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Bernerin zieht mit Tinder in die Schlacht gegen Putins Propaganda

Karin Gerber zu Hause im Berner Seeland. Vom Sofa aus führt sie Krieg gegen Putins Propagandamaschinerie
Karin Gerber zu Hause im Berner Seeland. Vom Sofa aus führt sie Krieg gegen Putins Propagandamaschineriebild: watson

Wie eine Bernerin mit Tinder in den Kampf gegen Putin zog

Via Tinder nahm die Bernerin Karin Gerber Kontakt mit hunderten Russen auf. Sie will ihnen Putins Propaganda aus den Köpfen hämmern.
13.10.2022, 05:3313.10.2022, 06:09
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Das Handy surrt im Minutentakt, pling. Kurz darauf wieder, pling. Karin Gerber sitzt in ihrer Wohnung am Esstisch. Das Kinn auf die eine Hand abgestützt, mit der anderen wischt sie flink über den Bildschirm, die manikürten Fingernägel klopfen rhythmisch auf das Glas. Pling.

Es sind Telegram-Chats. Ein russischer Regimekritiker, der von seinem Tag erzählt. Ein junger Ukrainer, der schreibt, dass es seiner Mutter wieder schlechter gehe. News in einem Gruppenchat über die eingeschlagenen Bomben in Kiew. Nachrichten vom Krieg, die in einem sonnendurchfluteten Wohnzimmer im Berner Seeland aufploppen.

Gerber schaut auf, streicht sich eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Neugierig glänzende Augen, die Lippen dezent rosa, eine Frau mit einer herzlichen Ausstrahlung. Und die sich im Februar 2022 aufmachte, um in ihre ganz eigene Schlacht zu ziehen. Sie sagt: «Damals, als die russische Armee in der Ukraine einmarschierte, fühlte es sich an, als würde meine eigene Familie angegriffen.» Sie habe sich ohnmächtig, im Schock und unendlich traurig gefühlt.

Seit vielen Jahren ist die 42-Jährige eng mit dem Land verbunden. Als ihre Tochter noch klein war, lebten zwei ukrainische Au-pair-Frauen jeweils für ein Jahr bei den Gerbers. «Sie arbeiteten, schliefen, lebten bei uns. Beide wurden zu nahen Familienmitgliedern.» Während der Maidan-Proteste 2013 und der Annexion der Krim 2014 erlebte Gerber die Unruhen im Land ihrer Gäste hautnah mit. Nächtelang sass sie mit ihnen vor dem Fernseher, hörte Radio, tröstete die jungen Frauen, wenn diese vor Angst um ihre Angehörigen zu verzweifeln drohten.

Damals hatte Gerber auch ihre erste Begegnung mit russischer Propaganda. «In Youtube-Filmchen gab es Werbeunterbrüche, in denen erzählt wurde, dass die Krim schon immer Teil von Russland war. Auf Russia Today wurden hemmungslos Falschinformationen verbreitet. Das hat mich beschäftigt. Und richtig hässig gemacht.» Eine Rolle spielt dabei wohl auch Gerbers beruflicher Hintergrund. Sie ist gelernte Fachfrau Information und Dokumentation und damit ein Profi, wenn es darum geht, Quellen zu prüfen, Informationen zu sammeln, zu verwahren und weiterzugeben.

«Wer an Putins Lügen glaubt, ist total gehirngewaschen. Da kam ich mit meinen wenigen auf Russisch übersetzten Sätzchen nicht dagegen an.»
Karin Gerber

Als Russland den Angriff auf die Ukraine begann, war Gerber klar, dass sie nicht untätig zu Hause herumsitzen konnte. Sie fand, das Wichtigste sei jetzt, die russische Bevölkerung über die Machenschaften ihrer Regierung zu informieren. Putins Propagandamaschinerie den Krieg zu erklären. «Ich hatte die naive Vorstellung, dass Russland eine Revolution machen muss und so dieser schreckliche Krieg gestoppt werden kann.» Also lud Gerber zum ersten Mal in ihrem Leben eine Dating-App auf ihr Handy.

