Die Fallzahlen steigen überall rasant in die Höhe, doch die drei deutschsprachigen Länder reagieren ganz unterschiedlich. Doch womöglich nähern sie sich bald an: Wie lange kann sich die Schweiz den Sonderweg noch leisten?
Eine Spurensuche in Bern, Berlin und Wien.
Die Schweiz wirkt wieder mal wie eine Insel der Glücksseeligen. Die Regierungen in unseren Nachbarländern Deutschland und Österreich beeilen sich mit neuen Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie, warnen vor einem katastrophalen Winter. Und der Bundesrat? Nach seiner wöchentlichen Sitzung am Mittwoch trudelten viele Medienmitteilungen ein. Nur keine zu Corona.
Öffentlich gibt sich Gesundheitsminister Alain Berset gelassen. Am Donnerstag traf er sich mit der Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren (GDK) zu einer Sitzung. Im Anschluss trat er mit dem Basler Regierungsrat und GDK-Präsidenten Lukas Engelberger vor die Medien. Und Berset stellte klar: «Jedes Land hat seine eigene Realität.» Zwar würden die Fallzahlen auch in der Schweiz rasch ansteigen – am Donnerstag meldete das Bundesamt für Gesundheit über 6000 Infektionen – doch die Hospitalisationen würden deutlich langsamer zunehmen: «Wir brauchen keine neuen Massnahmen», so Berset.
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Gegen aussen wird also Lockerheit zelebriert. An der Sitzung indes herrschte dem Vernehmen nach grosse Anspannung. Engelberger räumte denn auch ein: «Wir stehen am Anfang von einer Bewährungsprobe.»
Das Verhältnis zwischen Bund und Kantonen war auch schon besser. Das Virus zirkuliert zwar aktuell vor allem bei jungen Personen stark. Früher oder später wird es aber auch wieder vermehrt auf ältere Generationen übergreifen – mit stärkeren Folgen. Einerseits für die infizierte Person selbst, aber auch das Gesundheitssystem als ganzes. Zudem steigen die Hospitalisationszahlen immer mit einer gewissen Verzögerung. Und dass das Virus den Winter besonders gut mag, ist nach 21 Monaten Pandemieerfahrung auch allen klar.
Mit anderen Worten: Bund und Kantone rechnen mit schwierigen Zeiten. Nur: Wer soll neue Massnahmen ergreifen und wann? Die Frage spaltete schon im letzten Herbst das Land. Und nun erlebt man grad ein déjà vu. Die Kantone hätten gerne mehr Führung vom Bund, so erzählen es verschiedene Involvierte. Berset aber findet, die Kantone seien in der Verantwortung. Zudem würde das Parlament Druck machen, dass der Bund auf Verschärfungen verzichte.
Gesundheitsminister Berset stellte an der Medienkonferenz deshalb klar: Die regionalen Unterschiede bei den Infektionen und Hospitalisierungen seien gross, zusätzliche nationale Massnahmen unverhältnismässig. «Die Kantone können selber härter durchgreifen.» Besonders verärgert ist man in Bersets Departement darüber, dass die Kantone die Empfehlung des Bundes nicht umsetzen. So etwa repetitive Tests an Schulen oder Zertifikatspflicht für Besucher in Heimen und Spitälern.
Engelberg gelobte öffentlich Besserung. Die Kantone würden an der Verstärkung der Schutzmassnahmen arbeiten und sich auf eine Verschärfung der Situation vorbereiten. Er nannte namentlich auch die Schulen als Problem: «Dem müssen wir uns stellen.»
Angst vor einem neuerlichen Flickenteppich, wenn die Kantone einzeln ihre Massnahmen verschärfen, hat Berset nicht. Engelberger gab sich diplomatisch: «Jeder Kanton muss für sich die Verantwortung übernehmen. Dass wir uns koordinieren ist aber nicht realistisch.» Die Kantone sind geprägt von den Erfahrungen aus dem letzten Jahr und finden, unterschiedliche Regelungen würden die Akzeptanz schmälern.
Vor allem findet man in vielen Kantonen aber auch, dass ihr Handlungsspielraum eher beschränkt sei. Zu den Massnahmen, die man für wirksam hält, zählen etwa eine Maskenpflicht in Innenräumen selbst an Orten, wo Zertifikatspflicht gilt. Oder auch eine Home-Office-Pflicht. Diese Instrumente müssten national eingeführt werden. Immerhin in einem Punkt sind sich Berset und Engelberger aber einig: 2G ist in der Schweiz derzeit kein Thema. Das Zertifikat soll es also auch künftig nicht nur für Geimpfte und Genesene geben, sondern auch für getestete Personen.
Die Schweizer Pandemiepolitik richtet sich an einem Ziel aus: Das Gesundheitssystem darf nicht überlastet werden. Interessant war an der gestrigen Medienkonferenz, dass Berset den Kantonen nicht nur ihren eigenen Handlungsspielraum bei den Massnahmen aufzeigte. Sondern sie auch dazu aufrief, die Kapazitäten auf den Intensivstationen auszubauen. Ist das möglich?
Die Konferenz der Gesundheitsdirektorenkonferenz gibt sich auch hier auf Anfrage diplomatisch. Das wäre zwar möglich, die Einwände sind aber gross: «Man muss sich einfach bewusst sein, was das bedeutet: Es müssen weitere Operationen verschoben werden, die Behandlungsqualität sinkt. Das betrifft dann alle, nicht nur Covid-Erkrankte. Die Zahl der Betten auf den Intensivstationen kann nicht beliebig erhöht werden. Dafür fehlt das qualifizierte Fachpersonal. Das bestehende Personal ist nun schon sehr lange stark beansprucht, was zu Abnützungserscheinungen und Absenzen führt.»
