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Wladimir Putin hat nichts mit Karl Marx am Hut. «Seit dem Untergang der Sowjetunion hat es beim russischen Regime einen massiven Ideologie-Wechsel gegeben», stellt der Russland-Kenner Walter Laqueur in seinem Buch «Putinismus» fest. «Der Kommunismus wurde ersetzt durch russischen Nationalismus und die Glorifizierung des starken Staates.»
Kein Wunder also, lässt sich Putin regelmässig mit Popen der erzkonservativen orthodoxen Kirche ablichten. Zu seinen bevorzugten weltlichen Vordenkern gehören Ivan Ilyin und Alexander Gelyevich Dugin.
Ilyin war ein fanatischer russischer Nationalist, der nach der Oktoberrevolution vor den Kommunisten fliehen musste. Zunächst lebte er in Berlin, wo er sich für eine Verbrüderung zwischen Hitler und Stalin einsetzte. Später wurde er von den Nazis ausgewiesen und reiste in die Schweiz. Seinen Sympathien für den Faschismus tat dies keinen Abbruch.
Nach dem Zweiten Weltkrieg bedauerte er die taktischen Fehler, die Hitler begangen hatte, und hoffte darauf, dass Franco in Spanien sie zu vermeiden wusste. Putin hat die sterblichen Überreste Ilyins nach Russland überführen lassen und hat 2014 seinen Getreuen ans Herz gelegt, dessen Buch «Unsere Mission» zu lesen.
Noch bizarrer ist die Figur von Dugin. In seiner Jugend gehörte er einer kleinen Gruppe an, der die SS als Vorbild diente. Heute vertritt er eine obskure antisemitische Verschwörungstheorie und wettert gegen die Globalisierung und den Liberalismus. Verbunden damit ist das Ideal des Eurasinismus, ein von Wladiwostok bis Lissabon reichender Staatenbund unter russischer Führung.
Putin hasst die Vereinigten Staaten so sehr, dass er sich meist weigert, ihren Namen auszusprechen. Für ihn befindet sich die Welt am Rande des Abgrundes. Schuld daran sind die USA. Er selbst sieht sich in der Rolle eines Retters.
Allerdings könnte es auch sein, dass Putin mit seinen Tiraden gegen die USA von seinen eigenen, wirtschaftlichen Schwächen ablenken will. Seit der Ölpreis in den Keller gerasselt ist, befindet sich die russische Wirtschaft in einer schweren Rezession. Die angebliche westliche Aggression kommt daher sehr gelegen.
Die Kriegspropaganda in den russischen Medien hat hysterische Ausmasse angenommen. Das Land befindet sich mental bereits in einem Dritten Weltkrieg. «Das strategische Ziel von Putins Kriegen ist der Krieg selbst», warnt Masha Gessen, eine führende russische Journalistin und Putin-Biografin. «Das gilt für die Ukraine genauso wie für Syrien. Beide Konflikte sind Kriege, bei denen sich kein Ende abzeichnet, weil in den Augen von Herrn Putin Russland sich nur dann im Frieden fühlen kann, wenn es sich im Kriegszustand befindet.»
Die Politologie-Professorin Karen Dawisha hat in ihrem Buch «Putin’s Kleptocracy» den Aufstieg Putins zur Macht minutiös dokumentiert. Sie stellt dabei fest, dass er sich seit Beginn der Neunzigerjahre in St.Petersburg auf einen kleinen, verschworenen inneren Kreis stützt.
Putins Aufstieg wird gelegentlich als Zufall in der chaotischen Jelzin-Ära bezeichnet. Dawisha lehnt diese These entschieden ab. «Putins Geschichte ist nicht die Geschichte von Cowboy-Kapitalismus», hält sie fest. «Es ist die Geschichte eines extrem fähigen Politikers, der es verstanden hat, eine Gruppe von Individuen um sich zu scharen, die sich Russland verpflichtet fühlen, aber noch mehr fühlen sie sich dazu verpflichtet, ihr eigenes Überleben und ihren Reichtum zu sichern.»
Putin hat es verstanden, die russische Mafia, den Geheimdienst und die Oligarchen unter einem Hut zu vereinen. Heute wird er von einer Prätorianergarde von ehemaligen KGB-Leuten, den sogenannten «Siloviki», beschützt.
