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Flüchtlingshilfe: «3000 könnten bei Privaten wohnen»

Der Kanton Waadt ist einer der unkomplizierteren Kantone, was die Unterbringung von Flüchtlingen betrifft. 
Der Kanton Waadt ist einer der unkomplizierteren Kantone, was die Unterbringung von Flüchtlingen betrifft. 
Bild: KEYSTONE

«In der Schweiz könnten locker 3000 Flüchtlinge bei Privaten platziert werden – damit würden wir pro Jahr 72 Millionen sparen»

Plötzlich bieten gleich mehrere Kantone Hand bei der Platzierung von Flüchtlingen in Familien. Woher dieses Umdenken kommt und welches Potenzial darin steckt, erklärt Stefan Frey von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. 
06.10.2015, 08:0307.10.2015, 07:53
Felix Burch
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Die Kantone wollten lange keine Flüchtlinge bei Privaten platzieren. Jetzt scheint dies plötzlich möglich. Hat tatsächlich ein Umdenken stattgefunden? 
Stefan Frey: Ja. Noch vor einem Jahr waren die Kantone daran nicht interessiert, offenbar war der Leidensdruck zu klein. 

Was heisst das?
Das bedeutet, dass die Kantone bisher genügend Unterbringungsmöglichkeiten für Flüchtlinge hatten. Durch die Neuankömmlinge hat sich die Situation jetzt aber verändert und in Städten, die einen Leerwohnungsbestand von unter einem Prozent haben, gibt es schlicht keinen Platz mehr, um Flüchtlinge unterzubringen. Deshalb ziehen mehrere Kantone nun das Platzieren bei Privaten in Betracht.  

Stefan Frey von der Flüchtlingshilfe.
Stefan Frey von der Flüchtlingshilfe.
Diese Städte und Kantone machen mit
Basel-Stadt hat in der Schweiz eine erste offizielle Stelle geschaffen, die Angebote von Freiwilligen für Flüchtlinge koordiniert. Die Kantone Schaffhausen und Freiburg haben bereits einzelne Flüchtlinge bei Familien platziert, wie der «Tages-Anzeiger» schreibt. Zudem steht die Schweizerische Flüchtlingshilfe mit den Kantonen Aargau, Bern, Genf und Waadt in Kontakt. Gemäss Mediensprecher Stefan Frey zeigen auch die Kantone Luzern, Zug und Solothurn Interesse an der Privaten Unterbringung. Weiter hätten die Städte St. Gallen und Zürich angekündigt, Gastfamilienprojekte zu starten. (feb)

Es kursieren verschiedene Zahlen. Wie viele Schweizer Familien haben bisher tatsächlich Flüchtlinge bei sich aufgenommen? 
Wir von der ​Schweizerischen Flüchtlingshilfe konnten bis jetzt bei 15 Familien Flüchtlinge unterbringen. Im Ganzen sind es aber einige mehr. Im Kanton Waadt etwa platzieren wir pro Woche bei mindestens einer Familie Flüchtlinge. Die Westschweizer Kantone sind übrigens einiges unkomplizierter als die Deutschschweizer Kantone. 

«Flüchtlinge, die bei Privaten einen Platz finden, integrieren sich viel schneller.»

Das sind ja extrem wenige. Kann man da wirklich von einem Umdenken sprechen?
Ja, die Zahl ist zugegebenermassen noch tief. Doch bis vor Kurzem war bei uns mit Privaten überhaupt nichts möglich. Unser Asylsystem ist viel zu kompliziert und in jedem Kanton anders. Allerdings haben wir alleine im September 300 Angebote von Privaten erhalten. Dazu kommen 500 Angebote aus den Monaten zuvor.

Wie viel Potenzial hat das Ganze? Was für eine Zahl ist realistisch?
Wir wollen ein Netzwerk mit 500 Privaten aufbauen. ​Dieses Netz soll je nach Bedarf aktiviert und bis zu 1500 Flüchtlinge aufnehmen können. Das Potenzial ist aber noch viel grösser. Es ist nicht vermessen zu sagen, dass wir in der Schweiz locker 3000 Menschen aus dem Asylwesen bei Privaten einen Platz bieten und sie dadurch besser integrieren könnten. 

