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40 Jahre Grüne Schweiz: Triumphe und Abstürze einer Partei

Gruene-Parteipraesidentin und Nationalraetin Regula Rytz, rechts, und Grossraetin Natalie Imboden, Gruene-BE, freuen sich ueber ein Resultat am Wahltag der Eidgenoessischen Parlamentswahlen, am Sonnta ...
Höhepunkt der bisherigen Parteigeschichte war die «Klimawahl» 2019, bei der die Grünen mit Präsidentin Regula Rytz (r.) die CVP überholten.Bild: KEYSTONE

40 Jahre Grüne Schweiz: Triumphe und Abstürze einer Partei

Die Grünen feiern am Samstag ihr 40-Jahr-Jubiläum als nationale Partei. Sie haben einiges erreicht und sind immer wieder gescheitert – auch an sich selbst.
10.05.2023, 17:2810.05.2023, 18:08
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Als die deutschen Grünen in den 1970-er Jahren in der politischen Landschaft auftauchten, herrschte Aufruhr im Bürgertum. Die «Alternativen» mit ihrem schmuddeligen Look galten als gefährliche Umstürzler. Auf ihren Einzug in den Bundestag 1983 reagierte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) pikiert. Heute schmunzelt man darüber.

In der Schweiz verlief die Entwicklung parallel, aber deutlich gesitteter. Schweizerischer halt. Seither haben sich die Grünen etabliert. In Deutschland regieren sie mit, in der Schweiz würden sie gerne. Am Samstag feiern sie im Berner Bierhübeli den 40. Geburtstag als nationale Partei. Von der Euphorie nach ihrem Wahlerfolg 2019 aber ist wenig geblieben.

Zur Party am Samstag reisen Politikerinnen aus Deutschland und Frankreich an, aber grosse Namen sucht man vergebens. Die deutsche Aussenministerin Annalena Baerbock schickt eine Video-Botschaft (dazu später mehr). Die Schweizer Grünen blicken auf eine bewegte Geschichte zurück, in der sie sich öfter mal selbst im Weg standen.

Die 1970-er

Hans Beat Schaffner, Daniel Brelaz, Laurent Rebeaud und J. Knuepfer informieren anlaesslich einer Medienkonferenz ueber die Bemuehungen einer einzigen Foederation der Gruenen und alternativen Bewegung ...
Daniel Brélaz (2. von links) war 1979 der weltweit erste Grüne, der in ein nationales Parlament gewählt wurde.Bild: KEYSTONE

In Frankreich hatte es der Umweltschutz lange schwer. Die Waldsterben-Debatte in Deutschland etwa wurde als Kuriosum und als Ausdruck germanischer Natur-Romantik belächelt. In der Schweiz war es völlig anders. Die grüne Bewegung hat ihre Wurzeln in der Romandie, wo sie tendenziell bis heute stärker ist als in der Deutschschweiz.

Die erste grüne Regionalpartei wurde 1971 in Neuenburg gegründet. Schon im folgenden Jahr holte sie acht Sitze im Neuenburger Stadtparlament und wurde auf Anhieb drittstärkste Kraft. 1977 folgte in Lausanne der erste Sitz in einer Regierung, und 1979 wurde der Vaudois Daniel Brélaz als erster Grüner weltweit in ein nationales Parlament gewählt.

Die 1980-er

ARCHIVE --- VOR 30 JAHREN, AM 1. NOVEMBER 1986, BRACH AUF DEM GELAENDE DER DAMALIGEN CHEMIEFIRMA SANDOZ IN SCHWEIZERHALLE EIN GROSSBRAND AUS. EIN LAGERGEBAEUDE MIT UEBER 1000 TONNEN CHEMIKALIEN BRANNT ...
Die Umweltbewegung erlebte durch mehrere Ereignisse einen Schub, darunter die Chemiekatastrophe in Schweizerhalle bei Basel 1986, bei der so gut wie alles Leben im Rhein vernichtet wurde.Bild: KEYSTONE

Mit Waldsterben, Tschernobyl und Ozonloch erlebte die Umweltbewegung ihren ersten Höhenflug. Die Schweiz nahm in jener Zeit eine Vorreiterrolle ein, die sie längst eingebüsst hat. Die Grünen, ein buntes «Sammelsurium» von wertkonservativen Naturschützern bis zu linksalternativen Pazifisten, suchten den Zusammenschluss.

Ein erster Anlauf scheiterte Anfang Mai 1983 krachend an der Armeeabschaffung. Schon am 28. Mai gründeten die bürgerlichen «Realos» in Freiburg die Föderation der grünen Parteien der Schweiz (GPS), die erste nationale Dachorganisation und Vorläuferin der heutigen Partei. Die «Fundis» konterten mit der Grünen Alternative Schweiz (GRAS).

Politisch behielten während langer Zeit die «Realos» die Oberhand. 1987 eroberten die Grünen elf Sitze im Nationalrat und erreichten damit Fraktionsstärke. Schon im Vorjahr schafften sie mit Leni Robert und Benjamin Hofstetter in Bern erstmals den Einzug in eine Kantonsregierung, auch weil die Bürgerlichen durch eine Finanzaffäre diskreditiert waren.

