Die Punktevergabe am Finale des Eurovision Song Contest ist oft unterhaltsamer als die musikalischen Darbietungen davor. Selten werden intereuropäische Sympathien und Abneigungen eindeutiger zur Schau gestellt.
Dabei hätte genau dies vermieden werden sollen. Ursprüngliches Ziel des Concours Eurovision de la chanson anno 1956 war, die Nationen des vom Zweiten Weltkrieg lädierten Europa mittels Musik einander wieder näherzubringen. Eine wunderschöne Idee: Alle Länder schicken ihren schönsten Song ins Rennen und danach haben Musikfans in ganz Europa die schwierige Aufgabe, aus so viel Grossartigkeit das künstlerisch wertvollste Lied zu küren.
In den ersten drei Jahrzehnten des Song Contests waren dennoch gewisse Länder eindeutig bevorzugt: Lange Zeit schrieben Eurovisions-Regeln vor, Songs müssten in der jeweiligen Landessprache vorgetragen werden, was unweigerlich zu einer Dominanz der Weltsprachen Englisch und Französisch führte. Grossbritannien und Irland einerseits, Frankreich, die Schweiz, Belgien und Co. anderseits hatten einen eindeutigen Startvorteil.
Zwischenzeitlich wurde diese Regelung aufgehoben (was u.a. zum Sieg von ABBAs «Waterloo» im Jahr 1974 führte), nachher aber wieder eingeführt. 1999 war damit endgültig Schluss. Und seither hat keines der englisch- oder französischsprachigen Länder Europas gewonnen.
Dafür wurde ein anderes Phänomen evident: Eurovision Bloc Voting. Mit der Einführung des Televotings Ende der Neunzigerjahre wurden historische Allianzen, kulturelle Nähe, Verteilung von Diasporen und ähnliche Faktoren für die Punktevergabe beim ESC oftmals entscheidender als musikalische Qualität. So waren häufig eindeutige Länderblocks auszumachen, die sich gegenseitig Punkte zuschanzten. Zum Beispiel:
Daneben gibt es Länderpaare, die sich gegenseitig grosszügig Punkte geben. Unter anderem:
Die Diaspora kann auch eine wichtige Rolle spielen. Unter anderem sind folgenden Regelmässigkeiten zu beobachten:
Viele westeuropäische Länder monierten alsbald «ein krankes Abstimmungssystem» und überlegten, aus dem Contest auszusteigen. Grossbritannien, Frankreich, Spanien und Co. sind einerseits die grössten Geldgeber bei der European Broadcasting Union EBU, haben aber keine strategischen Partner beim Voting.
Seither wurden die Regelungen bei der Punktevergabe immer wieder adaptiert – ab 2010 wurden professionelle Länderjurys wieder eingeführt, die 50 Prozent der Punktegewichtung ausmachen. Dies sollte einerseits die Sympathiestimmen mindern, andererseits für erhöhte Spannung bei der Live-Punktevergabe am ESC-Final sorgen. Letzteres klappte anno 2016 bestens: Im klassischen Format trugen alle Länder nacheinander die Punkte der Jury vor. Australien hatte einen komfortablen Vorsprung. Doch die Televoting-Stimmen änderten alles und es kam zu einem Abstimmungs-Krimi, in dem die Ukraine in letzter Minute obsiegte.
Gehört Bloc Voting nun der Vergangenheit an? Immerhin waren in jüngerer Zeit Länder wie Österreich, Italien, Israel oder die Niederlande unter den Siegern. Oder Portugal – zum allerersten Mal. Und dies mit einem zarten, auf Portugiesisch gesungenen Jazz-Walzer, fernab vom üblichen Eurovisions-Feuereffekt-Windmaschinen-Power-Balladen-Bombast. Das Ende des Bloc Votings also? Fertig mit Sympathie-Voten?
Nein. Sympathiepunkte spielen sehr wohl weiterhin eine Rolle. Bloss anders. Weshalb haben 2021 die rabaukigen Teenies von Måneskin gewonnen? Wohl weil Lockdown-bedingt europaweit etliche Bevölkerungsschichten den ESC schauten, die normalerweise im Wochenendausgang unterwegs wären: junge Menschen. Menschen, die eher Rockmusik mögen. Kurzum, Menschen, die sonst sich nicht für den Contest interessieren würden. Sie gaben demjenigen Act den Zuschlag, der ihnen am sympathischen war. Das sind Sympathie-Stimmen.
Und heuer? Uneinholbarer Favorit ist das ukrainische Kalush Orchestra. Und – Hand aufs Herz – wohl kaum ausschliesslich wegen ihres Lieds «Stefania», das ein hyperaktives Durcheinander von Rap, Holzflöte und Klagegesang ist. Objektiv gesehen wäre zum Beispiel «Space Man», der britische Beitrag, eindeutig der bessere Track – ein perfekt geschriebener Popsong. Doch im Jahr 2022 passiert in Europa gerade Wichtigeres, als dass man sich wohligen Popsongs zuwenden möchte. Die flächendeckende Unterstützung für das Kalush Orchestra ist Punktvergabe nach Sympathiebekunden im klassischen Sinn.
Und das ist auch gut so.