Unterwegs mit Appenzeller Piloten, die Flüchtlinge aus dem Mittelmeer retten
Warum zwei Appenzeller Piloten im Mittelmeer Flüchtlinge retten müssen – eine Reportage
Noch immer sterben Tausende auf dem Mittelmeer.Bild:zvg/hpi
Niemand mag mehr hinschauen – und doch passiert es jeden Tag: Menschen ertrinken vor den Toren Europas. Die zwei Appenzeller Piloten Fabio Zgraggen und Samuel Hochstrasser wollten bei dieser Tragödie auf dem Mittelmeer nicht länger Zuschauer sein. Mit ihrem Flugzeug suchen sie nach Flüchtlingen und retten diese vor dem sicheren Tod. Ich bin mit den beiden mitgeflogen.
Sobald sich ihre Lungen mit Wasser füllen, sinken die Ertrunkenen langsam ab und verschwinden für vier bis fünf Tage in den Tiefen des Meeres. Dann beginnen sich ihre Körper aufzublähen und es treibt sie zurück an die Wasseroberfläche. Weil sich ihre schwarze Haut weiss verfärbt, sind sie dort gut sichtbar. In der Weite des Meeres herumtreibende Tote sehen noch vergessener aus, als sie es ohnehin schon sind.
«Ziel auf 13 Uhr.» Ruben drückt
sein Gesicht an das Fenster des kleinen Flugzeugs. Sein Atem
beschlägt die Scheiben. Ohne den kleinen Punkt unten im Wasser aus
den Augen zu lassen, tastet er nach dem Fernglas auf seinen
Oberschenkeln. Ein kurzer Blick genügt und er bestätigt: «Ja, das
ist ein Schlauchboot. Und gleich daneben ist noch ein zweites. Lass
uns das abchecken gehen.» Fabio lenkt das Flugzeug ein wenig
tiefer, auf gut dreihundert Meter über Meer. Sam, der neben mir
sitzt, beugt sich zu meiner Seite und hält den Fotoapparat bereit.
Das Boot rückt näher. Fabio zieht das Flugzeug nach rechts und wir
schwenken in einem Bogen über die Menschen unter uns. Das Manöver
hebt uns leicht aus dem Sitz, mein Körper drückt nach rechts gegen
die vibrierende Flugzeugwand. Ich schaue aus dem Fenster nach unten.
Dann sehe ich sie.
In einem Boot sind manchmal bis zu fünfhundert Menschen eingepfercht.Bild: AP
Und auch sie sehen uns jetzt. Hundert Hände winken zu uns hoch. Eine
Frau rudert hektisch mit den Armen, in ihrer Hand schwenkt sie ein
Tuch, das sie sich zuvor als Schutz gegen die Sonne über den Kopf
gezogen hatte. Einige bewegen ihre Lippen und scheinen uns zuzurufen.
Ich zähle jeweils fünf bis sechs Menschen nebeneinander und
schätze, dass es über zwanzig Reihen sein müssen. Platz zum Sitzen
gibt es keinen. Alle stehen, dicht an dich, sodass es kaum
möglich ist, sich zu bewegen. Mir wird schlecht beim Gedanken, dass
sie bereits die ganze Nacht so in diesem Boot unterwegs sind. Ohne
Licht und mit einem Motor, der so schwach ist, dass er die Boote im
Zickzack fahren lässt, sind sie auf das dunkle Meer gefahren. Als
einziger Anhaltspunkt dienen die Flammen eines Ölbohrturmes auf dem
Meer. Die Schlepper sagen den Flüchtlingen, darauf sollen sie
zusteuern, es seien die Lichter von Europa.
Durch seinen
Fotoapparat zoomt Sam näher ran. «Es tritt kein Wasser ins Boot
ein und es hat keine Menschen über Bord. Vorläufig sollte die
Situation stabil sein», sagt er. Ruben notiert sich die Zeit,
Koordinaten und in welche Richtung die zwei Schlauchboote mit wie
vielen Knoten pro Stunde unterwegs sind. Er wird sie danach an die
Seenotrettungszentrale in Rom funken und zusätzlich die Schiffe der
Nichtregierungsorganisationen (NGO) informieren, die sich heute im
Suchgebiet vor der libyschen Küste befinden. Mehr können wir von
hier oben nicht tun. Fabio dreht ab, die winkenden Menschen werden zu
kleinen, verlorenen Punkten.