Dass der Wind in Deutschland anders weht, das merken Zugreisende in diesen Tagen schon kurz nach der Grenzüberquerung. Wer seine Maske nicht über Mund und Nase trage, müsse den Zug an der nächsten Haltestelle verlassen, tönt es in regelmässigen Abständen über die Lautsprecher der Deutschen Bahn. 2G ist in vielen Restaurants und Clubs des Landes längst Standard. Und bald schon werden die Schrauben noch einmal deutlich angezogen.
So zumindest will es der Bundestag, der gestern in Berlin über die Corona-Vorschläge der zukünftigen Ampel-Regierung abgestimmt hat. Der Bundesrat, ein Verfassungsgremium, muss die Bestimmungen heute noch absegnen:
Kurz nach der Debatte im Bundestag traf sich Noch-Kanzlerin Angela Merkel mit den Regierungschefs der Bundesländer, um das konkrete weitere Vorgehen zu vereinbaren. Merkel betonte im Anschluss an die mehrstündige Sitzung:
Seit elf Tagen verzeichnet Deutschland jeden Tag einen neuen Rekordwert bei den Neuansteckungen.
Konkret haben sich die politischen Leader der Bundesländer darauf geeinigt, dass ab bestimmten Hospitalisierungs-Grenzwerten automatisch neue Massnahmen in Kraft treten sollen. Ausschlaggebend ist der Hospitalisierungsindex, also die Anzahl eingelieferter Covid-Patienten pro 100'000 Einwohner innerhalb der letzten sieben Tage.
Liegt der Wert in einem Bundesland über 3, wird im jeweiligen Bundesland 2G für alle Veranstaltungen eingeführt.
Überschreitet der Hospitalisierungsindex 6, zählt ab sofort 2G+. Auch alle Geimpften und Genesenen müssen sich dann testen lassen, bevor sie etwa ins Restaurant gehen.
Ab einem Wert von 9 sind zusätzliche Massnahmen wie etwa Kontaktbeschränkungen vorgesehen.
Derzeit liegen nur gerade vier Bundesländer (Hamburg, Niedersachsen, das Saarland und Schleswig-Holstein) unter dem Grenzwert von 3. Sprich: Weite Teile Deutschlands werden in Kürze auf die 2G-Regelung umschwenken müssen.
Kanzlerin Angela Merkel, die bei ihrem Auftritt sichtlich müde wirkte und sich – atypischerweise – mehrfach verhaspelte, machte keinen Hehl daraus, dass ihr selbst diese neue Strenge im Umgang mit der Pandemie zu wenig weit geht. «Es ist kein Geheimnis, dass ich der Meinung bin, dass dieser Massnahmenkatalog nicht ausreicht», sagte die 67-Jährige.
Österreich geht wegen der Corona-Krise erneut in einen Lockdown und wird im Februar eine Impfpflicht einführen. Das kündigte Bundeskanzler Alexander Schallenberg am Freitag an. Österreich leidet unter einer massiven vierten Infektionswelle, die mit den bisherigen Massnahmen nicht gebrochen werden konnte.
In Salzburg wurde bereits ein Triage-Team bestehend aus fünf Medizinern und einer Juristin gebildet. Die Belegung der Intensivbetten ist am Limit. Der Geschäftsführer des Salzburger Krankenanstalten-Verbundes hatte zuletzt auch das Ausland indirekt um Hilfe ersucht. Man habe in vorangegangenen Pandemie-Wellen Patienten aus anderen Staaten versorgt. Jetzt hoffe man auf die Solidarität der anderen.
Ganz ähnlich wie in Salzburg sieht es in Oberösterreich aus: «Wir haben nur noch sehr, sehr wenig Spielraum», sagte Landeshauptmann Thomas Stelzer (ÖVP) am Donnerstag, als er den Lockdown für sein Bundesland verkündete. Aus Oberösterreich gab es zuletzt Berichte über überfüllte Intensivstationen und Leichen, die wegen voller Pathologien in den Gängen von Spitälern zwischengelagert werden mussten.
In der Stadt Linz sind die Intensivstationen zu 100 Prozent ausgelastet. Die Lage, sagte eine Vertreter des lokalen Spital-Verbundes, sei «brisanter als im Herbst 2020». Auch in anderen Regionen werden Operationen bereits verschoben.
Die nach wie vor rasant ansteigenden Infektionszahlen – am Donnerstag wurde erneut ein Pandemie-Rekordwert gemeldet – und die Erkenntnis, dass sich diese Zahlen erst mit etwas Verzögerung auf die Belegung der Intensivstationen niederschlagen, lassen für ganz Österreich Böses erahnen. Unklar sind einzig noch die Details des Lockdowns, der ab Montag aller Wahrscheinlichkeit nach für das ganze Land verfügt wird. Etwa, ob die Schulen schliessen werden.
Ab Freitag gilt in Wien für den Besuch von Veranstaltungen und Bars etwa 2G+, sprich: Eintreten darf nur noch, wer geimpft oder genesen und zusätzlich getestet ist.
Wien liess zudem allen 340'000 ungeimpften Stadtbewohnern einen Brief mit einem Impftermin zukommen. Wer ihn nicht wahrhaben will, muss ihn aktiv stornieren oder verschieben: Eine Strategie, auf die bereits verschiedene Städte in Portugal, Spanien, Dänemark und Israel gesetzt haben.
Massnahmen welche vom den Leuten nicht mitgetragen werden, bringen eh nichts.
Österreich: Können Vollgas geben, da keine Wahlen anstehen.
Deutschland: Regierungswechsel behindert griffige Massnahmen.
Welche Strategie richtig ist wird man erst im Nachhinein sehen. Vielleicht haben wir auch diesmal wieder Glück, und bei AT sieht es aktuell deutlich mieser aus.