Mario Draghi, der Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB), packt das grosse Geschütz aus. Beim ersten geldpolitischen Treffen in diesem Jahr hat der EZB-Rat beschlossen, die Geldschleusen weit zu öffnen und den Banken noch mehr Liquidität zur Verfügung zu stellen. Der Entscheid liegt deutlich über den Erwartungen der Analysten. Was bedeutet das Programm? Wo liegen die Risiken? Ein Überblick:
Das klassische Mittel der Notenbanken, um eine kriselnde Wirtschaft anzukurbeln, sind Zinssenkungen. Doch der Leitzins der EZB liegt bereits bei 0,05 Prozent. «Wir befinden uns jetzt in einer Lage, in der wir den Zinssatz noch weiter senken müssten, aber das geht gar nicht mehr», sagte Mario Draghi. In solchen Fällen haben die Notenbanken nur eine Alternative: Eine quantitative Lockerung ihrer Geldpolitik, im Fachausdruck Quantitative Easing (QE).
Konkret bedeutet dies, dass die Zentralbanken im grossen Stil Wertpapiere und Staatsanleihen aufkaufen. Die Geschäftsbanken erhalten dadurch frisches Geld, dass sie als günstige Kredite an Unternehmen und Private ausleihen sollen, um die Wirtschaft zu stimulieren. Als weiterer Effekt soll der Wechselkurs des Euro geschwächt werden, was der Exportwirtschaft helfen würde.
Die Preisentwicklung in der Eurozone bereitet den Notenbankern Sorgen. Im Dezember sind die Konsumentenpreise erstmals seit dem Krisenjahr 2009 gesunken. Die EZB hat als Zielmarke jedoch eine Inflation von 2,0 Prozent definiert. «Die Entwicklung ist schwächer als erwartet», sagte Mario Draghi vor den Medien. Die Geldpolitiker fürchten ein Abrutschen in eine gefährliche Deflation – eine Spirale aus rückläufigen Preisen und schrumpfender Wirtschaft.
Draghi: Combined monthly purchases will be €60 billion, to be carried out at least until end-Sept 2016
— ECB (@ecb) 22. Januar 2015
Bislang gingen Beobachter von einem Programm im Umfang von 500 Milliarden Euro aus. In den letzten Tagen zeichnete sich jedoch jenes Szenario ab, das Draghi am Donnerstag ankündigte: Die EZB wird von März 2015 bis September 2016 Anleihen im Umfang von 60 Milliarden Euro pro Monat ankaufen. Der gesamte Umfang beläuft sich demnach auf bis zu 1200 Milliarden oder 1,2 Billionen Euro. Dies entspricht laut dem «Guardian» den Forderungen der Finanzmärkte, die mit jedem Betrag unter einer Billion «unglücklich seien».
Der grösste Widerstand gegen Draghis QE-Programm kommt aus Deutschland, dem Schwergewicht in der Eurozone. Bundesbank-Präsident Jens Weidmann befürchtet, Anleihenkäufe könnten den Reformdruck auf die Krisenländer im Süden abschwächen. Ausserdem wehren sich die Deutschen vehement gegen eine Vergemeinschaftung der Staatsschulden in der Eurozone, sie wollen nicht für die «Pleiteländer» haften.
Um den Bedenken Rechnung zu tragen, greift die EZB zu einem Trick. Die Ankäufe der Staatsanleihen sollen nicht durch die Zentralbank, sondern durch die nationalen Notenbanken erfolgen. Diese sollen auch für mögliche Ausfälle haften. Damit dürfte Mario Draghi die Mehrheit im EZB-Rat auf seine Seite gebracht haben. Die ebenfalls skeptischen Niederländer hatten bereits im Vorfeld Zustimmung signalisiert.
Ein Gutachten des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) hat juristische Einwände weitgehend ausgeräumt. Grundsätzlich dürfe die EZB Anleihen von Krisenstaaten kaufen. Voraussetzung sei, dass die Käufe gut begründet und verhältnismässig seien. Die Kritiker sind aber nicht verstummt. Sie warnen, die EZB finanziere letztlich Staatsschulden mit der Notenpresse und gefährde damit ihre Unabhängigkeit. Befürchtet wird weiter, dass sich durch die Geldschwemme neue Blasen an den Finanzmärkten bilden könnten.
Auch von dieser Seite gibt es Bedenken, allerdings anderer Art. Vor allem in angelsächsischen Ländern wird moniert, das Programm sei «too little, too late» – zu klein und zu spät. Ein Ökonom des Londoner Forschungsinstituts Capital Economics meinte gegenüber dem «Guardian», er sei «nicht sehr zuversichtlich, dass das Programm gross und effektiv genug ist, um die Wirtschaft der Eurozone zu beleben und das Risiko einer anhaltenden Deflation zu eliminieren».
Nach der Aufhebung des Mindestkurses durch die Nationalbank vor einer Woche ist der Euro getaucht. Sein Kurs bewegt sich derzeit im Bereich der Parität von 1:1 gegenüber dem Franken. Eine Analyse von «Cash» ging im Vorfeld davon aus, dass sich bei einem EZB-Programm von 500 Milliarden Euro daran kaum etwas geändert hätte. Bei einem Umfang von einer Billion Euro, wie nun von den Frankfurter Währungshütern beschlossen, würde der Franken dagegen «schlagartig stärker werden».
Ein solcher Effekt blieb vorerst aus. Der frühere UBS-Chef Oswald Grübel hat im Interview mit watson jedoch erklärt, er wäre «nicht überrascht, wenn der Franken in die tiefen 90er fallen würde». Der Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann hält in diesem Fall ein Worst-Case-Szenario für möglich, mit Rezession, Deflation und einer Immobilienkrise. Dann droht der Schweiz eine lange Phase mit Stagnation und Nullwachstum. Die Hoffnungen ruhen auf einem Aufschwung in der Eurozone.