Die Idee sah sie auf Social Media: Sie legte sich ein Profil auf Tinder an, packte Informationen über den Krieg in den Personenbeschrieb und wählte Russland als aktuellen Standort an. Und schon tauchte Gerbers Profil auf den Handybildschirmen von Russinnen und Russen auf Partnersuche auf. Innert Kürze hatte sie Hunderte von Nachrichtenanfragen. Viele bösartige, hasserfüllte, aber auch einige interessierte, aufrichtig neugierige.

Doch schon nach einem Tag wurde ihr Profil für einige Tage blockiert. Nicht lange nachdem sie es wieder benutzen konnte, wurde sie erneut gesperrt. Das wiederholte sich einige Male. Gleichzeitig lud sie sich eine andere Dating-App herunter: Galaxy, die in Russland beliebteste Partnersuch-Plattform. Dann ging es so richtig los. «Diese Sache war unheimlich schnell, unheimlich erfolgreich», sagt Gerber und lächelt verschmitzt. So erfolgreich, dass sie bald ein Team benötigt hätte, um all die Nachrichten durchzuschauen und zu beantworten.

Karin Gerber zeigt ihre Chat-Nachrichten.
Karin Gerber zeigt ihre Chat-Nachrichten.bild: watson

Monatelang ging Gerber tagsüber ihrem Job als Betreuerin bei der Heilsarmee nach und chattete abends mit fremden Männern und Frauen. Rasch musste sie allerdings feststellen, dass der eigentliche Plan, den Russen die Lügenpropaganda aus dem Kopf zu hämmern, nicht aufgeht. «Wer an Putins Lügen glaubt, ist total gehirngewaschen. Da kam ich mit meinen wenigen auf Russisch übersetzten Sätzchen nicht dagegen an.» Sie beginnt, sich auf die ohnehin bereits Regime-Kritischen zu konzentrieren.

«Und du, sag bitte all deinen Freunden, dass nicht alle in der Schweiz die Russen hassen.»
Karin Gerber in einer Nachricht an eine Russin

«Da ist zum Beispiel dieser 20-jährige Belarusse, der in Sankt Petersburg wohnt und sich gerne an den Protesten beteiligen möchte, aber nicht kann. Erwischen sie ihn, wird er in sein Heimatland abgeschoben und verschwindet in einem Keller.» Gerber zeigt das Foto eines jungen Mannes, der Blick in die Ferne gerichtet, die etwas längeren Haare zerzaust und vom Sonnenuntergang orange-golden gefärbt. Er habe ihr geschrieben, dass er in der ganzen Stadt kritische Sticker klebt. Das sei das Einzige, das er machen könne.

Oder eine junge Frau, die ihr schrieb: «Bitte sag all deinen Freunden in der Schweiz, dass nicht alle in Russland für den Krieg sind.» Gerber antwortete ihr: «Und du, sag bitte all deinen Freunden, dass nicht alle in der Schweiz die Russen hassen.» Daraufhin habe sich die junge Frau bei ihr bedankt und gesagt, sie könne sich gar nicht vorstellen, wie viel es ihr bedeute, dass Gerber dies schreibe.

«Oder der hier. Der ist 22 Jahre alt, noch ein Bub», sagt sie und zeigt das Profil eines ernst blickenden, mageren Mannes. Er habe an der Front kämpfen müssen und sei jetzt für einen Besuch nach Hause zurückgekehrt. Er hasse den Krieg. Es sei Horror. Er wolle nicht zurück, nur noch weg. Wisse aber nicht, wie.

In den vergangenen Monaten chattete sie mit hunderten von Leuten. Mit russischen Deserteuren, mit Frauen, deren Angehörige im Krieg getötet wurden, mit Männern, die kurz darauf für die Mobilmachung vom Militär eingezogen wurden. Aber auch mit Ukrainerinnen und Ukrainern. Mit einem jungen Mann aus Kiew hält Gerber ebenfalls seit Monaten engen Kontakt. Er kämpft nicht aktiv, sondern er leistet humanitäre Hilfe für die Zivilbevölkerung und erledigst logistische Arbeiten. «Er schrieb mir von seinem Leben in einer belagerten Stadt und freute sich über einen Kontakt ausserhalb seiner Welt», sagt Gerber.

