Warum hat nicht einmal ein Psychiater es kommen sehen? Nach jeder Aufsehen erregenden Bluttat steht diese Frage im Raum – etwa nach dem Amoklauf in Salez 2016 oder nach dem Vierfachmord von Rupperswil. Und so auch jetzt nach der Bluttat in Flums. Die Antwort mündet in einem Dilemma.
Bei potenziellen Gewalttätern werden Psychiater zerrieben zwischen den Bedürfnissen ihrer Patienten und den Sicherheitsansprüchen der Gesellschaft. «Als forensischer Psychiater würde ich sehr viele Leute als potenziell gefährlich bezeichnen; sie werden dennoch nie gewalttätig, obwohl sie nie psychiatrisch behandelt werden», sagt Elmar Habermeyer, Direktor der Klinik für Forensische Psychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich.
Das Schlüsselwort in diesen Sätzen ist: potenziell. Diese Menschen könnten vielleicht gewalttätig werden. Andere werden gewalttätig – und niemand hatte sie auf dem Radar, wie den mutmasslichen Rupperswiler Vierfachmörder. Menschliches Verhalten lässt sich nicht zu hundert Prozent vorhersagen.
Gewalttaten von psychisch kranken Menschen stossen auf Abscheu – und beflügeln zugleich die Fantasie. Zeugnis davon geben die vielen Serientäter in der Kriminalliteratur. Berühmtestes Beispiel ist «Der seltsame Fall des Dr. Jeckyl und Mr. Hyde», eine Novelle von 1886 über einen gewalttätigen Schizophrenen. Diese Darstellung habe mit dem Krankheitsbild nichts gemein; für die Kranken bleibe sie aber bis heute ein Stigma, sagt Habermeyer.
Schizophrenie sei eine schwere psychische Erkrankung, die mit Störungen der Realitätswahrnehmung verbunden sei. «Schizophrene Menschen haben zwar ein erhöhtes Gewaltrisiko im Vergleich zu den psychisch Gesunden, aber nur einer von 2000 Schizophrenen wird gewalttätig.» Dies liegt nicht daran, dass Schizophrene brav in die Therapie gehen und ihre Medikamente schlucken.
Gemäss Studien nehmen 1600 von 2000 Schizophrenen ihre Medikamente nicht regelmässig ein. «Schizophrene Patienten haben oftmals eine schlechte Behandlungseinsicht. Sie sind krankheitsbedingt, weil sie sich verfolgt oder bedroht sehen, extrem misstrauisch.» Gerade Patienten mit problematischen Verhaltensweisen verweigerten in einer sich zuspitzenden Krise Behandlungen und setzten Medikamente ab.
Ein allgemeiner Psychiater kann solche Patienten nicht zu etwas zwingen. Die Therapie ist freiwillig. Es gibt Medikamente mit Langzeitwirkung, doch: «Es gibt fast keine Möglichkeiten, einem Patienten Depotmedikamente zu verabreichen, wenn er nicht will.»
Ein Psychiater habe bei einem womöglich gefährlichen Patienten nur die Wahl zwischen zwei falschen Entscheiden: dem Einsatz von Medikamenten gegen den Willen des Patienten oder dem Risiko, dass man ihm Verantwortungslosigkeit vorwerfe. «Wird ein psychisch auffälliger Mensch, der in Behandlung war, später einmal gewalttätig, heisst es: Wen habt ihr denn da laufen lassen?»
Psychiater wüssten um das Bedürfnis der Menschen nach Sicherheit. Doch Kriminalprävention sei Aufgabe vieler Akteure. «Die ‹Problemfälle› sind oft beim Sozialamt als querulant bekannt, beziehen bei der IV eine Rente, die Polizei kennt sie wegen Ruhestörungen und die Psychiatrie, weil sie sie wegen Alkoholsucht behandelt hat. Die Informationen werden aber nicht zusammengefügt, und man setzt sich nicht zusammen und überlegt, wie man diesem Menschen helfen könnte.»
Einige Kantone kennen Ansätze, so Zürich mit dem kantonalen Bedrohnungsmanagement – Gewaltschutz, und grössere Städte haben Anlaufstellen für psychisch Kranke. Doch auf dem Land bleiben viele allein.
Bei Krisen bleibt oft nur eine Zwangseinweisung in die Psychiatrie mittels Fürsorgerischer Unterbringung (FU). Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium Obsan schätzt, dass 2015 rund 14'000 FU angeordnet wurden.
Eine FU könne nur bei akuter Gefahr verfügt werden, weil sie einen massiven Eingriff in die Grundrechte bedeute. Ein Psychiater mache es sich nicht leicht, wenn er sich dafür entscheide, denn die «paternalistischen» Zeiten, als «der Psychiater, wusste, was gut für den Patienten ist und der sich zu fügen hat», seien vorbei.
Beim Zürcher Forensik-Professor in der «Gerichtspsychiatrie» landen die schon verurteilten, psychisch kranken Straftäter. «Wir von der Klinik geben dann die Behandlungsstruktur vor.» Zwang sei manchmal eine Chance für psychisch kranke Menschen.
Alle präventiv einzusperren, sei in einem Rechtsstaat keine Option. Und da nur ganz wenige auch gewalttätig werden, bringt diese Art «Gewaltprävention» nichts: «An der Gesamtkriminalität der Gesellschaft würde es nichts ändern.» Der Grossteil der Gewalttäter leide nicht an psychischen Störungen. (sda)