Leben
Eurovision Song Contest

«Free Palestine» am ESC verboten. Auch in einer toten Sprache

epa11322737 Bambie Thug representing Ireland with the song "Doomsday blue" performs during the second rehearsal of the first semi-final of the Eurovision Song Contest (ESC) at Malmo Arena, i ...
«Was genau steht da auf deinem Schenkel geschrieben?»Bild: keystone

«Free Palestine» am ESC geht nicht – auch nicht in einer Sprache, die niemand spricht

Politische Parolen sind am Eurovision Song Contest verboten. Auch solche, die in einer ausgestorbenen Sprache aus dem 5. Jahrhundert geschrieben stehen.
08.05.2024, 19:1809.05.2024, 18:57
Oliver Baroni
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Keine politischen Inhalte – weder in Songtexten noch mittels Symbolik oder Parolen während eines Auftritts. So steht es im Reglement des Eurovision Song Contest. Der ursprüngliche, eigentliche Sinn des Concours Eurovision de la chanson anno 1956 war, die Nationen des vom Zweiten Weltkrieg lädierten Europa mittels Musik einander wieder näherzubringen. Beim ESC geht es explizit um das Beiseitelegen von kulturellen Differenzen und die Suche nach dem künstlerisch wertvollsten Lied.

So viel zur Theorie. In der Praxis ist der Song Contest sehr wohl politisch. Immer wieder mal. Das war etwa 2013 so, als die russische Darbietung Buhrufe und Pfiffe vom Live-Publikum bekam – als direkte Quittung für die schwulenfeindliche Politik der Putin-Regierung. Und dass 2022 die ukrainische Band Kalush Orchestra gewann, hatte mehr mit dem Ukraine-Krieg zu tun als mit dem künstlerischen Wert ihres Songs.

Members of the Kalush Orchestra from Ukraine celebrate after winning the Grand Final of the Eurovision Song Contest at Palaolimpico arena, in Turin, Italy, Saturday, May 14, 2022. (AP Photo/Luca Bruno ...
Sieger 2022: Kalush Orchestra aus der Ukraine.Bild: keystone

Im Bewusstsein dieser Tatsache bemüht sich die Europäische Rundfunkunion EBU deshalb tunlichst, jegliche politische Anspielungen zu verbieten – dort, wo sie's kann: in Songinhalten oder während eines Auftritts.

Dass diese Regel zuweilen Raum für Interpretationen lässt, ist klar. Anno 2016 trat die Ukraine mit einem Lied namens «1944» an, das einen Text auf Krimtatarisch enthielt und die Geschichte der Deportation der Krimtataren durch Joseph Stalin im Jahr 1944 erzählte. Dies wurde von vielen Beobachtern als Anspielung auf die Annexion der Krim durch Russland im Jahr 2014 interpretiert – allen voran von den Russen, die gegen den Song bei der EBU Einspruch erhoben. Doch die Union gab den Song frei (er gewann schliesslich gar den Contest).

Russland protestierte. Die EBU schmetterte ab. Die Ukraine gewann.Video: YouTube/Eurovision Song Contest

Dieses Jahr weigerte sich die EBU, Israel aus dem Contest auszuschliessen – trotz des laufenden Israel-Gaza-Kriegs. Der ursprünglich vorgesehene israelische Beitrag von Sängerin Eden Golan, indes, wurde von der EBU verboten, da er als «eindeutig politisch» eingestuft wurde. Um einen Ausschluss abzuwenden, liess der israelische Fernsehsender Kan den Text umschreiben.

Ebenfalls um einen Ausschluss abzuwenden, wurde die irische Sängerin Bambie Thug angehalten, auf politische Parolen während ihres Auftritts zu verzichten. Konkret: Während der Hauptprobe noch klar sichtbar hatte sie mit Schminke die Worte «ceasefire» und «free Palestine» auf ihr Gesicht und Beinen gemalt. Ganz klar ein No-Go für die EBU.

bambie thug ogham free palestine ceasefire https://twitter.com/GAGAXBTS/status/1787930975806144920
Bild: x
bambie thug ogham free palestine ceasefire https://twitter.com/GAGAXBTS/status/1787930975806144920
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Bloss ... Bambie Thug hatte «ceasefire» und «free Palestine» (und ausserdem noch «Crown the Witch» – den Slogan ihres Songs) in Ogham geschrieben.

Alle 20 Ogham-Zeichen in ihren vier Zeichenfamilien (aicmi) sowie sechs spätere Zusatzzeichen (forfeda)


https://de.wikipedia.org/wiki/Ogham#/media/Datei:All_Ogham_letters_including_Forfeda_-_%C3%9Cb ...
Alle 20 Ogham-Zeichen in ihren vier Zeichenfamilien (aicmi) sowie sechs spätere Zusatzzeichen (forfeda). Oh ja, «free Palestine» kann geschrieben werden.Bild: wikicommons

Ogham, eine frühirische Schrift, die vorwiegend vom 5. bis 7. Jahrhundert an der irischen Südküste, in Wales und im südenglischen Cornwall Verwendung fand, um an den Kanten von Oghamsteinen kurze Texte, in den meisten Fällen Personennamen, anzubringen.

An example of an ogham stone in the ground of Ratass Church in Tralee, Co. Kerry

https://en.wikipedia.org/wiki/Ogham#/media/File:Ogham_Stone_Rathass_Church_Tralee_Kerry.jpg
Ein Beispiel für einen Ogham-Stein aus Tralee, County Kerry, Irland.Bild: wikicommons

Dass dies in die Ikonografie von Bambie Thug passt, die sich sehr mit altirischer Mythologie und der vorchristlichen, heidnischen Kultur und Geschichte auseinandersetzt, leuchtet ein. Erstaunlich ist, dass die EBU selbst bei toten Sprachen einen Riegel schiebt.

Hier geht es zum Liveticker des ESC-Halbfinal mit Nemo:

Während ihrer Presskonferenz bestätigte Bambie Thug den Sachverhalt klipp und klar:

«[Diese Parolen] sind ungemein wichtig für mich, da ich für Gerechtigkeit und für Frieden bin. Leider musste ich diese Botschaften in ‹Crown the Witch› abändern – auf Geheiss der EBU.»

Während ihres Auftritts am 1. Halbfinal fehlten die Parolen. Ebenfalls während des Finals am Samstag wird Bambie Thug darauf verzichten müssen.

Aber: Dank der Intervention der EBU wurden die Aussagen jener geheimnisvollen Schriftzeichen erst publik.

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83 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Der Micha
08.05.2024 20:20registriert Februar 2021
Kann man hier schon von Streisand Effekt sprechen? Wäre es überhaupt großartig aufgefallen, wenn die ESC es nicht selbst veröffentlicht hätte?
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jyperion
08.05.2024 19:46registriert März 2015
Ja gut, es ist ja nicht wirklich in einer toten sprache, sondern einfach in dieser Schrift geschrieben auf Englisch. Also das ist ja ziemlich einfach zu lesen, wenn man das Alphabet hat. Andererseits hätte man sie vieleicht einfach machen lassen sollen, dann hätte es wohl kaum jemand mitbekommen. Auffälliger war hingegen der Sänger mit dem palästinensischen Tuch an der Hand, zu beginn der Show.
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Bündn0r
08.05.2024 19:30registriert Januar 2018
"Dieses Jahr weigerte sich die EBU, Israel aus dem Konflikt auszuschliessen – trotz des laufenden Israel-Gaza-Kriegs."

Müsste das nicht eher Contest heissen?
Aber auch hier verstehe ich die Kritik nicht. Einerseits würde kaum jemand auf did Idee kommen die Ukraine wegen laufender Konflikte auszuschliessen, andererseits ist das ganze wie einleitend ausgeführt gerade ein Ort, an dem die Konflikte für einen Abend begra
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