem pflegt sie neben ihrer Ehe jeweils noch mindestens eine weitere Beziehung.
Es hat lange Zeit gedauert, bis Jürg sich an diese Situation gewöhnen konnte: «Vor drei Monaten habe ich meiner Frau, als sie wieder mit ihrem Freund verabredet war, zum ersten Mal von Herzen viel Spass wünschen können. Ich habe mich richtig für sie gefreut und war in dem Moment auch kein Stück eifersüchtig.»
Doch warum tut man sich das an, wenn es doch offensichtlich immer wieder wehtut? «Für mich ist die Erklärung ziemlich einfach: Was wäre es denn für eine Liebe, wenn ich meiner Frau ihr Liebstes verbieten würde?» Nach diesem Motto lebt Jürg nun also seit rund zwei Jahrzehnten.
Folgendes Bild nutzt er, um seine Situation zu beschreiben: «Wenn ich im Zoo durch eine Glasscheibe ein Reh betrachten kann, dann ist das ein schöner Moment. Wenn ich dasselbe Reh aber in freier Natur anschauen kann, wo es theoretisch jeden Moment wegspringen könnte, es aber trotzdem bei mir bleibt, ist das doch viel schöner.»
Ausserdem habe die Polyamorie durchaus ihre Vorteile: In Jürgs Augen entwickeln sich Menschen durch ihre Partner weiter und das treffe auch auf seine Frau zu. «Das macht wiederum die Beziehung zwischen ihr und mir spannender. Wir haben zudem ein erfülltes Sex-Leben und verhalten uns bis heute wie frisch verliebt. Das können wohl nur wenige Paare nach so vielen Jahren Ehe von sich behaupten.»
Theoretisch würden für Jürg dieselben Regeln gelten wie für seine Frau. Nutzen konnte er das bis jetzt aber nicht. «Wenn, dann will ich nicht einfach nur irgendeine Affäre oder so, sondern eine Frau, die ich richtig liebe.» Die habe er bisher aber nicht finden können. Das sei auch ein Grund, warum er heute Abend hier sei: «Hier habe ich vielleicht die Chance, eine Frau zu finden, die mit Polyamorie etwas anfangen kann.» Denn die meisten Frauen seien sofort abgeschreckt, wenn er ihnen erzähle, dass er verheiratet sei. «Selbst wenn ich ihnen sage, dass das für meine Frau völlig okay ist, rennen die meisten weg.»
Nach ein paar Gesprächen stellt sich heraus, dass viele der Teilnehmer einander schon kennen. Sie besuchen regelmässig Poly-Stammtische, egal ob dieser gerade in Bern, in Basel oder Zürich stattfindet. Doch von den rund 30 Leuten, die heute hier das lockere Beisammensein geniessen, sind viele zum ersten Mal da. So auch Gabriela. Für sie ist die Polyamorie ganz offensichtlich noch Neuland. Sie ist auf der Suche nach Antworten – und nach sich selbst.
Wenn sie ihre Geschichte erzählt, spricht sie leise, hält immer wieder schützend die Hand vor den Mund, wenn sie schlüpfrige Details preisgibt. Sie möchte sich das, was gerade mit ihr passiert, ganz offensichtlich von der Seele reden, fühlt sich aber ebenso offensichtlich nicht ganz wohl dabei. Kein Wunder, denn sie hat mit einem mächtigen schlechten Gewissen zu kämpfen. Das spürt man deutlich – auch wenn sie selbst meint, dieses längt überwunden zu haben.
Und das ist ihre Geschichte: Gabriela ist seit über 20 Jahren mit ihrem Mann verheiratet, lange Zeit lebten die beiden eine monogame Beziehung. Bis Gabriela zum erstem Mal fremdgegangen ist. Aus diesem einen Seitensprung wurden zwei – und daraus immer mehr. Heute hat sie neben ihrem Mann noch zwei weitere Beziehungen. Oder drei, so ganz genau kann sie das gerade nicht sagen. Das Problem: Die 49-Jährige hat ihren Ehemann nie eingeweiht. «Ich denke schon, dass er es weiss. Aber wenn, dann verdrängt er es.»
Eine Trennung kommt für Gabriela nicht in Frage, schon allein aus finanziellen Gründen. Die beiden besitzen ein gemeinsames Haus. Ausserdem will sie ihren Mann nicht verletzen. «Sex haben wir schon seit Jahren keinen mehr, also nehme ich ihm ja auch nichts weg.» Von ihrem Frauenarzt hat Gabriela erfahren, dass die Wechseljahre oft mehr bedeuten als nur den Wegfall der Periode und das Auftauchen von Schweissausbrüchen. Die hormonellen Veränderungen nutzt Gabriela nun auch als Erklärung für den emotionalen – und sexuellen – Ausbruch aus ihrer Ehe.
Mit ihrer Geschichte steht Gabriela in starkem Kontrast zu all dem, was ich sonst an diesem Abend erfahre. Denn während sie – vor allem ihrem Mann gegenüber – ein Geheimnis aus ihrer Lebensweise macht, sprechen alle andere immer wieder ihr Plädoyer für Ehrlichkeit und Offenheit aus. «Damit eine polyamouröse Beziehung funktionieren kann, sind Vertrauen und Ehrlichkeit ein absolutes Muss», bekomme ich immer wieder zu hören.
Ein perfektes Beispiel dafür liefern Neno (oben rechts im Bild) und Ruth, die ich ebenfalls an diesem Abend in Bern treffe. Weil ihre Liebesgeschichte ein bisschen kompliziert ist, habe ich eine Skizze zur Veranschaulichung angefertigt:
Neno und Ruth lieben also beide ausschliesslich ihre festen Partner. Sprich: Neno liebt Anna* und Ruth liebt Jean*. Jean und Anna sind aber ebenfalls ein Paar und Anna pflegt zudem manchmal auch noch weitere Beziehungen, wie bis vor einiger Zeit zu Reto*.
«Wir sind monogam, aber polyamourös orientiert», erklären Neno und Ruth. Beide haben auf sehr verschiedene Weise ihren Weg in dieses polyamouröse Geflecht gefunden: Als Neno vor zweieinhalb Jahren Anna kennenlernt, macht diese ihm ziemlich schnell klar, was Sache ist und dass sie nur unter diesen sehr offenen Bedingungen für eine Beziehung zu haben ist. Neno findet diese Idee sehr ansprechend und ist sofort einverstanden.
Ruth dagegen hat mit ihrem Mann Jean lange Zeit in einer gänzlich monogamen Beziehung gelebt. Bis sich Jean vor fünf Jahren in Anna verliebt hat. «Das gab als erstes Mal einen riesigen Knall und ein grosses Drama», erinnert sich Ruth. Nach vielen Gesprächen und Zeit, die die Wunden heilte, entschied sich das Paar für das neue Beziehungsmodell. Und Ruth ist darüber bis heute sichtlich glücklich.
Wie sie die Sache mit der Eifersucht handelt? «Eifersucht bedeutet doch nur, dass man neidisch ist oder sich ausgegrenzt fühlt. Und dieses Gefühl hat nichts mit der Gegenwart zu tun. Es ist viel mehr ein Zeichen für etwas, was in der Vergangenheit passiert ist und viel tiefer sitzt», erklärt Ruth. In gewissen Momenten pikse es schon ein bisschen, dann mache sie sich aber ganz schnell klar, dass der Grund für dieses Gefühl bei ihr selbst liege.
Wie auch Jürg stünde es Neno und Ruth durchaus zu, ebenfalls weitere Partner zu haben. Und dies wäre auch für beide eine denkbare Option – die Gelegenheit hat sich jedoch bisher nicht geboten. «Natürlich würde ich mich auch gerne mal wieder verlieben, aber das passiert eben nicht einfach so», meint Ruth – und Neno stimmt ihr zu.
Nach vielen Gesprächen, zahlreichen Aha-Momenten und grosser Verwirrung ob der verworrenen Beziehungskonstellationen mache ich mich auf den Heimweg. Als ich mich hinter den Stühlen der anderen vorbei zwänge, um meine Sachen zu holen, sage ich: «Ich suche meine Jacke!» Da grinst mich Jürg an und meint: «Viktoria, du weisst doch, bei uns gibt es nicht meine Jacke», worauf der Rest des Tisches einstimmt: «Bei uns gibt es nur unsere Jacke!»
* Namen von der Redaktion geändert