Es ist ein Samstagmorgen, gegen 6 Uhr früh, mein Radiowecker geht los, ein ernster Mensch sagt, dass Schweizerhalle brennt. Die Autobahn ist gesperrt. Seit 3:43 Uhr röhren regelmässig die Sirenen. Züge nach Basel fahren keine. 1351 Tonnen Chemikalien drohen, in Flammen aufzugehen. Schweizerhalle! Ich geh' dort nebenan zur Schule, in Muttenz. Fast 30 Kilometer weit weg von meinem Wohndorf. Müssen wir jetzt alle in unsere Luftschutzkeller? Sterben wir jetzt? Seit dem Reaktorunglück von Tschernobyl sind erst 185 Tage vergangen.
Ich renne ins Schlafzimmer meiner Eltern, man hat dort einen Blick über die Rheinebene in Richtung Basel, man sieht die Feldschlösschen-Brauerei in Rheinfelden, Schweizerhalle ist zu weit weg, aber vielleicht ist der Himmel rot? Ist er nicht. Ab 7 Uhr fahren die Züge wieder. Muss ich jetzt trotzdem nicht zur Schule? Muss ich nicht. Doch leider muss ich am Nachmittag unbedingt nach Basel. Ich hab da nämlich ein Problem.
Es ist kein schulisches, sondern ein amouröses: Zwei aus unserer Klasse haben sich verliebt, so richtig (sie sind noch heute zusammen), am Nachmittag wollen sie miteinander an die Basler Herbstmesse, nur einen Nachmittag allein sein, ist ihr Traum. Aber so ganz alleine dürfen sie da nicht hin. Es ist ja erst 1986, und wir sind alle noch sehr, sehr jung.
Ich hab' dem Pärli versprochen, als Anstandsperson mitzukommen. Wobei mich die Sache mit dem Anstand überhaupt nicht interessiert. Ich will sehen, wie sich die beiden küssen. Ich will Romance in action. Und auf ein paar gefährlichen Bahnen fahren.
Es ist ein Kunststück, die Eltern so zu bearbeiten, dass ich zwar nicht zur Schule muss, aber an die Herbstmesse darf. Das Radio hilft mir dabei. Denn das Radio meldet zwar, dass jetzt eine stark nach Schwefel stinkende Wolke über Basel hänge, dass der Rhein rotgefärbt und viele Fische verendet seien, aber dass keine Gefahr für die Bevölkerung bestehe. Höchstens ein bisschen Hustenreiz. Der Alltag kann weitergehen.
Das Pärli und ich fahren nach Basel. Wir erwarten Ungeheuerliches, besonders die toten Fische stellen wir uns grässlich vor: ein Leichenteppich auf dem Rhein. Zu sehen ist davon nichts. Gut, der Rhein ist tatsächlich rot und sicher viele Fische tot, aber nicht so viele, dass sie vom Stadtufer aus zu sehen wären.
Der Gestank ist eher zu erahnen als präsent. Aber er wird uns in den folgenden Wochen noch sehr plagen: Sobald das Wetter von einem Tiefdruckgebiet beeinflusst wird, stinkt es um unser Schulhaus, als läge der ganze Pausenplatz voll fauler Eier. Und wir werden den Verdacht einfach nicht los, dass im Gestank noch irgendeine Gefahr lauert. Man versichert uns das Gegenteil. Ich trete Greenpeace bei.
Ob sich das Pärchen an jenem Samstagnachmittag im November 1986 tatsächlich geküsst hat? Ich habe daran keine Erinnerung mehr. Bis heute haben sich die beiden jedenfalls sehr, sehr oft geküsst.