Als die deutschen Grünen in den 1970-er Jahren in der politischen Landschaft auftauchten, herrschte Aufruhr im Bürgertum. Die «Alternativen» mit ihrem schmuddeligen Look galten als gefährliche Umstürzler. Auf ihren Einzug in den Bundestag 1983 reagierte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) pikiert. Heute schmunzelt man darüber.
In der Schweiz verlief die Entwicklung parallel, aber deutlich gesitteter. Schweizerischer halt. Seither haben sich die Grünen etabliert. In Deutschland regieren sie mit, in der Schweiz würden sie gerne. Am Samstag feiern sie im Berner Bierhübeli den 40. Geburtstag als nationale Partei. Von der Euphorie nach ihrem Wahlerfolg 2019 aber ist wenig geblieben.
Zur Party am Samstag reisen Politikerinnen aus Deutschland und Frankreich an, aber grosse Namen sucht man vergebens. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock schickt eine Video-Botschaft (dazu später mehr). Die Schweizer Grünen blicken auf eine bewegte Geschichte zurück, in der sie sich öfter mal selbst im Weg standen.
In Frankreich hatte es der Umweltschutz lange schwer. Die Waldsterben-Debatte in Deutschland etwa wurde als Kuriosum und als Ausdruck germanischer Natur-Romantik belächelt. In der Schweiz war es völlig anders. Die grüne Bewegung hat ihre Wurzeln in der Romandie, wo sie tendenziell bis heute stärker ist als in der Deutschschweiz.
Die erste grüne Regionalpartei wurde 1971 in Neuenburg gegründet. Schon im folgenden Jahr holte sie acht Sitze im Neuenburger Stadtparlament und wurde auf Anhieb drittstärkste Kraft. 1977 folgte in Lausanne der erste Sitz in einer Regierung, und 1979 wurde der Vaudois Daniel Brélaz als erster Grüner weltweit in ein nationales Parlament gewählt.
Mit Waldsterben, Tschernobyl und Ozonloch erlebte die Umweltbewegung ihren ersten Höhenflug. Die Schweiz nahm in jener Zeit eine Vorreiterrolle ein, die sie längst eingebüsst hat. Die Grünen, ein buntes «Sammelsurium» von wertkonservativen Naturschützern bis zu linksalternativen Pazifisten, suchten den Zusammenschluss.
Ein erster Anlauf scheiterte Anfang Mai 1983 krachend an der Armeeabschaffung. Schon am 28. Mai gründeten die bürgerlichen «Realos» in Freiburg die Föderation der grünen Parteien der Schweiz (GPS), die erste nationale Dachorganisation und Vorläuferin der heutigen Partei. Die «Fundis» konterten mit der Grünen Alternative Schweiz (GRAS).
Politisch behielten während langer Zeit die «Realos» die Oberhand. 1987 eroberten die Grünen elf Sitze im Nationalrat und erreichten damit Fraktionsstärke. Schon im Vorjahr schafften sie mit Leni Robert und Benjamin Hofstetter in Bern erstmals den Einzug in eine Kantonsregierung, auch weil die Bürgerlichen durch eine Finanzaffäre diskreditiert waren.
1992 wurde zu einem «Schicksalsjahr» für die Grünen. Sie ergriffen das Referendum gegen die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT), getrieben durch Wachstums-Skepsis. Sie verloren genauso wie beim von ihnen bekämpften Beitritt der Schweiz zu Internationalem Währungsfonds und Weltbank. Ende Jahr sagten sie auch Nein zum EWR-Beitritt.
Diese Parole erwies sich als zweischneidig. Die damalige Luzerner Nationalrätin Cécile Bühlmann verwies im Gespräch mit watson auf eine Medienkonferenz der Innerschweizer Grünen, zu der niemand erschienen war. Denn das EWR-Nein wurde von Christoph Blocher dominiert: «Wir standen mit unserer Haltung quer in der Landschaft.»
Die 90er-Jahre waren auch sonst eine schwierige Zeit. Die Schweiz steckte in einer Wirtschaftskrise, ökologische Themen rückten in den Hintergrund. Dafür wurde die Spaltung in «Realos» und «Fundis» nach und nach überwunden. Die Grüne Partei der Schweiz wurde zum Sammelbecken, doch gleichzeitig verschoben sich die Akzente nach links.
2001 kandidierte Cécile Bühlmann als erste Grüne für den Bundesrat und erzielte einen Achtungserfolg. 2004 kam es zum bis heute anhaltenden Bruch. Nachdem sich der linke Flügel in der Zürcher Kantonalpartei durchgesetzt hatte, traten Martin Bäumle und die damalige Regierungsrätin Verena Diener aus und gründeten die Grünliberale Partei.
Bei den Grünen erhielten soziale und migrationspolitische Themen zunehmend Gewicht. Politisch hatten sie in diesem Jahrzehnt Rückenwind durch den «Hitzesommer» 2003. Zwei Jahre später trugen sie zur Annahme des Gentech-Moratoriums in der Volksabstimmung bei. 2007 eroberten sie 20 Sitze im Nationalrat und zogen erstmals in den Ständerat ein.
Auf jedes Hoch aber folgte bei den Grünen garantiert das nächste Tief. 2011 verloren sie Wähleranteile und Sitze im Nationalrat, trotz der Atomkatastrophe in Fukushima. Das lag auch an Parteipräsident Ueli Leuenberger. Er war Sozialarbeiter und Asyl-Aktivist. Ökologie war für den nach Genf «ausgewanderten» Luzerner mehr Pflichtstoff als Herzenssache.
Beim Rechtsrutsch 2015 kam es für die Grünen noch dicker. Doch dann folgten weitere Hitzesommer und mit ihnen die Klimastreikbewegung. Sie erreichte 2019 einen Höhepunkt. Im selben Jahr fand zudem der Frauenstreik statt, der den Grünen ebenfalls in die Hände spielte. Sie erreichten bei den Wahlen 28 Sitze im Nationalrat und fünf im Ständerat.
Beim Wähleranteil zogen sie an der CVP vorbei. In der Folge meldeten sie mit Präsidentin Regula Rytz ihren Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat an. Doch die Partei war weder strategisch noch organisatorisch auf einen solchen Coup vorbereitet. Ihr Angriff auf FDP-Bundesrat Ignazio Cassis wurde vom bürgerlichen «Machtkartell» abgeschmettert.
Nicht nur das Scheitern bei der Bundesratswahl sorgte für Ernüchterung. Kurz nach Beginn der Legislatur begann die Coronapandemie, die alle anderen Themen verdrängte. Im Juni 2021 wurde das CO₂-Gesetz vom Stimmvolk abgelehnt. Es war nicht die erste Niederlage für die Grünen, aber weniger als zwei Jahre nach der «Klimawahl» war sie besonders bitter.
Die Perspektiven für die Wahlen im Oktober sind gelinde gesagt durchzogen. Obwohl die Klimakrise im Sorgenbarometer einen Spitzenplatz belegt, droht den Grünen erneut eine Niederlage. Präsident Balthasar Glättli will sie zur drittstärksten Partei machen, doch beim heutigen Stand müssen sie befürchten, hinter der Mitte auf Platz 5 zu landen.
Ihre Bundesratsambitionen müssten sie sich damit wohl abschminken, ausser sie wären bereit, die SP anzugreifen. Doch darin zeigt sich ein Teil des Problems. Die lange eher bürgerlichen Grünen sind heute so klar links, dass ihr Stimmverhalten im Parlament praktisch identisch ist mit der SP, wie eine Auswertung der «SonntagsZeitung» zeigte.
Vielleicht bemühen sich die Grünen deshalb in letzter Zeit um eine gewisse Abgrenzung, etwa bei der Weitergabe von Schweizer Waffen für die Ukraine, bei der sie eisern am Pazifismus festhalten. Damit verärgern sie nicht nur potenzielle Wählerinnen und Wähler, sondern sorgen bei der «Schwesterpartei» in Deutschland für Irritationen.
Die deutschen Grünen haben seit Beginn des Ukraine-Kriegs viele ursprüngliche Ideale aus der «Gründerzeit» über Bord geworfen. Auch deshalb darf man gespannt sein, was Annalena Baerbock den jubilierenden Schweizer Grünen am Samstag zu sagen hat.