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Ukraine-Krieg: Diese neue Taktik löst Panik aus

Russische Kämpfer ergeben sich:

Video: watson

Diese neue Taktik der Ukrainer löst Panik bei den Russen aus

Mit einer neuen Taktik verunsichern die Ukrainer die russischen Invasoren. So funktioniert sie.
07.10.2022, 06:0008.10.2022, 19:17
Corsin Manser
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Seit Mittwoch kursiert im Internet ein Video, das zeigen soll, wie russische Soldaten kapitulieren. Auf ihren Panzer haben sie weisse Fahnen gebunden und sie fahren in ein Feld, wo ein gutes Dutzend ukrainische Kämpfer auf sie wartet. Die Russen bringen ihr Gefährt zum Stillstand und ergeben sich widerstandslos.

FILE - Ukrainian soldiers sit on an armoured vehicle as they drive on a road between Izium and Lyman, recently retaken areas in Ukraine, on Oct. 4, 2022. Ukraine has successfully pressed its counterof ...
Ukrainische Truppen auf dem Vormarsch.Bild: keystone

Noch ist der exakte Standort der Aufnahmen nicht bestätigt worden. Auch behaupten einige Beobachter, das Video könne gestellt sein. Das Fachmagazin «The Drive» schreibt jedoch, dass nichts auf einen Fake hindeute. Es sei hingegen möglich, dass die russischen Kämpfer ihre Kapitulation mit den Ukrainern abgesprochen hätten.

Russische Kämpfer ergeben sich:

Video: watson

Diese hätten eine spezielle Hotline mit dem Namen «Ich möchte leben» (Хочу жить) eingerichtet, bei der sich Russen melden können. Die ukrainische Zeitung «Kyiv Post» berichtet, dass Tausende Anrufe eingehen würden, wobei diese Angaben natürlich mit Vorsicht betrachtet werden müssen.

Die neue Taktik

Was hingegen zweifelsfrei feststeht: Die ukrainischen Truppen machen in der Region Cherson gerade massiv Boden gut. Das hat unter anderem mit einer neuen Taktik zu tun, die sie seit einigen Wochen einsetzen. Wie genau die funktioniert, erzählte der ukrainische Militärfachmann Oleh Schdanov dem «Spiegel».

«Schwache Abschnitte in der russischen Verteidigung werden identifiziert, dann ein schneller Durchbruch herbeigeführt, kleine hochmobile Angriffsgruppen stossen dann hindurch», erzählt Schdanov. Die Verbände würden zunächst aber nicht direkt in den Kampf eingreifen, sondern die russischen Positionen umfahren.

«Sie attackieren nicht frontal, sondern von den Seiten und sogar von hinten.»
Oleh Schdanov

Haben sie die gegnerischen Einheiten umfahren, schlagen die Ukrainer zu. «Sie attackieren nicht frontal, sondern von den Seiten und sogar von hinten.» Für die Psyche der Russen ist das verheerend. «So entsteht Panik unter den russischen Soldaten, weil sie nicht verstehen, von wo sie angegriffen werden, nicht wissen, ob sie bereits umzingelt sind. Deshalb ziehen sie sich zurück oder treten sogar ungeordnet die Flucht an.»

Die kleinen ukrainischen Angriffsverbände würden sich untereinander koordinieren. Auch die frontal kämpfenden Armee-Einheiten, die Luftwaffe und die Artillerie böten Unterstützung. Schdanov meint: «Tatsächlich können sie auch Ziele tief in eben noch russisch kontrolliertem Gebiet markieren. Das führt zu grossen Verlusten und verstärkt die Panik unter den Russen.»

Die Vorstösse würden unter anderem in Bushmaster Trucks aus Australien und Humvees aus den USA durchgeführt. «Es geht um Beweglichkeit und Schnelligkeit.» Auch wenn das nur Fahrzeuge mit leichter Panzerung seien, stelle dies die Russen vor grosse Probleme. «Man stelle sich das mal aus der Sicht der Verteidiger vor: Die ukrainischen Truppen kommen von mehreren Seiten, mit kurzem, aber schwerem Beschuss, verschwinden jedoch zunächst wieder. Dann kommen sie von einer anderen Seite und abermals von einer anderen. Gleichzeitig geht schwere Artillerie auf sie nieder. Die Russen geraten in Panik.»

Die Ukrainer brechen mit Humvees durch die russische Verteidigung:

Video: twitter/@RALee85

Diese Taktik wende die Ukraine erst seit einigen Wochen und der Gegenoffensive bei Charkiw an. Im Sommer habe man darauf gewartet, dass die Kämpfer aus den Lehrgängen im Ausland zurückkehren, so Schdanov. «Tausende Kämpfer wurden in Grossbritannien und andernorts in den vergangenen Monaten in Nato-Taktiken unterwiesen. Jetzt verfügen sie ausserdem über die Waffen für diese Art der Kriegsführung.»