Erst vier Tage später werde ich
erfahren, dass es an diesem Tag nicht alle lebend an Bord eines
Rettungsschiffes geschafft haben. Von seinem Flugzeug aus wird Fabio
die Leichen sehen, die es an die Wasseroberfläche treibt.
Im Morgengrauen auf dem Weg zum Flugzeug.bild: sarah serafini
Zwei Appenzeller,
eine gemeinsame Passion: das Fliegen. So lernen sich Fabio Zgraggen
(32) und Samuel Hochstrasser (37) kennen. Fabio, ursprünglich
Grafikdesigner, und Sam, Dachdecker, eröffnen in der kleinen Gemeinde
Gais eine Gleitschirm-Flugschule. Zusätzlich lässt sich Fabio zum
Piloten ausbilden. Nach einem Flugtag sitzen die beiden mit Freunden
unter dem Sternenhimmel am Feuer. Schlagzeilen von Flüchtlingen, die
zu Hunderten vor der italienischen Küste ertrinken, laufen über
alle Kanäle. Fabio fragt sich, warum es kein Flugzeug gibt, das von
der Luft aus die Seenotrettungen koordiniert. Schliesslich sei der
Überblick von oben viel besser. Er und Sam sind zu diesem Zeitpunkt
weder politisch aktiv noch besonders wohltätig engagiert. Vielmehr
sind sie ziemlich normale junge Männer, Outdoor-Typen, die gerne in
den Bergen sind oder auf Reisen, die es gerne praktisch haben, zu denen die Aussage passt: «Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte
Kleidung.» Sie gehen weder auf Demonstrationen noch sammeln sie
Geld für ein karitatives Projekt. Aber sie haben einen gesunden Sinn
für Gerechtigkeit. Und dieser wird an jenem Abend am Feuer geweckt.
Das zivile Rettungsschiff der Sea-Watch.bild: sarah serafini
Sie fassen den
Entscheid, dem Sterben auf dem Mittelmeer nicht mehr untätig
zuzuschauen. Wenige Tage später kontaktieren sie die Organisation Sea-Watch. Die deutsche NGO war eine der ersten, die sich auf
Malta niederliess und zwei eigene Schiffe kaufte, um Flüchtlinge im
Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten. Der Berliner Ruben Neugebauer
(27), der seit Beginn von Sea-Watch auf Malta dabei ist, erhält die
Mail von Fabio und Sam. Er ist von der Idee der Seenotrettung aus der
Luft begeistert. Das ist die Geburtsstunde der humanitären
Piloteninitiative. Ein Jahr später, im Juni 2016, starten die drei
ihren ersten Seenotrettungs-Flug. Seither stehen Fabios und Sams Leben
Kopf.
Inzwischen
ist das Team um die humanitäre Piloteninitiative auf sechs Piloten
angewachsen. Alle arbeiten freiwillig und unentgeltlich. Das
vierplätzige Kleinflugzeug, die HB-KHG mit dem Rufnamen «Moonbird»,
haben sie von einer Flugschule in St.Moritz gechartert. «Air
Corviglia» steht auf der Schnauze hinter dem Propeller. 290
Kilometer legt es in der Stunde zurück und bringt eine Flugleistung
von maximal 1100 Kilometer hin. Das
reicht für einen gut fünfstündigen Suchflug. Der Kabinenraum ist knapp eineinhalb
Meter hoch. Ein Rettungseinsatz-Flug kostet 2000 Franken. Finanziert
wird das über Spendengelder und über die Partnerorganisation
Sea-Watch. Seit einem Jahr ist die Moonbird so oft in der Luft, wie
es die Kapazität der Piloten zulässt, und so lange, wie das Geld für
den Sprit reicht. Mit dem aktuellen Spendenstand können Fabio und
Sam noch bis Mitte August weiterfliegen. Fabio verbringt pro Monat
jeweils rund zwei Wochen auf Malta. «In der Hoffnung, dass es
weniger wird», sagt er. Auch Sam will mit den Einsätzen
zurückschrauben: «Ich habe einen kleinen Sohn. Und ehrlich gesagt bin ich langsam ein wenig durch. Was wir da oben sehen, wirkt nach.»
