Die Rauflust hat die Menschen zu allen Zeiten fasziniert. Schon Britanniens Literaturnobelpreisträger Rudyard Kipling («Das Dschungelbuch») hatte im19. Jahrhundert getextet: Es gibt nicht Osten noch Westen Nicht Grenze, Herkunft, Geburt Stehen sich zwei Männer gegenüber, Kommend von den Enden der Welt.
Doch nur in der Schweiz ist aus einem bäuerlichen Kampfsport innert 25 Jahren «Big Business» und eine nationale Einigungsbewegung geworden. Kein anderer Sport hat sich in den letzten 25 Jahren so stürmisch entwickelt. Christoph Blocher hat einmal gesagt, das «Eidgenössische» sei für die Konservativen was der 1. Mai für die Linken ist.
Die Linken haben vergeblich versucht, im Schwingen Fuss zu fassen. Sie gründeten 1919 in Oerlikon den «Arbeiterschwingerverband» und krönten ihre eigenen Könige. Sie sind Fussnoten der Schwingergeschichte geblieben. Monarchie und Sozialismus passen nicht zusammen. Das letzte Fest haben die Genossen 1976 auf dem Aargauer Schafmatt-Pass ausgetragen.
Wenn am nächsten Wochenende in Zug um den Thron des Königs gerungen wird, eilen Politiker aller Couleur herbei und die Krämer auch. Man muss sie nicht mehr rufen.
Die Armee hilft beim Auf- und Abbau der grössten mobilen Tribüne der Welt, die aus 300 000 Einzelteilen besteht und 3000 Tonnen wiegt. Als Festredner kommen nur Bundesräte in Frage. Christoph Blocher war der letzte nichtbundesrätliche Hauptfestredner. Er hatte sich den Auftritt 1995 beim «Eidgenössischen» in Chur durch Defizitgarantie und Munispende erkauft.
Die Zuschauerzahlen sind seit 1998 (Bern) von 38 000 auf den neuen Rekord von 56 500 in Zug gestiegen – bei Anfragen für 183 000 Tickets. Das Budget von etwas mehr als 35 Millionen ist sechsmal höher als 1998, und inzwischen hat die Werbeindustrie das Schwingen entdeckt: Sie investiert mehr als 10 Millionen ins «Eidgenössische» und es wollten so viele den Siegermuni finanzieren, dass der Spender des kräftigen Tieres per Losentscheid ermittelt werden musste.
Die Arena ist innen werbefrei, aber aussen herum darf geworben werden und die Marketing-Strategen haben aus dem «Eidgenössischen» ein Woodstock der Urchigen gemacht, das inzwischen an den zwei Tagen gut 300'000 Besucher aufs Festgelände lockt.
2010 ist das Werbeverbot für die Schwinger aufgehoben worden. Die persönlichen Werbeeinkünfte der «Böse» sind seit 2011 von jährlich 690 000 Franken auf heute 2,277 Millionen gestiegen. 35 Schwinger trugen 2011 ihre Haut zu Markte, heute sind es mehr als 80.
Was steckt hinter dieser stürmischen Entwicklung? Nationalkonservative Romantiker verweisen gerne auf die Kraft des Brauchtums, die sich nun in Zeiten der Globalisierung einem Naturgesetz gleich Bahn bricht und zur Besinnung auf die wahren eidgenössischen Werte führt.
Doch die Wahrheit ist eine andere. Der Boom des bodenständigen Rutzens ist in erster Linie das Produkt der TV-Präsenz.
Das staatstragende Fernsehen hatte zwar schon 1966 einen Vertrag mit den Schwingern, entdeckte aber erst 1998 die Zugkraft des Urchigen. Beim «Eidgenössischen» in Bern schaltete man vor dem Schlussgang zwischen Jörg Abderhalden und Werner Vitali auf die Endphase des Formel-1-Rennens in Spa um.
Ein Proteststurm fegte durch den Leutschenbach und beim Lokalsender «TeleBärn», dem man grosszügig die Live-Rechte überlassen hatte, schossen die Quoten in den Himmel. Seither ist es undenkbar, dass die Formel 1 je wieder das «Eidgenössische» vom Bildschirm verdrängt.
Seine rasante Entwicklung hat das Schwingen also nicht mit eigenen PR-Aktionen oder Reglements-Anpassungen an die Moderne herbeigeführt. Der Hosenlupf läuft seit über 100 Jahren nach dem gleichen Grundmuster. Es gibt – anders als im Boxen, Ringen oder Judo – keine Gewichtsklassen.
Der kleine, flinke David kann mit Technik und Schlauheit den mächtigsten Goliath besiegen. Ein ausgeklügeltes System (die sog. «Einteilung») sorgt dafür, dass der Sieger im letzten Kampf («Schlussgang») ermittelt wird. Diese Dramaturgie macht aus Schwingen den perfekten TV-Sport.
Das Problem: Das alles war bis zum Beginn des 21. Jahrhunderts bloss einem Kreis von Kennerinnen und Kennern bekannt. Nicht viel mehr als 30 000 besuchten bis in die 1990er Jahre zum «Eidgenössischen». Den urbanen Modemäusen und Hipstern kam es nicht in den Sinn, einem Spektakel beizuwohnen, das den Stallgeruch des bäuerlichen Sonntagsvergnügens hat. Erst das Fernsehen hat die Faszination des Schwingens, die Erotik des kecken Recken in die Kreise der Stöckelschuhe und Männer-Handtäschchen gebracht.
Dank den TV-Übertragungen interessieren sich heute so viele Menschen wie noch nie fürs Schwingen und das Drumherum mit Holztrompeten, flatternden Fahnen und Jodelgesängen. Der Boom ist von aussen angefacht worden und das Produkt der TV-Bilder, die den Nerv der Zeit treffen. Die Schweizerinnen und Schweizer haben in den unsicheren Zeiten der Globalisierung durch das öffentlich- rechtliche Fernsehen eine heile, lange verborgen gebliebene Gegenwelt entdeckt. So ist das «Eidgenössische» nicht nur zum grössten Sportevent im Lande, sondern auch zu einer machtvollen Demonstration schweizerischer Eigenart geworden.
Aber an der Basis rauscht der Boom vorbei. Die Zahl der Aktiven ist seit 1895, dem ESV-Gründungsjahr, mit rund 3000 ungefähr gleichgeblieben.
Alle Firmen wollen Billete verteilen und am Ende sitzen auf den Tribünen Leute in ihren neu gekauften Edelweisshemden die nicht wissen, dass der Schlussgang kein Final ist.
Ein Schaulaufen konservativer Füdlibürger die nichts mit dem Schwingen zu tun haben.
Die "Schattenseiten" konnte ich letzte Woche auf der Schwägalp sehr gut beobachten:
Extrem viele Menschen die keine Ahnung vom Geschehen in der Arena haben. (Während dem 3. Gang Giger-Mathis steht einer vor uns auf, redet mit seiner Sitznachbarin, ohne den Kampf zu schauen. Erst nach mehrmaligem hinweisen hat er sich wieder gesetzt)
Auch gab es diverse die den ganzen Tag mit nichts anderem beschäftigt waren, als Selfies zu machen und Insta-Posts abzusetzen.