Er setzt dabei auf das Prinzip der Gegenseitigkeit: Wer mir treu dient, wird auch belohnt. Das hat sich ausbezahlt. «Seine Freunde haben ihn nie in der Öffentlichkeit kritisiert, sie haben seine Feinde beiseite geschafft und sie bezahlten ihm Tribut.»
Gazprom ist eine der grössten Publikumsgesellschaften der Welt und trägt rund acht Prozent zum russischen Bruttoinlandsprodukt bei. Im Jahr 2011 machte Mikhayl Krutikhin von der Beratungsfirma RusEnergy eine erstaunliche Aussage:
Selbstverständlich kann diese Aussage nicht verifiziert werden. Dass zwischen Gazprom und dem Kreml enge Bande bestehen, ist unbestritten. Premierminister Dmitri Medwedew war einst CEO von Gazprom. Generell ist die Konkurrenz im Öl- und Gasgeschäft ausgeschaltet worden.
Der ehemalige Yukos-Chef Michail Chodorkowski wurde zuerst ins Gefängnis geworfen und dann ins Ausland vertrieben. Er lebt heute in Rapperswil.
Einige Oligarchen der ersten Stunde haben das gleiche Schicksal erlitten, selbst der inzwischen verstorbene Boris Beresowski, der Putin bei Jelzin eingeführt hat. Nur die Oligarchen, die sich Putin bedingungslos unterwerfen, können sich weiter ihres Reichtums erfreuen. Der bekannteste von ihnen ist der Chelsea-Besitzer Roman Abramowitsch oder der in der Schweiz nicht ganz unbekannte Wiktor Wekselberg.
Vertrieben wurde auch der US-Hedge-Fund-Manager Bill Browder. Er hat zunächst mit Putin kooperiert, fiel dann jedoch in Ungnade und musste Russland verlassen. Browder ist überzeugt, dass Putin der reichste Mann der Welt ist, und schätzt sein Vermögen auf über 200 Milliarden Dollar ein.
Für die Putin-treuen Oligarchen ist Russland ein Paradies. Der durchschnittliche Russe ist gemäss Dawisha ärmer als der durchschnittliche Chinese oder selbst der durchschnittliche Inder. «Russland ist das Land, in dem die Superreichen den grössten Schutz geniessen», schreibt sie. «Ohne persönliches Eingreifen von Putin wäre das nicht möglich.»
Als Putin kurz nach seinem Amtsantritt als Präsident im Jahr 2000 ans Schwarze Meer nach Sotchi in die Sommerferien verreiste, spielte sich in der nördlichen Barentssee eine Tragödie ab. Das Atom-Unterseeboot Kursk mit 118 Mann an Bord war gesunken. In einem dramatischen Wettlauf gegen die Zeit versuchten nationale und internationale Hilfstrupps das Leben der Matrosen zu retten.
Putin liess dies kalt. Er sah zunächst keinen Grund, seinen Urlaub abzubrechen. Erst als er dafür in den Medien immer heftiger kritisiert wurde, begab er sich an die Küste, sprach zu den aufgebrachten Hinterbliebenen und warf sich in die Pose des Retters in höchster Not. Vergeblich: Alle 118 Insassen waren bereits tot.
Der Fall Kursk war der Auftakt zu einer umfassenden Säuberung und Gleichschaltung der russischen Medien. Unliebsame Journalisten verloren nicht nur ihren Job, sondern gelegentlich auch ihr Leben. Schlagzeilen machte dabei der Fall von Anna Politkowskaja. Sie hatte Putins grausamen Tschetschenienkrieg kritisiert. Im Oktober 2006 wurde sie im Treppenhaus ihrer Wohnung ermordet aufgefunden.
Inzwischen haben Zensoren und Mafiosi ganze Arbeit geleistet. Die Medien sind gleichgeschaltet. Der russische Soziologe Igor Eidman stellte kürzlich in der NZZ fest: «Ich selber habe in Moskau lange Jahre in den Bereichen PR und Politikberatung gearbeitet, auch in der Duma (dem russischen Parlament, Anm. d. Red.), und selber gesehen, wie damit schrittweise die demokratischen Institutionen kaputtgemacht wurden: Freie Wahlen, freie Opposition, freie Presse, unabhängige öffentliche Meinung gibt es in Russland nicht mehr.»