Fabio: «Eigentlich ist das, was wir da unten tun, nicht unsere Aufgabe.»
Am Abend vor
unserem Einsatz sitzen wir auf der Terrasse der «Burg». So nenne
ich das honigfarbene Kalksteinhaus mit massiver Fassade und
Rundbogenfenstern, das in Vittoriosa, einer Kleinstadt an der
Ostküste von Malta, auf einer Anhöhe steht, nur wenige Meter von
der Meeresbucht entfernt. Vor zwei Jahren hat sich hier die Crew von
Sea-Watch eingemietet. Auch Fabio und Sam steigen hier ab, wenn sie
nach ihren Flugeinsätzen auf die Insel zurückkehren.
Unten im Hafen
schwimmen die Luxusyachten, in der Burg sprechen freiwillige
Helfer über tote Kinder im Mittelmeer. Oben
auf dem Dach haben wir Aussicht auf die maltesische Sonne, die den
Himmel kitsch-rosa verschmiert und langsam hinter die aufziehenden
Wolken taucht. Die aufleuchtenden Strassenlampen hüllen den
malerischen Hafen in einen orangen Mantel. Beinahe kommt
Ferienstimmung auf. Doch das Wissen, dass nur wenige Kilometer von
hier entfernt tausende Menschen jeden Tag aus Verzweiflung aufs Meer
gehen, um genau dieses Privileg des schönen Lebens auch
einzufordern, trübt dieses Gefühl. Als hätte Fabio meine Gedanken
gelesen, sagt er: «Manchmal fühlt es
sich schon sehr seltsam an. Da warst du gerade noch in der Luft und
hast Menschen beim Ertrinken gesehen und wenn du dann zurückkommst,
sitzt du hier oben und schaust den Touristen beim Flanieren zu.»
Der Hafen in Maltas Stadtteil Vittoriosa.bild: sarah serafini
Die Sea-Watch-Crew auf der Burg.bild: sarah serafini
Wir
planen den morgigen Tag. Ruben checkt das Wetter. Es wird perfekt
sein. Fast kein Wind, das Meer ruhig. Fabio und Sam werfen
sich vielsagende Blicke zu. Es könnte ein langer Tag werden. Ruben
sagt, auch wenn das Wetter stimmt, sei es immer schwierig
einzuschätzen, ob es tatsächlich Boote haben wird oder nicht. «Was
die libysche Küstenwache vorhat, was die Schlepper, wie gerade die
Situation in den Flüchtlingscamps in Libyen aussieht, das alles
wissen wir nicht.» Der Flug vom maltesischen Flughafen an die
libysche Küste ist immer ein Flug ins Ungewisse. So sehr Fabio und
Sam dieses abenteuerliche Gefühl beim Gleitschirmfliegen suchen und
lieben, so sehr fürchten sie es hier auf Malta. «Dieses
Nichtwissen, ob du heute Flüchtlinge finden wirst oder nicht, ob du
sie lebend oder tot findest, das ist nichts Schönes», sagt Fabio.
Am
nächsten Morgen, dem Tag unseres Einsatzes, bekomme ich einen
Eindruck davon, wie brutal sich diese Ungewissheit anfühlen kann. Um
fünf Uhr brechen wir auf. Die anderen Burgbewohner schlafen noch.