Moral der Russen schwer angeschlagen

Für Militärpsychologe Hubert Annen ist auch der mangelnde Nachschub ausschlaggebend dafür, dass sich derzeit viele Russen ergeben oder flüchten. Die Ukrainer hätten moralisch gesehen sowieso schon einen Vorteil, da sie ihr eigenes Land verteidigen würden, sagt Annen, der an der Militärakademie der ETH Zürich doziert. Nun hätten es die Ukrainer geschafft, die Moral der Russen weiter zu schwächen.

Annen erklärt im Gespräch mit watson: «Man weiss, dass die Ukrainer ihre Gegner derzeit sehr erfolgreich vom Nachschub abschneiden. Dies führt dazu, dass viele russische Soldaten während Tagen ihre einfachsten Bedürfnisse nicht stillen können. Die Motivation, zu kämpfen, wird dadurch immer kleiner.»

Besonders prekär ist die Lage für die Russen westlich des Flusses Dnepr bei Cherson. Die Fluchtwege sind unsicher, da sie über einen Fluss führen, der in Reichweite der ukrainischen Artillerie liegt. Der russische Soldat werde sich fragen, welchen Wert es noch habe, unter sehr ungünstigen Bedingungen sein Leben weiterhin aufs Spiel zu setzen, sagt Annen.

Da müsste schon einiges stimmen, damit er motiviert weiterkämpft. «Es bräuchte etwa eine starke Führungsperson oder eine überzeugende Ideologie. Aber beide Aspekte sind in der russischen Armee nicht stark ausgeprägt. Sie setzt viel eher auf Repressalien und Angst, um die Leute weiter am Kämpfen zu halten.»

«Im Winter wird der Nachschub noch mehr ins Gewicht fallen.»
Militärpsychologe Hubert Annen

Zusätzliche Motivation für die russischen Kämpfer hätte die Teilmobilisierung sein können, die Putin vor zwei Wochen gestartet hat. Doch die russischen Truppen haben dadurch noch keinen Schub erhalten. «Die Mobilisierung braucht Zeit. Die Leute müssen zuerst noch trainiert werden. Zudem brauchen sie Kleidung, Waffen, Ernährung und Fahrzeuge. Die ganze Logistik muss zuerst aufgebaut werden und das ist alles andere als trivial», erklärt Annen.

Auch wenn es momentan überhaupt nicht läuft, könnte die Lage für die russischen Soldaten bald noch unangenehmer werden. «Im Winter wird der Nachschub noch mehr ins Gewicht fallen. Das Bereitstellen grundlegender Bedürfnisse, wie etwa warme Kleidung, wird dann noch wichtiger.»

Die Russen können sich bei Cherson nur noch über zwei Brücken zurückziehen.
Die Russen können sich bei Cherson nur noch über zwei Brücken zurückziehen.screenshot: twitter

Der ukrainische Militärfachmann Oleh Schdanov gibt sich zuversichtlich. Gegenüber dem «Spiegel» sagt er: «Ich habe keine Zweifel, dass wir siegen werden. Ich denke, im Wesentlichen wird es im kommenden Frühjahr vorbei sein. Bis dahin sollten wir an unsere Grenzen von 1991 gelangen.»

Annen von der ETH Zürich tritt hingegen etwas auf die Bremse und warnt davor, die russische Armee bereits abzuschreiben. «Russland ist ein grosses Land, ich kann mir gut vorstellen, dass durch finanzielle Anreize oder weitere Zwangsmassnahmen noch viele Leute zum Kämpfen gebracht werden können. Für Putin steht viel auf dem Spiel. Er darf diesen Krieg nicht verlieren, er wird sicher noch alle möglichen Register ziehen. Das letzte Wort ist hier noch nicht gesprochen.»

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115 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Unicron
07.10.2022 06:23registriert November 2016
"Für Putin steht viel auf dem Spiel. Er darf diesen Krieg nicht verlieren, er wird sicher noch alle möglichen Register ziehen."

Schon tragisch dass ZWEI Länder durch die Hölle gehen müssen und ganze Generationen verheizt werden, nur für den Egotrip eines grössenwahnsinnigen Diktators.
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Rethinking
07.10.2022 06:26registriert Oktober 2018
Der Krieg der Russen zeigt immer wieder auf, wie es auch für in der Arbeitswelt zu und her geht…

Statt Soldaten richtig zu trainieren, sie gut zu behandeln und eine überzeugende Ideologie anzubieten, werden sie verheizt. Vorne rein und schnell hinten wieder raus…

Statt Mitarbeiter richtig zu entwickeln, sie gut zu behandeln und eine überzeugende Kultur anzubieten, werden sie verheizt. Vorne rein und schnell hinten wieder raus…

Manch ein CEO benimmt sich auch wie ein Diktator. Er umgibt sich mit JA-Sagern, sicher sich seine Macht und hat komplett den Bezug zur Realität verloren…
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Posersalami
07.10.2022 06:38registriert September 2016
„ dass durch finanzielle Anreize oder weitere Zwangsmassnahmen noch viele Leute zum Kämpfen gebracht werden können.“

Das mag so sein. Aber das löst die Probleme der Russen nicht: schlechte Führung, keine Vernetzung, wenig Nachschub, veraltete Ausrüstung, miese Moral.
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