Moskau, New York, Paris. Drei bedeutende Weltstädte. Drei Prestigeposten für Diplomaten. Aus Schweizer Sicht haben sie etwas gemeinsam: Sie wurden zum «Auffangbecken» für ehemalige Chefunterhändler mit der Europäischen Union: Yves Rossier ging nach Moskau, Pascale Baeriswil nach New York. Und nun übernimmt Roberto Balzaretti in Paris.
Zumindest im Fall von Rossier und Balzaretti entspricht die Wegbeförderung einer Strafversetzung. Seit Beginn der Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen 2013 hat der Bundesrat vier Chefunterhändler «verschlissen». Auch Jacques de Watteville durfte sich bis zu seiner Pensionierung die Zähne am undankbaren Dossier ausbeissen.
Roberto Balzaretti brachte die Verhandlungen im Dezember 2018 immerhin zum Abschluss. Genau dieser vermeintliche Erfolg wurde ihm nun zum Verhängnis. Seit der Entwurf des InstA vorliegt, befindet er sich unter Dauerbeschuss aus verschiedensten Lagern. Und mit ihm der Chefunterhändler. Nun hat der Bundesrat ihn als Sündenbock geopfert.
Das ist bitter für Balzaretti und eine Niederlage für Aussenminister Ignazio Cassis. Die beiden Tessiner verband ein Vertrauensverhältnis. Beide haben Fehler gemacht, vor allem in der Kommunikation. Roberto Balzaretti hat das Abkommen sehr offensiv verteidigt. Das von seinen Kritikern entworfene Image eines durchgeknallten Euroturbos aber hat er nicht verdient.
Balzaretti ist seit bald 30 Jahren mit den Mechanismen in Brüssel vertraut. Er sieht den Dogmatismus der EU-Kommission im Umgang mit der Schweiz durchaus kritisch. Er weiss aber auch, was machbar ist. Mehr als das vorliegende InstA liegt aus seiner Sicht für die Schweiz nicht drin. Der Bundesrat aber hat ihn in dieser Frage schlicht hängen lassen.
Denn dieser Fisch stinkt vom Kopf her: Roberto Balzaretti musste als Bauernopfer für die Führungsschwäche der Landesregierung über die Klinge springen. Sie ist angesichts der geballten Opposition zu einem gewissen Grad nachvollziehbar. «Die Schweiz tut sich schwer mit diesem Thema», sagte Ignazio Cassis am Mittwoch vor den Medien.
Alle vier Bundesratsparteien sind mehr oder weniger auf Distanz zum Rahmenabkommen. Die SVP will es sowieso nicht. Die einstige Europabegeisterung der SP hat sich lange vor dem «Aufstand» der Gewerkschaften in Sachen Lohnschutz abgekühlt. Auch die FDP hat ihr «Ja aus Vernunft» mit Vorbehalten verbunden.
Besonders frappant ist die Entwicklung bei der CVP. Die frühere Bundesrätin Doris Leuthard hatte sich am Ende ihrer Amtszeit resolut für das institutionelle Abkommen eingesetzt. Als einziges Mitglied des Bundesrats neben Cassis wollte sie es vorbehaltlos unterzeichnen. Heute nennt es CVP-Präsident Gerhard Pfister eine «Lebenslüge» des Bundesrats.
Nun soll die aus Paris geholte neue Super-Staatssekretärin Livia Leu retten, was vielleicht nicht zu retten ist. Immerhin hat der Bundesrat eine bestens qualifizierte Person auf dem notorischen Schleudersitz platziert. Leu hatte unter anderem den schwierigen Botschafterposten in Teheran bekleidet und in dieser Funktion viel Lob geerntet.
Zu beneiden ist sie nicht, denn ihre Mission bleibt fast unmöglich. «Neuverhandlungen über den Kerntext sind unrealistisch», sagte Michael Flügger, der deutsche Botschafter in Bern, im Interview mit dem «Blick». Das betrifft auch die viel kritisierte Souveränitätsfrage und die Rolle des Europäischen Gerichtshofs (EuGH). Der Bundesrat kennt das Problem.
Er will die Position der Schweiz «in den nächsten Wochen» festlegen, teilte er am Mittwoch einmal mehr mit. Trotzdem kann Livia Leu in ihrer neuen Rolle fast nur gewinnen. Entweder bringt sie ein unerwartet gutes Ergebnis aus Brüssel zurück und erlangt Heldinnenstatus. Oder der Bundesrat muss zugeben, dass es nicht an der Person liegt.
Realistischer ist die zweite Option. Was dann geschieht, liegt definitiv in der Verantwortung des Bundesrats. Für Livia Leu aber fände sich bestimmt ein weiterer Prestigeposten.
Ich bin gespannt.