Nur das Licht in der Küche flutet aus dem Fenster auf
die noch in Dunkelheit gehüllte Strasse. Wir steigen in unsere
orangefarbenen, feuerfesten Overalls, schauen, dass jeder etwas in
den Magen bekommt, verzichten aber auf Kaffee, weil dieser
harntreibend ist und wir im Flugzeug während mehreren Stunden nicht
auf die Toilette können, und fahren zum Flughafen. Im Auto spricht
niemand. Fabio schaltet Musik ein. Campino von den «Toten Hosen» singt:
Unten im Hafen, setzen sie die Segel Fahren hinaus aufs offene Meer Zum Abschied winken ihre Familien Schauen ihnen noch lange hinterher Und das Wasser liegt wie ein Spiegel Als sie schweigend durchs Dunkel ziehen Kaum fünfzig Meilen bis zum Ziel Das so nah vor ihnen liegt
Sag mir, dass das nur ein Märchen ist Mit Happy End für alle Leute Und wenn sie nicht gestorben sind Leben sie noch heute
Sie kommen zu Tausenden, doch die Allermeisten Werden das gelobte Land niemals erreichen Doch die Patrouillen werden sie aufgreifen Um sie in unserem Auftrag zu deportieren Und der Rest, der wird ersaufen Im Massengrab vom Mittelmeer
Weil das hier alles kein Märchen ist Kein Happy End für all die Leute Und wenn sie nicht gestorben sind Sterben sie noch heute
Das
Lied klingt wie eine Hymne auf unser Vorhaben. Vielleicht ist es der
Pathos gepaart mit Nervosität und Angst, der mir den Hals zuschnürt.
Ich schaue angestrengt nach draussen. Wir parken. Fabio, gähnend,
die Augen noch klein, zieht seinen Rollkoffer zum Kabäuschen, wo wir
durch die Militärkontrolle müssen, um auf den Flugplatz gelassen zu
werden. Hinter den ersten Maschinen der internationalen Airlines, die
mit laut dröhnenden Triebwerken auf die Flugbahnen rollen, steigt
die Sonne als drohender roter Feuerball auf.
Während
Fabio und Sam den Morgentau von den Flugzeugfenstern putzen, tigert
Ruben nervös hin und her. Abwechslungsweise tippt er etwas in sein
Smartphone oder Tablet. Er verschickt eine E-Mail an die
EU-Militäroperation «Sophia», informiert die
Seenotrettungszentrale in Rom über unseren Einsatz und schaut
nochmals die Positionen der NGO-Schiffe nach, die sich gerade im
Suchgebiet befinden.
Dies sind die wichtigsten Player im südlichen Mittelmeer:
Die
Seenotrettungsleitstelle in Rom ist eine staatliche
Koordinationsstelle aller Rettungseinsätze auf dem Mittelmeer.
Betrieben wird sie vom italienischen Verkehrsministerium. Sämtliche
Notrufe von Schiffen, die auf dem Mittelmeer in Seenot geraten sind,
laufen hier zusammen. Die Leitstelle koordiniert alle
Rettungseinsätze. Das Schiff, das am nächsten vom Unglücksort
entfernt ist, ist gesetzlich zur Rettung verpflichtet.
Die
italienische Küstenwache ist grundsätzlich auf Lampedusa und
Sizilien stationiert. Fährt aber öfters auch in die
Seenotrettungszone, um Flüchtlinge von Booten, die von einer NGO
gerettet wurden, zu übernehmen und nach Italien zu bringen oder um
selber vor Ort zu retten. Anders als die NGOs sind sie aber nicht dauerhaft in der Seenotrettungszone vor Ort. Rund die
Hälfte aller Flüchtlinge in Booten werden von der italienische
Küstenwache gerettet.
Die
libysche Küstenwache kann nicht als Einheit gesehen werden, da es
auch keine einheitliche libysche Regierung gibt. Die libysche
Küstenwache muss eher als eine Truppe mit eigenem Kommando gesehen
werden, die in ihrem Hoheitsgebiet patrouilliert. Finden sie
Flüchtlinge auf Booten, schaffen sie diese zurück nach Libyen.
