Die Ernährungstrends von heute stehen ganz im Zeichen der Gesundheit. «Zuckerfrei», «30% weniger Zucker», «ohne Zuckerzusätze» – die Regale füllen sich immer weiter mit weniger süssen oder gar zuckerfreien Produkten.
Trotzdem sind wir von den Zielen, den Zuckerkonsum zu reduzieren, weit entfernt. Im Gegenteil: In den vergangenen Jahren hat der Konsum in der Schweiz wieder zugenommen – obwohl die Auswahl an weniger gesüssten Lebensmitteln zunimmt. «Wir nehmen in der Schweiz nach wie vor massiv zu viel Zucker zu uns», sagt auch Anne Christin Meyer-Gerspach, Ernährungswissenschaftlerin und stellvertretende Leiterin der St. Clara Forschung, gegenüber watson.
Wie ist das möglich? Und wo liegt das Problem?
Der Pro-Kopf-Konsum von Zucker hat sich in den vergangenen Jahren nur minimal verändert. Nach einem kurzen Allzeittief im Jahr 2018 hat der Zucker-Verbrauch wieder zugenommen.
Konkret heisst das: Im Schnitt nimmt eine Person in der Schweiz laut Angaben von Agristat, dem statistischen Dienst des Schweizer Bauernverbandes, 100g Zucker pro Tag zu sich – dies entspricht mehr als 33 Würfelzucker.
Mit diesem Wert liegen wir deutlich über der Empfehlung der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die seit 2015 rät, den täglichen Energieverbrauch durch freien Zucker auf unter 10 Prozent zu reduzieren. Bei einem Energieverbrauch von 2000 Kalorien pro Tag wären dies höchstens 50 Gramm – oder gut 16 Würfelzucker.
Wir müssten den Zuckerkonsum also um die Hälfte reduzieren, um das Minimalziel der WHO zu erreichen, das auch vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen unterstützt wird.
Das Problem: Zucker beschädigt nicht nur die Zähne, die Süsse macht vor allem krank: «Durch den erhöhten, regelmässigen Zuckerkonsum entstehen Übergewicht und Diabetes. