Keine politischen Inhalte – weder in Songtexten noch mittels Symbolik oder Parolen während eines Auftritts. So steht es im Reglement des Eurovision Song Contest. Der ursprüngliche, eigentliche Sinn des Concours Eurovision de la chanson anno 1956 war, die Nationen des vom Zweiten Weltkrieg lädierten Europa mittels Musik einander wieder näherzubringen. Beim ESC geht es explizit um das Beiseitelegen von kulturellen Differenzen und die Suche nach dem künstlerisch wertvollsten Lied.
So viel zur Theorie. In der Praxis ist der Song Contest sehr wohl politisch. Immer wieder mal. Das war etwa 2013 so, als die russische Darbietung Buhrufe und Pfiffe vom Live-Publikum bekam – als direkte Quittung für die schwulenfeindliche Politik der Putin-Regierung. Und dass 2022 die ukrainische Band Kalush Orchestra gewann, hatte mehr mit dem Ukraine-Krieg zu tun als mit dem künstlerischen Wert ihres Songs.
Im Bewusstsein dieser Tatsache bemüht sich die Europäische Rundfunkunion EBU deshalb tunlichst, jegliche politische Anspielungen zu verbieten – dort, wo sie's kann: in Songinhalten oder während eines Auftritts.
Dass diese Regel zuweilen Raum für Interpretationen lässt, ist klar. Anno 2016 trat die Ukraine mit einem Lied namens «1944» an, das einen Text auf Krimtatarisch enthielt und die Geschichte der Deportation der Krimtataren durch Joseph Stalin im Jahr 1944 erzählte. Dies wurde von vielen Beobachtern als Anspielung auf die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 interpretiert – allen voran von den Russen, die gegen den Song bei der EBU Einspruch erhoben. Doch die Union gab den Song frei (er gewann schliesslich gar den Contest).
Dieses Jahr weigerte sich die EBU, Israel aus dem Contest auszuschliessen – trotz des laufenden Israel-Gaza-Kriegs. Der ursprünglich vorgesehene israelische Beitrag von Sängerin Eden Golan, indes, wurde von der EBU verboten, da er als «eindeutig politisch» eingestuft wurde. Um einen Ausschluss abzuwenden, liess der israelische Fernsehsender Kan den Text umschreiben.
Ebenfalls um einen Ausschluss abzuwenden, wurde die irische Sängerin Bambie Thug angehalten, auf politische Parolen während ihres Auftritts zu verzichten. Konkret: Während der Hauptprobe noch klar sichtbar hatte sie mit Schminke die Worte «ceasefire» und «free Palestine» auf ihr Gesicht und Beinen gemalt. Ganz klar ein No-Go für die EBU.
Bloss ... Bambie Thug hatte «ceasefire» und «free Palestine» (und ausserdem noch «Crown the Witch» – den Slogan ihres Songs) in Ogham geschrieben.
Ogham, eine frühirische Schrift, die vorwiegend vom 5. bis 7. Jahrhundert an der irischen Südküste, in Wales und im südenglischen Cornwall Verwendung fand, um an den Kanten von Oghamsteinen kurze Texte, in den meisten Fällen Personennamen, anzubringen.
Dass dies in die Ikonografie von Bambie Thug passt, die sich sehr mit altirischer Mythologie und der vorchristlichen, heidnischen Kultur und Geschichte auseinandersetzt, leuchtet ein. Erstaunlich ist, dass die EBU selbst bei toten Sprachen einen Riegel schiebt.
Während ihrer Presskonferenz bestätigte Bambie Thug den Sachverhalt klipp und klar:
Bambie Thug on her “Ceasefire, freedom for Palestine“ writings on her body:
— Kerem | 🇮🇪🇺🇦🇳🇴🇭🇷🇳🇱 (@Krm_H67) May 7, 2024
„“We have to change it due to the EBU order“#Eurovision #Eurovision2024 #ESC2024 pic.twitter.com/SzLaiZkvSm
Während ihres Auftritts am 1. Halbfinal fehlten die Parolen. Ebenfalls während des Finals am Samstag wird Bambie Thug darauf verzichten müssen.
Aber: Dank der Intervention der EBU wurden die Aussagen jener geheimnisvollen Schriftzeichen erst publik.