Die
Frontex ist die Grenzschutzbehörde, welche die Aussengrenzen der
Europäischen Union schützt. Sie ist vor allem auf dem nördlichen
Mittelmeer in der Nähe der italienischen Küste und rund um
Lampedusa, Sizilien und Malta im Einsatz. Die Hauptaufgabe der
Frontex ist es, die ankommenden Flüchtlinge zu identifizieren und
zu befragen, um mehr über die Schlepperbanden herauszufinden. Auf
Auftrag der Seenotrettungsleitstelle in Rom kommt es auch vor, dass
sie vor die libysche Küste fahren muss, um Flüchtlinge von den
NGO-Schiffen abzuholen und nach Italien zu bringen.
Die
Operation «Sophia» ist eine multinationale Militärmission der EU,
primär zur Bekämpfung von Schleusern im Mittelmeer und zum Aufbau
einer wirksamen libyschen Küstenwache. Mit Marine- oder
Kriegsschiffen patrouillieren sie auf dem Mittelmeer. Sie machen
nachrichtendienstliche Ermittlungen, fangen Funksprüche von
Schleppern ab, um deren Kommunikationswege nachzuspüren. Zudem
bilden sie libysche Einheiten aus. Sie retten eher selten Menschen aus
dem Meer, ausser sie sind gerade in der Nähe eines Bootes in Not.
Was sie aber tun ist, dass sie die leeren Boote von den Geretteten
zerstören, damit diese nicht nochmals als Schlepperboote verwendet
werden können.
Die Containerschiffe, Öltanker, Fischerboote
Die
Rettungsboote der NGOs patrouillieren vor der 24-Meilen-Grenze und halten Ausschau nach Menschen in Seenot. Derzeit gibt es rund zehn Organisationen, die vor Ort helfen.
Darunter «Sea-Watch», «Jugend rettet», «SOS Mediterranee», «Proactiva
Open Arms» oder «Save the Children».
Die
12-Meilen-Grenze: Das Gebiet, das sich zwölf Seemeilen
(rund 22 Kilometer) vor der libyschen Küste erstreckt, wird als
Hoheitsgewässer bezeichnet. Dort gilt libysches Recht und die zivilen Retter dürfen sich darin nicht aufhalten.
Fabio
sagt, seit Beginn des Jahres seien viel weniger Schiffe von
staatlicher Seite her unterwegs. «Wir werden zunehmend alleine
gelassen», sagt er. Er zieht den Reisverschluss seines Overalls
hoch, setzt sich hinter den Steuerknüppel der Moonbird und schiebt
die Sonnenbrille auf die Nase. In den letzten Monaten sind die
Einsätze der humanitären Piloten, der Sea-Watch und anderen
Seenotretter in die Kritik geraten. Ihnen wird öffentlich von
Regierungen und Beamten der Europäischen Union vorgeworfen, naive
Handlanger der Schlepper zu sein. Sie seien mitschuldig, dass sich so
viele auf die gefährliche Überfahrt begeben und sterben. Sebastian
Kurz, Aussenminister von Österreich, forderte: «Der NGO-Wahnsinn
muss ein Ende haben.» Der Direktor der europäischen
Grenzschutzbehörde Frontex, Fabrice Leggeri, sagte: «Wir müssen
verhindern, die Geschäfte der kriminellen Netzwerke und Schleuser in
Libyen dadurch zu unterstützen, dass Migranten immer näher an der
libyschen Küste von europäischen Schiffen aufgenommen werden.»
«Was
wir hier tun, ist nichts Illegales», sagt Sam. Er befestigt sein
Tablet an der Rücklehne des vorderen Sitzes, legt Fernglas,
Fotoapparat und Sandwich bereit und schwingt sich in das Flugzeug.
Ihn ärgert den Vorwurf der Schlepperei. «Menschen in Seenot zu
retten und in einen sicheren Hafen zu bringen, ist eine menschenrechtliche Pflicht. Es gibt eine Verordnung, die von den
Vereinten Nationen unterschrieben wurde. Die
anderen sind es, die sich nicht an das Gesetz halten.» Er zieht die Türe des
Flugzeuges zu.
Die «Moonbird» und Ruben, kurz vor dem Abflug.Bild: Sarah Serafini
Doch
nicht nur in der Politik, auch auf hoher See kommt es zu Angriffen
gegen die Seenotretter. Eine junge Hamburgerin, die von einem
zweiwöchigen Einsatz mit Sea-Watch zurück auf die Burg kam,
erzählte mir, dass die libysche Küstenwache beinahe ihr Schiff
gerammt habe, das unterwegs zu einer Seenotrettung war. Um ein Haar
wäre es zu einem Unfall gekommen, der nicht nur das Leben der
Flüchtlinge, sondern auch das der Crew der Sea-Watch und jenes der
Besatzung auf dem libyschen Schiff in Gefahr gebracht hätte. Wenige
Wochen vorher blockierte die rechtsextreme «Identitäre Bewegung» aus Österreich das Schiff einer Hilfsorganisation im Hafen der
sizilianischen Stadt Catania. Sie wollten verhindern, dass die
Seenotretter zurück ins Suchgebiet auslaufen. In ihrem Aufruf
schrieben die Rechtsextremen, man wolle nicht tatenlos zusehen, wie
sich Hilfsorganisationen am internationalen Geschäft der Migration
beteiligten und die Illusion eines nicht existierenden Eldorados in
Europa nähren.
Während
sich solche Vorkommnisse häufen, steigt gleichzeitig die Zahl der
Flüchtlinge, die über das Mittelmeer nach Italien gelangen, weiter
an. Im vergangenen Jahr waren es rund 180'000, die nach Italien
kamen. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres waren es über
60'000. 1700 starben.
«Diese
Zahlen machen den Streifen entlang der libyschen Küste zur
tödlichsten Zone des Mittelmeers. Nirgends in Europa gibt es mehr
Tote als hier», sagt Ruben. Er ist immer noch mit seinen Geräten
beschäftigt, muss noch die Funkantenne im Flugzeug befestigen, damit
nachher in der Luft die Kommunikation mit den Schiffen gut klappt.
Ich frage ihn, warum in aller Welt er sich das hier antut. Wie er es
aushält, täglich die Tragödie auf dem Meer mitzuerleben, ohne dass
die Katastrophe ein absehbares Ende nimmt, und dabei von der Politik
beschimpft zu werden. Rubens Antwort
kommt schnell. «Weil man nur logisch rechnen muss», sagt er. «Die
Wahrscheinlichkeit, auf dem Meer zu sterben, liegt bei 1:40, wenn wir
da sind. Ohne uns liegt sie bei 1:20.» Fabio wird ungeduldig. «Los
jetzt», ruft er und Ruben hastet in die Moonbird. Er legt sich das
Headset über die Ohren und zieht die Türe zu. Fabio startet den
Motor. Es geht los.
«Perfekte
Sicht», sagt Fabio und zieht die HB-KHG höher. Unter uns
verschwindet die Küste von Malta hinter den wenigen Wolkenfetzen. In
der Kabine ist es noch kalt, ich fröstle. Neben mir sitzt Sam, still
in seine eigenen Gedanken versunken. Über das Headset lausche ich
dem Gespräch zwischen Fabio und Ruben, die vorne sitzen. Sie
fachsimpeln über die Technik im neuen Flugzeug. Eine Stunde dauert
der Flug ins Suchgebiet. Dieses erstreckt sich über rund 1600 Quadratkilometer entlang der Zwölf-Meilen-Zone vor der libyschen Küste.
Ruben dreht sich für das letzte Briefing zu Sam und mir nach hinten.
Die Suche soll bei 900 Metern über Meer beginnen und weiter nach
unten gehen, wenn die Sicht schlecht ist. «Jeder muss in seinem
Sektor suchen und sobald jemand ein Ziel sieht, muss er darauf zeigen
und es nicht mehr aus den Augen lassen», sagt er. Wir nicken. «Auf
eine gute Mission», sagt Fabio und beginnt mit dem Sinkflug.
Mein
Herz schlägt kräftig. Die Gespräche verstummen, der Motor rattert
und dröhnt abgeschwächt durch die Kopfhörer. Alle schauen
konzentriert aus dem Fenster nach unten aufs Meer. Hinten rechts ist
mein Sektor. Ich drehe meinen Oberkörper zum Fenster. Meine Augen
suchen dem Horizont entlang, durch die Mitte, dann direkt unter mir,
dann wieder weiter hoch. Bei jeder Schaumkrone stockt mein Atem. Ist
das ein Mensch, der da im Wasser treibt? Nein, ein Benzinkanister.
Habe ich gut genug geschaut? Habe ich etwas übersehen? Wenn wir
scheitern, wenn ich scheitere, werden Menschen sterben, denke ich.
Die Sonne blendet. Ich beginne zu schwitzen. Fabio fliegt runter auf
300 Meter. Dann ruft Ruben: «Ziel auf 13 Uhr.»
Fabio (links) checkt die Koordinaten, Ruben funkt sie den NGO-Schiffen durch.bild: sarah serafini
«Das
Schlimmste ist, dass ich von der Luft aus nicht mehr machen kann, als
die Koordinaten durchzufunken. Es ist ein ohnmächtiges Gefühl, wenn
ich unter mir Menschen sehe, deren Boot langsam sinkt und ich weiss,
dass sie sterben werden», sagt Fabio. Er wendet das Flugzeug und
steuert Richtung Norden. Beim Wegfliegen kippt er die Maschine von
einer Seite zur anderen, so, als ob er den Flüchtlingen in den Booten
winken wollte. «So zeige ich ihnen, wohin sie steuern müssen»,
sagt er. Dann zieht er das Flugzeug zurück auf 900 Meter.
Erst
hier oben, von wo aus ich einen Überblick über die ganze Szenerie da unten habe, realisiere ich, was da gerade passiert: Ich
sehe die libysche Küste und Flüchtlingsboote, die sich langsam auf
die Zwölf-Meilen-Grenze zubewegen. Ich sehe ein NGO-Schiff, das den
Flüchtlingsbooten entgegen fährt. Weiter hinten sehe ich
aufsteigenden Rauch. Dort wird ein Holzboot verbrannt, nachdem die
Menschen gerettet wurden. Ich sehe ein libysches Fischerboot, das ein
leeres Schlauchboot abschleppt und zurück an Land bringt. Wenige
Stunden später wird es mit neuen Menschen gefüllt zurück auf dem
Meer sein. Ich sehe Menschen mit leuchtend roten Schwimmwesten, die
es bereits in Sicherheit an Bord eines NGO-Schiffes geschafft haben.
Von hier oben wirkt das Ganze surreal. Es ist, als würde ich auf ein
Spielbrett hinunterschauen und den verschiedenen Figuren bei ihrer
Performance zuschauen.
Alleine auf hoher See.Bild: AP
Die Holzboote werden verbrannt, damit die Schlepper sie nicht wiederverwenden.Bild: AP
Sam: «Das Schwierigste ist, zu verstehen, warum das da unten passiert.»
Am
späteren Nachmittag sitzen wir wieder in der Burg auf der Terrasse.
Noch immer stecken wir in dem orangen Overall. Die letzten Stunden
haben Fabio, Sam und Ruben telefoniert und sich nach den verlorenen
Booten erkundigt. 2036 Menschen konnten heute gerettet werden. 2036!
An einem Tag! Im Gegensatz zu mir überrascht Ruben diese Zahl nicht. «Was wir hier haben, ist eine kontinuierliche Katastrophe. Wenn es
ein Erdbeben gibt, dann braucht es einen Grosseinsatz und nach einer
Weile ist es vorbei. Aber das hier geht nie vorbei.»
