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«Wenn wir versuchen, zu verstehen, warum Jugendliche randaliert haben, legitimiert das noch keine Gewalt»

Der Umzug vom Freitagabend in der Zürcher Innenstadt.
Der Umzug vom Freitagabend in der Zürcher Innenstadt.Bild: KEYSTONE
Interview mit Soziologe Ueli Mäder

«Wenn wir versuchen, zu verstehen, warum Jugendliche randaliert haben, legitimiert das noch keine Gewalt»

Der Basler Soziologe Ueli Mäder über die Lust der Jugendlichen an der Randale und die Gründe, weshalb «Reclaim the Streets» in einer Gewaltorgien endete.
18.12.2014, 20:02
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Herr Mäder, die Ausschreitungen vom vergangenen Freitagabend in Zürich waren massiv: Sieben verletzte Polizisten, über eine Million Franken Sachschaden. Was ist da in Ihren Augen passiert?
Ueli Mäder: Es war eine massive Form von Gewalt. Die Ausschreitungen kamen für mich überraschend, obwohl ich beruflich ab und zu mit Leuten aus gewaltbereiten Gruppen zu tun habe. Zudem war der Demonstrationszug offenbar recht gut organisiert. Äusserlich erweckt es vielleicht den Anschein, dass es chaotisch war.

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Bild: KEYSTONE
Ueli Mäder
Der 63-Jährige ist Ordinarius für Soziologie an der Universität Basel und Professor an der Hochschule für Soziale Arbeit (FHNW). Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören unter anderem die Konflikt- und Kooperationsforschung (Gewalt, neue Kriege) sowie die soziale Ungleichheit (Reichtum/Armut, Integration/Ausschluss). Er leitete ein nationales Forschungsprojekt zu Verdingkindern in der Schweiz. (egg)

Sie kennen einige dieser Krawall-Aktivisten. Was sind das für Leute?
Ich kenne vereinzelte Jugendliche, die an solchen Ausschreitungen dabei sind. Sie kommen überhaupt nicht alle aus prekären finanziellen Verhältnissen. Es sind teilweise gut ausgebildete Jugendliche aus sogenannt gutem Hause darunter, auch talentierte Fussballer.

Sie sprechen von Jugendlichen, verhaftet hat die Polizei aber auch Leute über 30. Welche Altersgruppen sind in dieser Bewegung vertreten?
Es sind überwiegend Jugendliche. Die 25-Jährigen zählen soziologisch auch noch dazu.

Wo sehen Sie die Gründe für den Gewaltausbruch?
Ich muss Eines vorausschicken: Wenn man jetzt Gründe für die Gewalt sucht und benennt, sind das keine Rechtfertigungen dafür. Das heisst: Wenn wir versuchen, zu verstehen, warum Jugendliche randaliert haben, legitimiert das keine Gewalt.

Also gut. Versuchen wir, zu verstehen.
Die Jugendlichen reagieren auf enorme soziale Gegensätze. Und sie wollen die Strassen der Stadt zurückerobern. Ihre Hauptbotschaft lautet: Wir wollen mehr Raum, und wir wollen uns diesen Raum erkämpfen. In einem urbanen Gebiet gibt es viele Autos und wenig Freiraum. Das führt zu Konflikten. Aus meiner Sicht ist es ein wichtiges Anliegen, für das sich Jugendliche einsetzen. Leider mit den falschen Mitteln.

Dazu braucht es keine gewalttätigen Ausschreitungen und Zerstörung. Wie wäre es mit gewaltfreien Forderungen, mit offenem Dialog oder konstruktiven Ideen?
Ich wünschte mir auch, sie würden es originell und kreativ machen. Die Gewalt deutet aber auf eine hohe Frustration und Wut der Jugendlichen hin – und es ist wohl auch eine gewisse Lust dabei. Zudem zählt, dass sie wahrgenommen werden. Fehlende Beachtung bewirkt diese massive Form der Gewalt mit.

Aber in der Form wirkt das ja nur kontraproduktiv. Die SVP findet sogleich ein neues Steckenpferd, indem sie alle besetzten Häuser räumen will. Das kann doch nicht das Ziel sein.
Die Jugendlichen suchen ein Echo, und das bekommen sie. Die öffentliche Wahrnehmung und die Empörung über die gewalttätigen Ausschreitungen danach in den Medien ist für sie eine Form der Anerkennung.

Sehen Sie auch Anzeichen für eine Überforderung der jungen Leute mit den Ansprüchen der Gesellschaft?
Das mag auch mitspielen, obwohl sie diese Ansprüche eigentlich ablehnen. Gerade vor Weihnachten ist die Gesellschaft sehr konsumorientiert und getrieben. Hinzu kommt der anhaltende Druck: Je schneller desto besser, es braucht immer und überall forciertes Wachstum. Viele Jugendliche nehmen diesen Gang der Dinge als sinnentleert wahr. Sie suchen einen Sinn. Und Krawalle bieten sich als Ersatz an. Sie setzen Emotionen frei, so befremdlich diese Ausdrucksform ist.

Viele Jugendliche suchen einen Sinn. Und Krawalle bieten sich als Ersatz an. Sie setzen Emotionen frei, so befremdlich diese Ausdrucksform ist.

Oft wird der Vergleich mit den Achtzigern herbeigezogen. Inwiefern ist diese Protestbewegung vergleichbar mit früheren Jugendbewegungen?
Gemeinsam ist das Engagement für Freiräume und soziale Gerechtigkeit. Aber Vergleiche sind heikel. Früher kämpften Jugendliche vor allem gegen autoritäre Strukturen an. Heute reagieren sie mehr auf eine gewisse Beliebigkeit und auf bürokratische Kontrollen.

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Zum Beispiel?
Ich konnte als Jugendlicher Dinge machen, die heute kriminalisiert werden. Wenn sie heute auf einem Platz in der Stadt ein Feuerchen machen, kommt sofort die Polizei. Das stört übrigens sogar Polizisten. Selbst sie finden teilweise, dass man den Jugendlichen so jeden Freiraum nimmt.

Nur ein kleiner Teil der jungen Menschen in der Schweiz macht sich mit solchen Protestaktionen bemerkbar. Brauchen Jugendliche in der Stadt mehr Freiräume als Jugendliche auf dem Land?
Auf dem Land haben Jugendliche mehr Grün, aber ebenfalls kaum Möglichkeiten, eigenverantwortlich Räume zu gestalten.

Aber auf dem Land gibt es keine Krawalle. Warum?
Auf dem Land ist die soziale Kontrolle direkter. Das treibt viele Jugendliche in die Stadt. Wobei es auch an Dorffesten immer wieder zu Schlägereien kommt.

Warum schaffen wir es nicht, dieses Manko zu beheben?
Geld regiert die Welt. Bei uns dominiert ein finanzgetriebenes Regime. Da sind Parkplätze wichtiger als Kinderspielplätze. Und der Konsumrausch betäubt die Sinne. Aber es gibt auch viele erfreuliche Ansätze. Zum Beispiel Jugendliche, die in Hinterhöfen ihr Gemüse anpflanzen.  

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