Selten schaute die ganze Welt auf einen bestimmten Gesetzesartikel in der Schweiz: Es geht um den ominösen Artikel 47 des Bankengesetzes, der verhindert haben soll, dass Schweizer Medien sich an der «SuisseSecrets»-Recherche beteiligen. Für diejenigen, die diese verpasst haben: Eine Reihe von Redaktionen veröffentlichte am Sonntagabend Berichte über das Geschäftsgebaren der Credit Suisse.
Ein riesiges Datenleck soll in einer grossen Fülle aufzeigen, wie die Bank «brutale Machthaber, korrupte Politiker, Kriegsverbrecher und andere Kriminelle» als Kundinnen und Kunden gehabt haben soll – so die «Süddeutsche Zeitung». Auf der Liste des Rechercheteams finden sich weitere namhafte Redaktionen, jedoch keine aus der Schweiz.
Grund sei eben dieser Artikel 47 des schweizerischen Bankengesetzes: Dieser stellt die Verbreitung von geheimen Bankdaten unter Strafe, angedroht werden bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe oder eine Geldstrafe. Die Deutung dieses Artikels war einhellig: Es handelt sich dabei um ein «Zensurgesetz».
Der Vorwurf ist happig und erscheint begründet, wenn man sich seine Entstehungsgeschichte anschaut: Das Parlament schuf dieses Verbot im Jahr 2015 auf Antrag der Freisinnigen. Der damalige Nationalrat und heutige Ständerat Andrea Caroni machte damals seine Haltung klar: «Es gehört nicht zur Aufgabe von Journalisten, geheime, intime, persönliche Daten, die gestohlen wurden, in den Medien auszubreiten und die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen zu verletzen; das gehört schlichtweg nicht zu ihrem Job.»
Die Worte von Caroni haben Gewicht: Als Gesetzesmacher, Jurist und Chef der Gerichtskommission der eidgenössischen Räte entscheidet er mit, mit welcher Strenge ein bestimmtes Gesetz anzuwenden ist. Wenn er – trotz kritischer Stimmen – damals das Bankgeheimnis auch bei Journalistinnen und Journalisten strikt anwenden wollte, dann dürfte das auch so sein. Diese Sicht teilte auch die Redaktion der Tamedia-Zeitungen: Sie «verzichteten» darauf, sich bei der weltweiten Recherche zu beteiligen. Ihr Chefredaktor Arthur Rutishauser begründet das mit dem «Maulkorb-Artikel im Bankgesetz» und fordert eine dringende Abschaffung.
Seine Kritik wird von verschiedenen Medien, von Reporter ohne Grenzen Schweiz und von linken Parteien geteilt. Grüne, Sozialdemokratinnen und sogar der Freisinnige Caroni selbst sehen Korrekturbedarf: «Möglicherweise ist der Regler nicht perfekt eingestellt», wird der Ständerat beim «Tages-Anzeiger» zitiert. SP-Nationalrätin Samira Marti sagte zum Maulkorb-Artikel gar: «Wer Verbrechen aufdeckt, wird heute zum Verbrecher.»
Die Sache ist aber nicht schwarz-weiss: Ein einzelner Satz im Gesetz reicht nicht, um fundamentale Grundrechte wie die Pressefreiheit beschneiden zu dürfen. Das anerkennt auch die Organisation Reporter ohne Grenzen. Sprich: Wäre eine Schweizer Journalistin an der «SuisseSecrets»-Recherche beteiligt gewesen, hätte dies kaum zu einem Einsatz von Polizei-Sondereinheiten, Razzien und Inhaftierungen geführt. Und wenn es eine übereifrige Staatsanwaltschaft gegeben hätte, wäre diese spätestens vor Gericht zurückgepfiffen worden: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte duldet nur wenige Ausnahmen von der Pressefreiheit, wenn Medien unter Einhaltung der Berufsregeln Informationen des allgemeinen Interesses veröffentlichen.
Auch das Schweizer Strafrecht sieht ausdrücklich vor, dass nicht jede Straftat verfolgt werden muss: Staatsanwaltschaften, Gerichte und Polizeien können von einer Bestrafung oder Verfolgung absehen, wenn die Schuld und Tatfolgen «geringfügig» sind. Ob das aber auch passiert, bleibt für Journalistinnen und Journalisten vor der Veröffentlichung einer Recherche offen: Sie gehen ein Risiko ein, wenn sie heikle Informationen veröffentlichen. Dieses Risiko ist aber im Fall von geheimen Bankkundendaten seit 2015 und wegen des FDP-Antrags höher geworden.
Solche Risiken gibt es aber immer und werden immer wieder eingegangen. So wurden in den vergangenen Pandemiemonaten regelmässig geheime Informationen aus dem Bundesrat oder Parlamentskommissionen veröffentlicht. Auch diese sind strafbar und können – im Gegensatz zum Bankkundengeheimnis – nur «unbedingt» in Form einer Busse ausgesprochen werden. Sprich: Wird ein Journalist wegen eines Leaks aus der Bundesratssitzung verurteilt, wird er in jedem Fall zur Kasse gebeten. Im Fall von Bankgeheimnissen könnte ein Gericht eine Geld- oder Freiheitsstrafe «auf Probe» aussprechen.
Kommt hinzu: Corona-Indiskretionen erfolgten nicht immer aus öffentlichem Interesse. Der Gesamtbundesrat ärgerte sich zwar immer wieder darüber und liess mitteilen, dass er solche «Indiskretionen verurteilt, egal woher sie kommen». Zu einer strafrechtlichen Verfolgung kam es aber nicht – und wenn, dann höchstens gegen Beamte, die ihr Amtsgeheimnis in Gesprächen mit Journalistinnen und Journalisten verletzt haben.
Assange lässt grüssen.