Wir
tauschen uns aus, sprechen über Dinge, die uns durch den Kopf gehen, und darüber, was wir heute gesehen haben. Solche Gespräche seien
wichtig, sagt Fabio. Um das Geschehene zu verarbeiten. Denn nicht
selten erleiden Retter später ein Trauma, leiden unter
Schlafstörungen und kommen nicht mehr los von dem, was sie auf dem
Meer erlebt haben:
Die Flüchtlinge, es müssen über 400 sein, springen auf, als sich das Schiff der NGO nähert. Alle rennen auf eine Seite. Das Schiff kippt. Menschen fallen ins Wasser. Die Eingeschlossenen, die unter Deck lagen, ertrinken am schnellsten. Die anderen strampeln um ihr Leben, die Stärkeren ziehen sich an den Schwächeren hoch. Rettungswesten werden ins Wasser geworfen. Die Toten treiben um jene, die sich irgendwo festhalten konnten.
Wenn die Flüchtlinge nach ihrem stundenlangen Höllenritt über das Meer an der prallen Sonne von einem Schiff gerettet werden, reissen sie sich oft als erstes ihre Kleider vom Leib. Das Salzwasser und die Sonne hat ihre Haut über Stunden derart verätzt, dass es sich anfühlt, als würde der ganze Körper brennen.
Viele Menschen, die aus den Booten gerettet werden, haben frische Schussverletzungen. Sie erzählen, dass ihnen mit der Waffe gedroht wurde, als sie sich in der Nacht weigerten, in das kaputte Schlauchboot zu steigen. Die Schlepper kennen kein Pardon. Wer sich wehrt, dem wird in den Fuss geschossen.
Unten
in der Küche kocht die Sea-Watch-Crew Abendessen. Pasta, Salat,
Früchte zum Nachtisch. Man ist es sich gewohnt, schnell, einfach, aber trotzdem lecker für viele Leute zu kochen. Die Pilotencrew
bespricht den Einsatz von morgen. Weil heute die italienische
Küstenwache nicht aufbrach, um die Flüchtlinge von den NGO-Schiffen
abzuholen, mussten diese sich nun selber auf den Weg nach Sizilien
machen. Denn ihre Ladeflächen sind allesamt voll. Diese Reise dauert
über 24 Stunden. «Wer wird also morgen noch im Suchgebiet sein?»,
fragt Sam. Ruben denkt kurz nach und sagt: «Nur noch zwei kleine
NGOs, die zusammen Platz für etwa 400 Personen haben.» Kommen also
morgen wieder so viele Flüchtlinge wie heute, wird es eine
Katastrophe geben. Galgenhumor macht sich breit. Die drei schauen sich an. Und lachen.
Normalität in einer ständigen Extremsituation: die Sea-Watch-Crew beim Abendessen.Bild: Sarah Serafini
DANKE FÜR DIE ♥
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Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
poesie_vivante
16.06.2017 10:11registriert Februar 2014
NGO-Schiffe wie Sea Watch sind Schlepper-Taxis, welche die Flüchtlinge erst dazu animieren, sich in Lebensgefahr zu begeben, da diese wissen, dass sie schon wenige Meter nach der Küste gerettet werden.
Anstatt die Gestrandeten, von denen die allermeisten keine Chance auf ein Flüchtlingsvisum haben, zurück nach Libyen zu bringen, "schleppen" die NGOs die Flüchtlinge nach Italien.
Laut dem sizilianischen Staatsanwalt Zuccaro arbeiten die NGO-Schiffe sogar direkt mit den Schleppern zusammen:
Für die Beedigung des Dramas auf dem Mittelmeer gibt es nur 2 Lösungen: komplette Grenzöffnung und sichere Reisen oder komplette Abriegelung der Grenzen und Abschreckung der Migranten (Australienmodell).
Der Regen ist zurück – und mit ihm Gewitter und Zugausfälle im Kanton Bern
In der Schweiz sind am Mittwochabend vielerorts starke Niederschläge und Gewitter niedergegangen. In Basel standen die Einsatzkräfte zeitweise im Dauereinsatz. Und im Kanton Bern kam es zu Zugausfällen.
Besonders stark regnete es in Vevey VD und Torricella TI. In Vevey verzeichnete SRF Meteo den von ihnen an diesem Abend zunächst höchsten gemessenen Stundenwert mit 50,1 Millimeter Niederschlag.
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