Eines muss man Ignazio Cassis lassen: Der neue Aussenminister hat verstanden, wie wichtig Kommunikation gerade in der Europapolitik ist. Sein Vorgänger und FDP-Parteifreund Didier Burkhalter hatte diesen Aspekt zuletzt sträflich vernachlässigt. Cassis gibt sich mehr Mühe, und sei es, indem er mit überdimensionierten Bauklötzen jongliert.
Damit versuchte der Tessiner an seiner 100-Tage-Medienkonferenz am Donnerstag in Lugano, die Beziehungen der Schweiz mit der Europäischen Union anschaulich zu erklären. Seinen Heimatkanton hat der neue Bundesrat nicht zufällig ausgewählt. «Im Tessin herrscht Zurückhaltung gegenüber dem grossen Italien», sagte Cassis.
Das ist sehr diplomatisch ausgedrückt. Das Tessin fühlt sich von den Italienern unter Druck gesetzt, insbesondere durch die mehr als 60'000 Grenzgänger. Kein Kanton stimmt euroskeptischer. «Seien wir stolz, Europäer zu sein!» rief Ignazio Cassis deshalb den Journalisten und Studenten an der Universität der italienischen Schweiz (USI) zu.
Die EU meinte er damit explizit nicht. Doch obwohl er sich auch zu anderen Aufgabenbereichen im EDA äusserte, drehte sich sein Auftritt in erster Linie um das weitgehend blockierte Rahmenabkommen mit der EU. Schon am Vorabend hatte sich Cassis nach einer langen Aussprache im Bundesrat vor den Medien geäussert und dabei wenig Konkretes verkündet, mit Ausnahme der Ernennung von Roberto Balzaretti zum neuen «Mister Europa».
Daran änderte sein Auftritt in Lugano wenig, trotz der farbigen Klötze und dem blauen Ball, der das Rahmenabkommen symbolisierte. Und der bezeichnenderweise einmal vom Pult herunterfiel. Auch in der Realität ist die Absturzgefahr hoch, obwohl Cassis wesentlich leidenschaftlicher als noch am Vorabend für das Abkommen plädierte.
Der Weg zu einem erfolgreichen Abschluss ist alles andere als einfach. Der Aussenminister ist nicht zu beneiden, er wird bei dem heiklen Dossier von drei gewichtigen Seiten unter Druck gesetzt.
So weit, so überraschungsfrei. Die Volkspartei macht in der Europapolitik längst nur noch Fundamentalopposition. SVP-Vordenker Christoph Blocher hatte an der Albisgüetli-Tagung – mit Gastredner Ignazio Cassis – den «Ankettungsvertrag» in Bausch und Bogen verdammt. Die Schweiz sei erneut «auf dem Weg zur Knechtschaft».
Allzu viel Rücksicht auf die SVP muss Cassis nicht nehmen, obwohl er mit ihren Stimmen in den Bundesrat gewählt worden war. Doch die SVP attackiert die Europapolitik an verschiedenen Fronten, etwa mit der Initiative zur faktischen Kündigung der Personenfreizügigkeit. Und man darf ihre Mobilisierungskraft gegen «Brüssel» niemals unterschätzen.
Bislang galten SP und Co. als Stützen einer proeuropäischen Politik. Nun aber sind zumindest von einem Teil der Linken schrillere Töne zu vernehmen. Die Gewerkschaften fürchten um die flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping. Diese sind den benachbarten Regionen der Schweiz ein Dorn im Auge. Das gilt speziell für die Regel, wonach sich Unternehmen acht Tage im voraus anmelden müssen, wenn sie in der Schweiz tätig sein wollen.
Bislang konnte die Schweiz entsprechende Beschwerden abblocken. Die Gewerkschaften fürchten jedoch, dass sich dies mit dem Rahmenabkommen ändern wird, falls der Europäische Gerichtshof (EuGH) einbezogen wird. Er hat ähnliche Regeln in anderen Ländern als unvereinbar mit der Personenfreizügigkeit beurteilt. Die 8-Tage-Vorschrift könnte somit fallen.
SP-Fraktionschef Roger Nordmann betonte am Mittwoch in einer Mitteilung, die flankierenden Massnahmen dürften «in keinster Weise geschwächt werden», sonst werde das Rahmenabkommen in der Bevölkerung eine schweren Stand haben. «Das sind immer noch rote Linien in unseren Verhandlungen», betonte Cassis im Gespräch mit watson. «So lange das so entschieden wird, haben wir keinen Freiraum, um daran zu rütteln.»
Damit widersprach er indirekt einem Bericht im «Tages-Anzeiger», wonach der Bundesrat bereit sei, die «Flankierenden» dem Rahmenvertrag zu opfern. Eine solche Strategie wäre riskant. Wenn auch nur ein Teil der Linken beim Rahmenabkommen die Seite wechselt, wird es sehr schwierig, die Vorlage mehrheitsfähig zu gestalten.
«Aussenpolitik ist Innenpolitik», hat Cassis am Donnerstag erneut betont. Letztlich aber muss er einen Deal mit der Europäischen Union machen. Und von dort ist die Gangart gegenüber der Schweiz immer härter geworden. Das gilt nicht nur für die Börsenanerkennung. Auch in anderen Bereichen hat die EU die Daumenschrauben angezogen.
Das gilt etwa für die Kantone, bei denen sie bislang ein Auge zugedrückt hat. Nun nimmt sie laut «Tages-Anzeiger» die staatlichen Beihilfen für Kantonalbanken oder Elektrizitätswerke ins Visier. Druck gibt es auch bei Massnahmen, die aus Sicht der EU die Personenfreizügigkeit einschränken, berichtet die «Rundschau» von SRF. So verlangen mehrere Kantone – darunter Tessin – von Arbeitnehmern aus der EU einen Strafregisterauszug.
«Die Europäische Union ist sehr wohl in der Lage und vor allem willens, uns zu piesacken», sagte der Aargauer FDP-Ständerat Philipp Müller in der «Rundschau». Auch Bundesrat Cassis hätte am Mittwoch betont, die EU trete gegenüber der Schweiz kompakter und selbstbewusster auf. Grund dafür ist der Brexit. Er hat dazu geführt, dass die übrigen 27 Mitgliedsländer bei allen internen Differenzen die Reihen nach aussen geschlossen haben. Das trifft auch die Schweiz.
Mehrere Staats- und Regierungschefs haben in den letzten Tagen klar gemacht, dass sie keine «Rosinenpickerei» dulden wollen, so der französische Präsident Emmanuel Macron im Interview mit dem Westschweizer Fernsehen. Am Ende entscheiden sie, womit es für die Schweiz schwer werden dürfte, eine «massgeschneiderte» Lösung beim Rahmenabkommen zu erhalten.
Ignazio Cassis betonte, dass er ein Rahmenabkommen – oder Marktzugangsabkommen – anstrebt, aber auch ein Scheitern in Kauf nimmt. Angesichts des Drucks von drei Seiten kann der Aussenminister fast nur verlieren. Er muss faktisch die Quadratur des Kreises schaffen. Und dabei verhindern, dass der Bundesrat erneut mit mehreren Zungen spricht.
Wenn es ihm und Chefunterhändler Roberto Balzaretti jedoch gelingt, einen für beide Seiten akzeptablen Vertrag auszuhandeln und zumindest die Linke – die SVP kann man ohnehin vergessen – ins Boot zu holen, kann man Ignazio Cassis getrost ein Denkmal errichten. Und das nicht nur im Tessin.