Eidman weist auch auf ein weiteres Phänomen hin, die sogenannten Putin-Trolls. Via YouTube verbreitete TV-Sender wie «Russia Today» und gekaufte Kommentare in den Sozialen Medien wird russische Propaganda systematisch verbreitet. «Mit der Korruption, von der sein ganzes System durchsetzt ist, will Putin die gesamte EU infizieren», so Eidman. «Stillschweigend wird das demokratische Staats-und Rechtswesen nach dem Modell Russland untergraben. Dort hat die staatliche Propaganda die Begriffe Liberalismus und Toleranz praktisch zu Schimpfwörtern degradiert.»
Wer sich mit Putin anlegt, lebt gefährlich. Nicht nur Journalisten werden umgebracht, auch Oppositionspolitiker wie Boris Nemtsow, der vor Jahresfrist angeblich von Tschetschenen in der Nähe des Kremls ermordet wurde.
Der wohl spektakulärste Fall betrifft indes Alexander Litwinenko. Er war wie Putin einst Mitglied des russischen Geheimdienstes KGB, der heute FSB heisst. Litwinenko wurde jedoch kein Silovik, er ging auf Distanz, mehr noch, er begann, kritische Fragen zu stellen, beispielsweise zum Tod von Anna Politkowskaja.
Vor allem jedoch vertrat er eine für Putin untolerierbare These: Die Anschläge auf mehrere Hochhäuser in Moskau im Herbst 1999 seien nicht – wie offiziell behauptet – von Tschetschenen, sondern vom FSB selbst verübt worden. Damals starben hunderte von Zivilisten. Die vermeintlichen Terrorakte waren der Auftakt zum russischen Feldzug gegen den aufmüpfigen Teilstaat im Kaukasus. Dabei wurde die Hauptstadt Grosny – wie heute etwa Aleppo – ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung in die Steinzeit zurückgebombt.
Litwinenko wurde im November 2006 in London auf besonders perfide Art umgebracht. Das oberste englische Gericht hält es für erwiesen, dass zwei russische Geheimagenten seinen Tee mit dem radioaktiven Polonium-210 vergiftet hatten. Obwohl die Namen der beiden Mörder bekannt sind, weigert sich Russland, sie auszuliefern.
Ebenfalls sehr bekannt ist der Fall des Anwalts Sergej Magnitski. Er verteidigte die Interessen des Hedge-Fund-Managers Bill Browder und wurde in einem Moskauer Gefängnis zu Tode geprügelt. Der Fall Magnitski hatte politische Konsequenzen: Ende 2012 verabschiedete der US-Kongress ein Gesetz, das die Bestrafung der Schuldigen in diesem Fall einforderte. Der Magnitski-Act bildet die Grundlage für die Liste der Namen, die heute auf der Sanktionsliste gegen Russland stehen.
Nichts soll Putin mehr in Rage gebracht haben als eine saloppe Bemerkung von US-Präsident Barack Obama, Russland sei eine «regionale Macht» geworden. Die Russen wollen eine Grossmacht sein, und Putin setzt alles daran, diesen Wunsch zu erfüllen. Obwohl das Land wirtschaftlich am Boden liegt, lässt er deshalb aufrüsten, vor allem auch die Atomstreitmacht. Er lässt neue hochmoderne Atom-Unterseeboote bauen und erneuert die landgestützten Interkontinentalraketen. Ähnlich wie im Kalten Krieg entsteht so wieder ein «Gleichgewicht des Schreckens» mit den USA.
Politisch will Putin die EU destabilisieren. Deshalb unterstützt er populistische Parteien, angefangen vom französischen Front National bis hin zur faschistischen Griechen-Partei «Goldene Morgenröte». Putins durchgeknallte Philosophen wie Dugin träumen von einer Partnerschaft zwischen Russland und Deutschland, mit der die vermeintliche Vorherrschaft der Angelsachsen endlich gebrochen werden soll.
Das geht dem Politologen und Russlandexperten Mitchell Orenstein zu weit. Er glaubt, dass Putin sich als eine Art moderne Version des Strippenziehers am Hof von Wien, Fürst von Metternich, sieht. Dieser erzreaktionäre Intrigant hatte nach der Niederlage Napoleons grossen Einfluss auf das Schicksal von Europa. «In einem Europa der Nationalstaaten könnte Russland die Rolle einer Ordnungsmacht und Putin die Rolle von Fürst von Metternich spielen», glaubt Orenstein.