Wärst du bereit, vorübergehend einen Flüchtling oder eine Flüchtlingsfamilie bei dir aufzunehmen?

Warum ist die Integration bei Privaten effektiver?
Weil es wichtig ist, Flüchtlinge sofort zu integrieren. Kommen sie früh zu einer Familie, ist dies einfacher. Sie haben Kontakt zu Einheimischen, sehen, wie man bei uns lebt. Diese Bedingungen sind besser für eine Anstellung. In den Asylzentren hingeben sind sie vor allem am warten und unter sich. In diesem Milieu ist eine rasche Integration schwierig. 

«Das, was jetzt im Gange ist, ist nicht einfach ein kurzfristiger Hype, das ist eine echte Solidaritätswelle.»

Könnten wir damit Geld sparen?
Auf jeden Fall. Die Rechnung ist einfach: Im Kanton Neuenburg, in dem es am meisten Sozialhilfeempfänger gibt, kostet ein Sozialhilfeempfänger pro Monat 2000 Franken. Das macht im Jahr 24'000 Franken pro Person. Ein Flüchtling kostet gleich viel. Bei 3000 Flüchtlingen, die bei Privaten wohnen, könnte die Schweiz einen Betrag von 72 Millionen Franken sparen. ​

Wohin können sich Private wenden, wenn sie Flüchtlinge aufnehmen wollen?
Private aus den Kantonen Aargau, Bern, Genf und Waadt​ können sich auf unserer Homepage dafür anmelden. Bei den anderen geben die kantonalen Asylkoordinationen Auskunft und in Städten sind es die lokalen Sozialämter.

Wie lange bleiben Flüchtlinge im Durchschnitt bei Privatpersonen?
​Leute, die einen Platz anbieten, sollten sich schon auf einen längeren Zeitraum einrichten. Sechs Monate sind das Minimum, normal bleiben die Flüchtlinge etwa ein Jahr bei den Familien. Bedenkt man, dass bei uns zwei Drittel Mieter sind und nur schwer Flüchtlinge aufnehmen können, ist das, was jetzt im Gange ist, nicht nur ein kurzfristiger Hype, sondern eine echte Solidaritätswelle. 

Was würde dich am meisten interessieren, wenn du mit einer Familie, die einen Flüchtling aufgenommen hat, sprechen könntest? Schreibe deine Fragen in die Kommentare. 

Flüchtlinge kämpfen gegen Grenzen

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Flüchtlinge kämpfen gegen Grenzen
15. September, Istanbul, Esenler Busbahnhof: Die Regierung hält Tickets an die Grenze zurück, Flüchtlinge protestieren.
quelle: getty images europe / ahmet sik
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57 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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atomschlaf
06.10.2015 12:25registriert Juli 2015
Grundsätzlich finde ich es nicht schlecht, wenn Private, die diese Möglichkeit haben Flüchtlinge aufnehmen. Was mich aber etwas irritiert ist die Aussage betr. Sparpotenzial von 72 Millionen. Ist die Idee von Herrn Frey, dass die Gastgeber auch gleich noch sämtliche Kosten tragen?
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f303
06.10.2015 09:10registriert Februar 2014
Solidarität hin oder her. Der Staat macht es sich hier doch sehr einfach. Einfach alles auf die Zivilgesellschaft abwälzen. Auch für die Lösung solcher Probleme zahlen wir Steuern. Wenn wir jetzt die Pflege der Flüchtlinge auf eigene Kosten übernehmen, gewinnt nur der Staat, wir zahlen doppelt.
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mope
06.10.2015 08:46registriert Februar 2014
Stimmt. Wir fangen an mit 80 oder 100 in den Redaktionsräumlichkeiten von Watson. Und wenn jede Redaktorin, jeder Redaktor ein halbes Dutzend mit nach Hause nimmt, ist insgesamt schon einigen Dutzend geholfen. Netter Vorschlag!
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