Die Nachricht platzte am Samstagabend in den Fondueplausch auf dem Grotzenbüel. Im Bergrestaurant oberhalb des Glarner Ferienorts Braunwald versammelten sich wie jedes Jahr die Europa-Freunde, darunter bekannte Namen aus der Politik. Hauptthema war das neue Vertragspaket mit der EU (Tendenz: verhaltener Optimismus).
Doch dann diese Breaking News: Gerhard Pfister will nicht Nachfolger von Viola Amherd im Bundesrat werden. Der Noch-Präsident der Mitte-Partei und in den Medien meistgenannte Favorit nahm sich in der «Sonntagszeitung» aus dem Rennen. Von da an gab es am sogenannten «Braunwald-Inferno» eigentlich nur ein Gesprächsthema.
Pfisters Verzicht wirkte überraschend. Über seine Bundesratsambitionen wurde seit Jahren spekuliert. In der SRF-«Tagesschau» vom Sonntag aber wirkte der 62-jährige Zuger gelöst, wie man ihn selten erlebt. Als wäre ihm eine schwere Last von der Schulter gefallen. Die Gründe, die er für seine Nicht-Kandidatur anführte, wirken plausibel.
Er wäre «kein glücklicher Bundesrat», meinte Pfister. In diesem Amt muss man ein Teamplayer sein, im Gremium und als Departementschef. Gerhard Pfister aber hat sich mit seinem Intellekt und seiner Streitlust im Parlament und in der eigenen Partei nicht nur beliebt gemacht. Eine Abstrafung bei der Bundesratswahl war ein realistisches Szenario.
Damit rückte für die Amherd-Nachfolge der «andere» Favorit neben Pfister in den Vordergrund: der Bündner Nationalrat Martin Candinas. Der 44-Jährige ist die Jovialität in Person und damit ein «Anti-Pfister». Er hat einige Vorzüge, aber auch Schwachpunkte, etwa ein unscharfes Profil bei wichtigen Themen oder die fehlende Führungserfahrung.
Am Montag aber erledigten sich diese Spekulationen. Noch bevor die Parteispitze den Fahrplan für die Bundesratswahl kommunizierte, erklärte Candinas den Verzicht auf eine Kandidatur. Die Aussicht auf das Bundesratsamt entfache «aktuell kein inneres Feuer in mir», teilte er mit. Auch verwies der Vater dreier schulpflichtiger Kinder auf seine Familie.
Mit dem gleichen Argument sagte Fraktionschef Philipp Matthias Bregy in der «NZZ am Sonntag» für die Amherd-Nachfolge ab. Es ist ehrenwert, gerade für eine «Familienpartei» wie die Mitte. Und vielleicht ist der Bundesratsjob gar nicht so beliebt. Man muss eine Arbeitslast schultern und ist heftigen Anfeindungen etwa aus der SVP ausgesetzt.
Irritierend wirken die Absagen trotzdem, auch weil die Mitte drei Spitzenpositionen neu besetzen muss: Bundesratsamt, Parteipräsidium und wohl auch das Generalsekretariat. Hinzu kommt, dass Amherd und Pfister ihre Rücktritte offenbar nicht abgesprochen hatten. Die Mitte-Partei gebe «ein chaotisches Bild ab», schnödete die «Sonntagszeitung».
Unter Präsident Pfister und Generalsekretärin Gianna Luzio hat sich die Partei mit einigem Erfolg neu erfunden. Doch das Spektrum war und ist breit. Es reicht von den «schwarzen» CVP-Stammlanden bis zu einem urbaneren, sozialliberalen Milieu. Besonders die eigensinnigen Ständeräte legen sich zu Gerhard Pfisters Leidwesen öfters quer.
Das «Favoritensterben» bei der Amherd-Nachfolge eröffnet der Mitte aber auch Chancen. Das Feld öffnet sich für Kandidaturen, die bislang nicht im Vordergrund standen. Eher nicht dazu gehört Markus Ritter, und das nicht nur, weil er wie Karin Keller-Sutter aus St.Gallen stammt. Als Bauernpräsident ist er schon heute einer der mächtigsten Männer des Landes – nicht nur politisch.
Dafür könnte der Zürcher Nationalrat Philipp Kutter ins Rennen einsteigen. Er wäre der erste Bundesrat im Rollstuhl. Doch in seinem Fall stellen sich gesundheitliche Fragen: Kutter ist Tetraplegiker, und als Bundesrat ist man praktisch rund um die Uhr gefordert. Viola Amherds Vorgängerin Doris Leuthard sprach einst von einer 90-Stunden-Woche.
Hoffnung könnten auch die Frauen schöpfen. Drei der vier letzten Bundesratsmitglieder von CVP/Mitte waren weiblich (Amherd, Leuthard, Metzler). Nun sei wieder ein Mann an der Reihe, hiess es da und dort. Diese Position könnte sich aufweichen, auch wenn die Freiburger Ständerätin Isabelle Chassot als Mitglied der Findungskommission definitiv nicht kandidiert.
Zum Thema werden könnten Frauen, gegen die es gewisse Vorbehalte gibt, etwa die proeuropäische Baselbieter Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter oder die Luzerner Ständerätin Andrea Gmür, der ihr Rückzug als Fraktionschefin nach etwas mehr als einem Jahr angekreidet wird. Abgesagt hat hingegen die Urner Ständerätin Heidi Z’graggen.
Sie stand 2018 mit Viola Amherd auf dem Ticket, doch damals war sie als Regierungsrätin in Bern zu wenig bekannt. Das gleiche Handicap hat ein Name, der am Samstag in Braunwald aufploppte: der Aargauer Finanzdirektor Markus Dieth. Er präsidiert derzeit die Konferenz der Kantonsregierungen, doch Kantonspolitiker haben es in der Bundesversammlung schwer.
Der frühere Parteichef Christophe Darbellay überlegt es sich, doch er kandidiert am 2. März für eine dritte Amtszeit als Walliser Staatsrat, mitten in der heissen Phase der Bundesratswahl. Auftrieb könnte ein Name erhalten, der bislang kaum genannt wurde: Erich Ettlin, Ständerat aus Obwalden. Gerhard Pfister verwies in der «Sonntagszeitung» auf seinen Einfluss im Parlament.
Ettlin ist ein unterschätzter Dealmaker. Er ist konservativ, aber kein Hardliner wie der Oberwalliser Beat Rieder oder der Innerrhoder Daniel Fässler. Ein Nachteil mag sein Alter sein: Ettlin wird im Mai 63. Doch dieser Vorbehalt kann relativiert werden: Friedrich Merz, Chef der «Schwesterpartei» CDU, dürfte nächster deutscher Bundeskanzler werden – mit 69.
Die Mitte-Partei hat das Glück, dass niemand ihren Bundesratssitz angreift, auch nicht die Grünen. Sie ist für Linke und Rechte als Mehrheitsbeschafferin unverzichtbar. Wer es aber aufs Ticket schafft, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, nur zweite Wahl zu sein. Er könnte sich auch auf den Anspruch auswirken, einen zweiten Sitz auf Kosten der FDP zu erringen.