Emotionale Auftritte ist man sich von Ignazio Cassis nicht gewohnt. Im September jedoch platzte dem Chefdiplomaten der Kragen. An einer FDP-Veranstaltung im Tessin redete sich der 62-Jährige den Frust von der Seele. Er beschimpfte Klimakleber als «kriminell» und wetterte gegen SVP und SP, die für die Polarisierung in der Schweiz verantwortlich seien.
Schliesslich attackierte Cassis die Medien: «Ich lese keine Zeitungen mehr. Sie sind nicht gut für mich.» Die Kommunikationsabteilung des Aussendepartements versicherte darauf, ihm würden jeden Tag die wichtigsten Texte vorgelegt. Trotzdem war sein Ärger halbwegs nachvollziehbar. Kein Bundesrat steht so konstant in der Kritik wie der Tessiner Freisinnige.
Irgendwie kann es Cassis niemandem recht machen. Der abtretende Gesundheitsminister Alain Berset (SP) mag polarisieren, doch im SRG-Wahlbarometer vom September wird ihm der mit Abstand grösste Einfluss in der Regierung attestiert, und auch seine Sympathiewerte sind hoch. Ignazio Cassis hingegen steht bezüglich Einfluss und Sympathie weit hinten.
Dieser Befund ist nicht neu. Seit der frühere FDP-Fraktionschef im September 2017 zum Nachfolger des glücklosen Didier Burkhalter gewählt wurde, wird er skeptisch beäugt. In den Bundesrats-Rankings bildete er konstant das Schlusslicht. Das mag an seiner für einen «Lateiner» eher spröden Art liegen, aber auch an der mangelhaften Kommunikation.
Das jüngste Beispiel lieferte er nach der Bundesratssitzung vom letzten Mittwoch. Die Schweiz hatte in der Uno-Vollversammlung eine Resolution befürwortet, die unter anderem eine sofortige Waffenruhe im Gazastreifen verlangte, aber weder den Terror der Hamas verurteilte noch die sofortige Freilassung der israelischen Geiseln forderte.
Israel bezeichnete die Resolution als «Schande». Der Schweizer Vertreter habe bedauert, dass eine Verurteilung der Hamas-Angriffe nicht aufgenommen wurde, betonte Cassis vor den Medien. Gleichzeitig verteidigte er das Ja: Als Depositarstaat der Genfer Konventionen hätte sich die Schweiz nur schlecht gegen eine solche Resolution aussprechen können.
Allerdings hätte sich die Schweiz wie Deutschland oder Italien enthalten können. Bürgerliche Politiker warfen Cassis nicht zum ersten Mal Führungsschwäche vor. Er habe das ideologisch geprägte EDA nicht im Griff. Von links wiederum wird die Sistierung der Zahlungen an israelische und palästinensische Nichtregierungsorganisationen bedauert.
Einmal mehr scheint es Ignazio Cassis niemandem recht machen zu können. Der Luzerner SVP-Nationalrat Franz Grütter, noch bis Ende Monat Präsident der Aussenpolitischen Kommission, forderte den ehemaligen Tessiner Kantonsarzt in der «SonntagsZeitung» zum Wechsel ins Innendepartement auf. Er wäre für Cassis «sicherlich ein Befreiungsschlag».
Das ist nett formuliert, läuft aber auf eine «Strafversetzung» hinaus. Abwählen wird ihn die SVP bei der Gesamterneuerungswahl am 13. Dezember nicht. Auch sonst hat Cassis trotz verbreitetem Unmut wenig zu befürchten. Selbst die SP zögert, den Angriff der Grünen auf einen FDP-Sitz zu unterstützen. Sie will bei der Berset-Ersatzwahl keine Risiken eingehen.
Seine Rolle als Prügelknabe verdankt der Aussenminister auch seinem Umgang mit dem Europadossier, dem wohl wichtigsten in seinem Departement. Dabei hatte er es mit Elan angepackt. Man erinnert sich an seine 100-Tage-Medienkonferenz in Lugano, als er die Bedeutung des institutionellen Abkommens mit der EU mit Bauklötzen illustrierte.
Vor den Medien bezeichnete er es als «Öl im Getriebe» des Bilateralismus. Dann streute er selbst Sand in dieses Getriebe. In einem Interview mit Radio SRF deutete er Zugeständnisse bei den flankierenden Massnahmen zum Schutz vor Lohndumping an. EU und Schweiz müssten bereit sein, «über den eigenen Schatten zu springen und kreative Wege zu finden».
Die Gewerkschaften schäumten, denn bis dato hatte der Bundesrat den Lohnschutz als «rote Linie» definiert. Als der Text des Rahmenabkommens im November 2018 vorlag, konnte sich auch im Gesamtbundesrat kaum jemand damit anfreunden. Der Aussenminister wurde nur von Doris Leuthard (CVP) und später von deren Nachfolgerin Viola Amherd unterstützt.
Cassis’ Elan war wie weggeblasen. Der Tessiner wirkte in der Europapolitik verzagt. Er musste Staatssekretär Roberto Balzaretti opfern, seinen engen Tessiner Vertrauten. Mit Nachfolgerin Livia Leu soll er nie richtig klargekommen sein. Im Mai 2021 erklärte der Bundesrat das Rahmenabkommen für gescheitert, ohne einen Plan B zu besitzen.
Es war ein Entscheid des Gremiums, doch der zuständige Departementsvorsteher hinterliess nicht den Eindruck, sich engagiert gegen diese Tabula-rasa-«Lösung» zu wehren. Die grüne Nationalrätin Marionna Schlatter warf ihm in der «SonntagsZeitung» Mutlosigkeit vor, eine Einschätzung, mit der sie in Bundesbern bei Weitem nicht allein steht.
Seither erodiert das Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU, wie Kritiker befürchtet hatten. Soll Ignazio Cassis also in das – ebenfalls komplizierte – Innendepartement wechseln? Eine Möglichkeit gab es Ende letzten Jahres, als Alain Berset mehr als deutlich durchblicken liess, dass er nach den belastenden Corona-Jahren einen Wechsel anstrebte.
Doch Cassis blieb im EDA. Und nun ist ein Neustart mit der EU in Sicht. Schon am Mittwoch will der Bundesrat gemäss CH Media über die Aufnahme von Verhandlungen beraten. Ziel ist demnach ein Mandatstext bis Ende Jahr und ein Verhandlungsstart im Frühjahr 2024. Europapolitiker im Parlament sind zuversichtlich, dass der Bundesrat es ernst meint.
Es könnte für Ignazio Cassis Motivation sein, weiterzumachen. Oder den Neuanfang für einen solchen in eigener Sache auszunutzen. Angesichts der mühsamen Dossiers Altersvorsorge und Gesundheitspolitik sollte man eher nicht damit rechnen.
Besonders augenscheinlich wurde das mit seiner wischiwaschi Haltung gegenüber dem Russland-Ukraine Konflikt und jetzt kürzlich gerade wieder mit seiner Terror relativierenden Position im Nahost-Konflikt.
Jedoch denke ich nicht, dass er sich im Falle eines Departments Wechsels wesentlich besser machen würde...
Meiner Meinung nach hat der Mann einfach nicht das Format, dass für so ein Amt gefordert wäre.