Als die Gefechte vor Kiew besonders heftig wurden, habe er gefragt, ob sie seine Mutter in der Schweiz aufnehmen könne. Gerber stimmte zu. Einige Tage später holte sie eine Frau am Bahnhof ab, 52 Jahre alt, leichenblass, verwirrt. Sie hatte die letzten zwei Monate durchgehend in einem Luftschutzbunker gesessen. Obwohl sie kein Wort Englisch sprach, habe man sich verstanden. Und einander schnell ins Herz geschlossen. «Wir gingen zusammen einkaufen, kochten. Sie verstand sich wunderbar mit meiner Tochter. Wir haben viel zusammen gelacht und geweint», erzählt Gerber.

Doch das Heimweh wurde zu gross. Die Mutter kehrte nach drei Monaten in die Ukraine zurück. Und für Gerber verlagerte sich der Kampf gegen Putins Regime erneut in die virtuelle Welt. «Doch ich merkte, dass ich kürzertreten musste», sagt sie. Eine Zeit lang habe sie schlecht geschlafen und nicht mehr essen können. Auch für ihre Tochter sei es belastend gewesen, weil sie viel von diesen düsteren Geschichten in Gerbers Handy mitbekam. Heute verbringt sie nur noch selten Zeit auf den Dating-Apps, tauscht sich aber regelmässig mit vielen Leuten, die sie kennenlernte, auf Telegram aus.

Gerber kann diesen Leuten nicht helfen, das weiss sie. Sie kann ihnen nicht zur Flucht aus dem Land verhelfen. Kann nicht für sie Schläge der Polizei an Antikriegsdemos einstecken. Nicht einmal Hoffnung machen kann sie ihnen. Dass Licht am Ende des Tunnels zu sehen ist, dieser Albtraum bald vorbei ist. Das wäre eine glatte Lüge. Aber sie kann den Menschen Mut machen. Sie kann ihnen das Gefühl geben, gesehen und gehört zu werden. Nicht allein zu sein. «Es hilft gegen die Ohnmacht, die diese Leute verspüren. Und auch gegen meine eigene», sagt Gerber.

Pling. Gerade schreibt ihr ein 34-jähriger Russe aus Sankt Petersburg, dass er in der Schweiz ein humanitäres Visum beantragen will. Gerber schaut auf ihr Telefon und schüttelt nachdenklich den Kopf. «Das dürfte sehr schwierig werden», murmelt sie.

Später meldet sie sich per SMS und schreibt: «Mir ist noch etwas eingefallen, zur Frage, warum ich mich so engagiere. Eigentlich ist es doch auch der Glaube daran, dass die Menschlichkeit siegen wird. Ich bin immer wieder bewegt zu sehen, wie Menschen mit der Ukraine solidarisch sind. Am Schluss hat Putin mit seiner Propaganda hier im Westen seine Ziele doch nicht erreicht. Bei allen düsteren Aussichten glaube ich, dass einzelne Taten einzelner Menschen einen Unterschied machen, und dass die Menschlichkeit siegen wird.»

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38 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Enzasa
13.10.2022 07:06registriert August 2016
Wenn Menschen sich ihrer sozialen Verantwortung bewusst sind und sich als Zeil der Gesellschaft verstehen, dann sichern sie die Demokratie.
Frau Gerber ist ein tolles Beispiel dafür, wie soziales Engagement aussehen kann.
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Jonas der doofe
13.10.2022 07:06registriert Juni 2020
Ein schönes Schlusswort, welche sie geschrieben hat. Für mich stimmt das ebenfalls.
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Sir Edmund
13.10.2022 07:04registriert August 2019
Super gute Sache, Respekt an diese Frau! Egtl müssten wir uns alle so Profile runterladen und damit ganz Russland bis in den hintersten Ecken überschwemmen.
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