Ein denkwürdiger Fernsehmoment hat sich gestern Abend in Russland zugetragen: Marina Owsjannikowa stürmte während der Hauptnachrichten im populärsten russischen Sender das Studio und wurde mit ihrem von Hand beschrifteten Plakat zum Symbol des russischen Widerstands gegen den Krieg in der Ukraine.
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Was wir über die Redakteurin wissen, was ihr nach dieser Aktion drohen könnte und wie die Welt die Russin mit ukrainischen Wurzeln feiert:
Marina Owsjannikowa war Redakteurin bei den Abendnachrichten von Chanel One Russia (Первый канал), dem wichtigsten staatstreuen Sender Russlands. Gestern Abend hat Owsjannikowa während der Live-Ausstrahlung der Hauptnachrichten ein Plakat in die Kamera gehalten, auf dem zu lesen war: «Nein zum Krieg. Ihr werdet belogen. Glaubt der Propaganda nicht!» Dazu rief sie mehrmals laut: «Nein zum Krieg, nein zum Krieg, nein zum Krieg!»
Die Nachrichtensprecherin sprach während Owsjannikowa Protestaktion unbeirrt weiter, nur die Regie schaltete um zu Bildern aus einem Beitrag über ein Krankenhaus. Die Zeitung «Nowaja Gaseta» berichtete, die Redakteurin sei nach der Aktion von Polizisten festgenommen worden.
Ein Millionenpublikum muss Owsjannikowas Auftritt live am Fernsehen mitverfolgt haben.
In einem Video, das Owsjannikowa kurz vor der Aktion auf Telegram teilte, stellt sich die 44-Jährige vor: Ihr Vater sei Ukrainer, ihre Mutter Russin.
Sie sagt, sie hätte in den letzten Jahren für Chanel One gearbeitet und Kreml-Propaganda verbreitet – wofür sie sich jetzt schäme. Sie hätte mitgespielt und treu berichtet, als der Konflikt 2014 begann oder als Putin-Gegner Alexei Nawalny vom Geheimdienst vergiftet worden war. Dadurch seien Russen «zombifiziert» worden. Das Lager Nawalnys bedankte sich anschliessend bei ihr. Bis heute leugnen Kreml und Russlands Staatsfernsehen, dass Nawalny 2020 nur knapp einen Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok überlebte.
Abschliessend ruft Owsjannikowa zum Widerstand auf: «Geht auf die Strasse und protestiert. Fürchtet euch nicht. Sie können nicht alle ins Gefängnis stecken.»
Auf Social-Media schreibt sie, dass sie an der «Staatlichen Universität Kuban» und der «Russischen Akademie für Volkswirtschaft und Öffentlichen Dienst beim Präsidenten der Russischen Föderation» (RANEPA) studiert habe. Die Journalistin ist Mutter, wie ihrer Facebook-Seite zu entnehmen ist.
In Russland ist es per Gesetz verboten, den russischen Einmarsch in die Ukraine als «Krieg» oder «Invasion» zu bezeichnen. Stattdessen ist offiziell von einer «militärischen Spezialoperation» die Rede. Theoretisch drohen Owsjannikowa bis zu 15 Jahre Haft.
Nach Angaben des russischen Onlinemediums Baza wurde die Journalistin festgenommen und zum Verhör in die Polizeistation Ostankino in Moskau gebracht. Die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass schreibt auf Telegram, dass Owsjannikowa wohl «ein Verwaltungsverfahren» drohe:
Die «Novaya Gazeta» vermeldet am Dienstagnachmittag auf Twitter, dass Owsjannikowa nach Paragraf 20.2 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (Organisation einer unkoordinierten öffentlichen Veranstaltung) vor Gericht stehe. Das Treffen fände im Bezirksgericht Ostankino statt. Ihr Anwalt, Anton Gaschinsky, bestätigt dies gegenüber CNN.
And here she is in court! Marina Ovsyannikova! https://t.co/6OHalWLRYZ pic.twitter.com/B5R5W1DtRV
— Kevin Rothrock (@KevinRothrock) March 15, 2022
Am Dienstag erfolgte bereits die Gewissheit: Nach ihrem aufsehenerregenden Protest ist Owssjannikowa in Moskau zu 30'000 Rubel (264 Franken) Geldstrafe verurteilt worden.
Der französische Präsident Emmanuel Macron erklärte, Frankreich sei bereit, Owsjannikowa Asyl anzubieten, wie der britische «Guardian» weiss.
Bereits im Vorfeld des Urteils kündigte Nawalnys Team an, die TV-Redakteurin zu unterstützen. Mann wolle eine mögliche Geldstrafe übernehmen, schrieb Maria Pewtschich von Nawalnys Team am Dienstagmorgen auf Twitter.
Wie der russische «The Insider» schreibt, sei die Akte Owsjannikowa aber noch nicht vom Tisch: Gegen die Journalistin könnte in naher Zukunft doch noch ein Strafverfahren eingeleitet werden. Denn ein Untersuchungsausschuss sei mit einer Voruntersuchung zu einem kürzlich erschienenen Artikel beauftragt worden. In diesem Zusammenhang werde die «Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die Aktionen der russischen Streitkräfte» ermittelt. Bei einer Verurteilung drohte Owsjannikowa wohl weiterhin eine Freiheitsstrafe von bis zu 15 Jahren.
Der Videoausschnitt verbreitete sich umgehend in sozialen Netzwerken. Vor allem russische Oppositionelle lobten die Frau für ihren Mut. «Was Mut wirklich bedeutet», schrieb zum Beispiel der in der Sowjetunion geboren Pianist und politische Aktivist Igor Levit, der in Deutschland lebt, bei Twitter über einen Ausschnitt des Videos.
Teilweise wurde Owsjannikowa mit dem berühmten «Tank Man» verglichen, der sich 1989 aus Protest gegen China auf dem Platz des Himmlischen Friedens vor die Militärpanzer stellte.
Eine besondere Reaktion kam aus der Ukraine: Der Präsident Wolodymyr Selenskyj dankte der Russin persönlich für ihren Mut. «Ich bin dankbar für diejenigen Russen, die weiterhin versuchen, die Wahrheit zu verbreiten. Persönlich möchte ich mich bei der Frau bedanken, die das Channel-One-Studio mit einem Anti-Kriegs-Schild betreten hat», sagte er in seiner abendlichen Videobotschaft:
Zelensky personally thanks Ovsyannikova for speaking out.
— Mary Ilyushina (@maryilyushina) March 14, 2022
“I am grateful to those Russians who do not stop trying to convey the truth… And personally to the woman who entered the Channel One studio with an anti-war poster,” he said. pic.twitter.com/IxQakj0Mn5
Nicht einmal Staatsmedien kamen umhin, darüber zu berichten. Der Fernsehsender versucht anscheinend, den Vorfall möglichst herunterzuspielen. Die Tass meldete, dass Channel One Russia den Vorfall intern untersuchen werde. Zudem soll die Szene aus dem Online-Archiv des Senders getilgt worden sein, was unüblich wäre für Channel One Russia.
Russische unabhängige Medien, die über den Vorfall berichten, müssen die Nachricht Owsjannikowas wegen ebenfalls zensieren, wenn sie einer Bestrafung umgehen wollen. So hat zum Beispiel die unabhängige «Nowaja Gaseta» bei ihrer Berichterstattung das Schild weichgezeichnet:
Kremlsprecher Dmitri Peskow bezeichnete den Vorfall als «Rowdytum», die Senderleitung müsse sich darum kümmern.
(yam mit Material der sda)