Herr Bornschier, Marine Le Pen will nach der gestrigen Niederlage den Namen ihres Front National (FN) ändern. Warum das denn?
Simon Bornschier: Sie hat das Gefühl, dass die Macht in Griffnähe ist. Ihre Strategie, die Partei zu «entdiabolisieren» und vom Erbe ihres Vaters Jean-Marie zu befreien, ist teilweise aufgegangen. Aber sie hat im Wahlkampf auch zu spüren bekommen, dass sie von den anderen Parteien immer noch ausgegrenzt wird. Mit dem neuen Mäntelchen will sie den Front National wohl definitiv salonfähig machen.
Die Gegner Le Pens auf der ganzen Welt jubelten am Sonntag, der Vormarsch des Rechtspopulismus in Europa sei gestoppt. Einverstanden? Immerhin ging jede dritte Stimme in Frankreich an die FN-Chefin.
Nein, von einem Rückschlag kann keine Rede sein. Immerhin ist es das beste Ergebnis in der Geschichte des Front National. Auch viele Wähler im rechten Spektrum, die sich bisher gescheut hatten, den Front National zu wählen, haben nun Le Pen die Stimme gegeben. Da ist in den Köpfen ganz klar eine Barriere gefallen.
Könnte Le Pen ihren Wähleranteil mit dem neuen Parteinamen und einer klugen Marketing-Strategie weiter ausbauen?
Man geht davon aus, dass in den meisten westeuropäischen Ländern etwa ein Drittel der Bevölkerung in Migrations- und Öffnungsfragen sehr kritisch eingestellt ist. Ein weiterer Drittel ist dezidiert proeuropäisch und multikulturell geprägt, ein Drittel bewegt sich irgendwo dazwischen. Mit den 34 Prozent vom Sonntag hat der Front National sein Wählerpotenzial wohl weitgehend ausgeschöpft.
Sie glauben also nicht, dass es möglich ist, massentauglicher zu werden und gleichzeitig den rechten Rand bei der Stange zu halten?
Kaum. Das primäre Argument, Le Pen zu wählen, ist und bleibt die Migrationspolitik. Dort sind die Positionen des Front National sehr weit rechts. Marine Le Pen hat in den letzten Jahren zwar versucht, mit sozialpolitischen Forderungen wie einem tieferen Rentenalter zusätzliche Wählerkreise zu erschliessen, war damit aber nur begrenzt erfolgreich.
Ihrer Theorie zufolge dürften also alle rechtspopulistischen Parteien in Westeuropa bei plus/minus 30 Prozent Wähleranteil an ihre Grenzen stossen?
Aktuell würde ich das unterschreiben. Auch die SVP hat ihr Wählerpotenzial laut unseren Berechnungen mit knapp 30 Prozent ausgeschöpft. Aber diese Einschätzung basiert auf Erhebungen zu den Leuten, die heute wahlberechtigt sind. Wir wissen nicht, wie sich die jungen Wähler in Europa und in der Schweiz entwickeln. Dies hängt meines Erachtens auch stark von den anderen Parteien ab: Schaffen sie es, überzeugende Gegenangebote zu machen?
Manche Beobachter gehen davon aus, dass Le Pen in fünf Jahren praktisch freie Bahn hat, falls Emmanuel Macron als Präsident seine Chance nicht packt. Glauben Sie das auch?
Nein, das wage ich zu bezweifeln. Die zwei Drittel der Franzosen, die nicht auf Front-National-Linie sind, werden die Seite nicht so schnell wechseln.
Der Nachwuchs steht beim FN schon in den Startlöchern: Marion Maréchal-Le Pen (27) ist jung, engagiert und noch rechter als ihre Tante Marine. Ihr Grossvater Jean-Marie bezeichnete sie bereits als «die bessere Präsidentschaftskandiatin».
Gut möglich, dass sie in den eigenen Reihen der nächste grosse Star wird. Darüber hinaus zu punkten, wird wohl auch für sie schwierig.
Sie sagten, die anderen Parteien müssten nun überzeugende Gegenangebote machen. Wie stellen Sie sich diese vor?
Erstens muss es darum gehen, wieder vermehrt eigene Themen zu besetzen und nicht bloss auf die Provokationen von rechts zu reagieren. Die neue Linke ist in den 80er- und 90er-Jahren wahnsinnig gewachsen, als sie Themen wie Gleichberechtigung und Ökologie besetzte. Es sollte der Anspruch der Mitte- und Links-Parteien sein, die Agenda wieder auf diese Art prägen zu können. Solche Themen zu finden, ist zugegebenermassen aber nicht ganz einfach.
Und zweitens?
Es scheint mir auch wichtig, dass die Parteien vom einseitigen Fokus auf die Migration wegkommen. Stattdessen müssten sie etwa in der Wirtschaftspolitik aktiver werden. In vielen EU-Ländern scheinen die etablierten Parteien die EU als neoliberales Projekt akzeptiert zu haben. Dabei könnten sie sich profilieren, indem sie für mehr soziale Absicherung und Mindeststandards kämpfen. Damit könnten sie etwa auch die Arbeiter ansprechen, die nun aus Frust Le Pen gewählt haben.