Die 1990-er

Die Gegnerschaft der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale NEAT reichen am 13. Januar 1992 im Bundeshaus-West das Referendum gegen die Neue Eisenbahn-Alpen-Transversale ein. Unter ihnen in der hinteren Re ...
Die Gegner der NEAT unter Führung der Grünen reichten am 13. Januar 1992 das Referendum ein. Heute wäre so etwas schwer vermittelbar.Bild: KEYSTONE

1992 wurde zu einem «Schicksalsjahr» für die Grünen. Sie ergriffen das Referendum gegen die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT), getrieben durch Wachstums-Skepsis. Sie verloren genauso wie beim von ihnen bekämpften Beitritt der Schweiz zu Internationalem Währungsfonds und Weltbank. Ende Jahr sagten sie auch Nein zum EWR-Beitritt.

Diese Parole erwies sich als zweischneidig. Die damalige Luzerner Nationalrätin Cécile Bühlmann verwies im Gespräch mit watson auf eine Medienkonferenz der Innerschweizer Grünen, zu der niemand erschienen war. Denn das EWR-Nein wurde von Christoph Blocher dominiert: «Wir standen mit unserer Haltung quer in der Landschaft.»

Die 90er-Jahre waren auch sonst eine schwierige Zeit. Die Schweiz steckte in einer Wirtschaftskrise, ökologische Themen rückten in den Hintergrund. Dafür wurde die Spaltung in «Realos» und «Fundis» nach und nach überwunden. Die Grüne Partei der Schweiz wurde zum Sammelbecken, doch gleichzeitig verschoben sich die Akzente nach links.

Die 2000-er

2001 kandidierte Cécile Bühlmann als erste Grüne für den Bundesrat und erzielte einen Achtungserfolg. 2004 kam es zum bis heute anhaltenden Bruch. Nachdem sich der linke Flügel in der Zürcher Kantonalpartei durchgesetzt hatte, traten Martin Bäumle und die damalige Regierungsrätin Verena Diener aus und gründeten die Grünliberale Partei.

Bei den Grünen erhielten soziale und migrationspolitische Themen zunehmend Gewicht. Politisch hatten sie in diesem Jahrzehnt Rückenwind durch den «Hitzesommer» 2003. Zwei Jahre später trugen sie zur Annahme des Gentech-Moratoriums in der Volksabstimmung bei. 2007 eroberten sie 20 Sitze im Nationalrat und zogen erstmals in den Ständerat ein.

Die 2010-er

Klimastreik in Zuerich am Freitag, 24. Mai 2019. (KEYSTONE/Walter Bieri)
Die Klimastreik-Demos wie hier im Mai 2019 in Zürich verhalfen den Grünen zum Erfolg bei den Wahlen im Herbst.Bild: KEYSTONE

Auf jedes Hoch aber folgte bei den Grünen garantiert das nächste Tief. 2011 verloren sie Wähleranteile und Sitze im Nationalrat, trotz der Atomkatastrophe in Fukushima. Das lag auch an Parteipräsident Ueli Leuenberger. Er war Sozialarbeiter und Asyl-Aktivist. Ökologie war für den nach Genf «ausgewanderten» Luzerner mehr Pflichtstoff als Herzenssache.

Beim Rechtsrutsch 2015 kam es für die Grünen noch dicker. Doch dann folgten weitere Hitzesommer und mit ihnen die Klimastreikbewegung. Sie erreichte 2019 einen Höhepunkt. Im selben Jahr fand zudem der Frauenstreik statt, der den Grünen ebenfalls in die Hände spielte. Sie erreichten bei den Wahlen 28 Sitze im Nationalrat und fünf im Ständerat.

Beim Wähleranteil zogen sie an der CVP vorbei. In der Folge meldeten sie mit Präsidentin Regula Rytz ihren Anspruch auf einen Sitz im Bundesrat an. Doch die Partei war weder strategisch noch organisatorisch auf einen solchen Coup vorbereitet. Ihr Angriff auf FDP-Bundesrat Ignazio Cassis wurde vom bürgerlichen «Machtkartell» abgeschmettert.

Die 2020-er

Nicht nur das Scheitern bei der Bundesratswahl sorgte für Ernüchterung. Kurz nach Beginn der Legislatur begann die Coronapandemie, die alle anderen Themen verdrängte. Im Juni 2021 wurde das CO₂-Gesetz vom Stimmvolk abgelehnt. Es war nicht die erste Niederlage für die Grünen, aber weniger als zwei Jahre nach der «Klimawahl» war sie besonders bitter.

Die Perspektiven für die Wahlen im Oktober sind gelinde gesagt durchzogen. Obwohl die Klimakrise im Sorgenbarometer einen Spitzenplatz belegt, droht den Grünen erneut eine Niederlage. Präsident Balthasar Glättli will sie zur drittstärksten Partei machen, doch beim heutigen Stand müssen sie befürchten, hinter der Mitte auf Platz 5 zu landen.

Ihre Bundesratsambitionen müssten sie sich damit wohl abschminken, ausser sie wären bereit, die SP anzugreifen. Doch darin zeigt sich ein Teil des Problems. Die lange eher bürgerlichen Grünen sind heute so klar links, dass ihr Stimmverhalten im Parlament praktisch identisch ist mit der SP, wie eine Auswertung der «SonntagsZeitung» zeigte.

Vielleicht bemühen sich die Grünen deshalb in letzter Zeit um eine gewisse Abgrenzung, etwa bei der Weitergabe von Schweizer Waffen für die Ukraine, bei der sie eisern am Pazifismus festhalten. Damit verärgern sie nicht nur potenzielle Wählerinnen und Wähler, sondern sorgen bei der «Schwesterpartei» in Deutschland für Irritationen.

Die deutschen Grünen haben seit Beginn des Ukraine-Kriegs viele ursprüngliche Ideale aus der «Gründerzeit» über Bord geworfen. Auch deshalb darf man gespannt sein, was Annalena Baerbock den jubilierenden Schweizer Grünen am Samstag zu sagen hat.

Und noch zwei Grussbotschaften:

Staenderaetin Verena Diener orientiert an einer Medienkonferenz in Zuerich am Montag, 2. Februar ueber ihren Ruecktritt in der kleinen Kammer. Verena Diener will im Oktober nicht mehr als Kandidatin d ...
Verena Diener (74): Ehemalige Zürcher National-, Regierungs- und Ständerätin. Von 1992 bis 1995 Präsidentin der Grünen Schweiz, seit 2004 bei den Grünliberalen.Bild: KEYSTONE
«Ich schaue mit guten Gefühlen auf meine Zeit in und mit der Grünen Partei zurück. In ökologischen Wertevorstellungen waren und sind sie mir immer nahe geblieben. Es war eine bereichernde gemeinsame Zeit, die mich stark prägte und schulte. Und viele herzliche, persönliche Bindungen sind geblieben. Es waren unterschiedliche gesellschaftspolitische Fragen, die unsere Wege trennten. Ich wünsche der Grünen Partei für ihren zukünftigen Weg alles Gute. Unser Planet mit allem, was darauf lebt und existiert, braucht ein ökologisches, nachhaltiges und rücksichtsvolles Denken und Handeln. Dazu trägt die Grüne Partei bei!»
Ruedi Baumann, ehemaliger Nationalrat, Präsident der Grünen Schweiz
Ruedi Baumann (75): Ehemaliger Berner Nationalrat, von 1997 bis 2001 Präsident der Grünen Schweiz. Heute Biobauer in Frankreich. Sohn Kilian hat ihn 2019 im Nationalrat «beerbt».
«Die bewegte Geschichte der Grünen ist eine Erfolgsgeschichte! Parteien kommen und gehen, spalten sich auf, fusionieren. Die Grünen sind aus dem Nichts entstanden, als zartes Pflänzchen langsam gewachsen, zu einer wichtigen politischen Kraft geworden und heute nicht mehr wegzudenken. Selbst die Abspaltung der bürgerlichen GLP konnte die Grüne Partei nicht bremsen. Die Grünen haben vieles richtig gemacht. Die Jungen Grünen sind zu einer der grössten und aktivsten Jungparteien geworden. Grüne Politik war von Anfang an feministisch, friedensbewegt, antirassistisch, solidarisch, weltoffen, sozial, umweltbewusst, ökologisch, naturnah … kurz: sorgfältig! Was ich mir in der Zukunft wünsche: mehr europäische Integration, mehr Umweltpolitik in den Agglomerationen und ländlichen Regionen, Engagement für eine vielfältige, ökologische, klimafreundliche Landwirtschaft, Herzblut und Durchhaltewillen für eine solidarische Schweiz, laufende Erneuerung der Parteigremien durch Amtszeitbeschränkung und zukunftsfähige Projekte für die nächsten Generationen!»
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Regula Rytz nach Rekordgewinn der Grünen
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71 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Ohniznachtisbett
10.05.2023 18:04registriert August 2016
Mit bürgerlichen Grünen (also eigentlich heute GLP) kann ich mich sofort anfreunden. Umweltschutz, aber Bekenntnis zur Marktwirtschaft, zu Gewinnorientierung, zu Wachstum und schlankem Staat. Das finde ich eine sehr schöne Idee. Die Melonenpartei (aussen grün innen tiefrot) kann mir gestohlen bleiben. Wir brauchen Umeltschutz, keinen Sozialismus und keinen Gieskannenstaat.
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Overton Window
10.05.2023 18:05registriert August 2022
Sprich, irgendwo in den 1990ern ist es schiefgegangen.
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Macca_the_Alpacca
10.05.2023 18:59registriert Oktober 2021
Ich hatte in der Schule einen grünen Lehrer. Der hat, und das war damals so, immer alles so selber "gelismete" Sachen getragen die dann irgendwann stark zu müffeln begannen. Weil, und das ist heute längst nicht mehr so, sich mache Grüne etwas gar selten gewaschen haben. Kein Auto, alles nur per Velo usw. aber dann 2 Jahre lang auf Weltreise mit vielen Flügen und so. Aber Grün bis ins Mark.
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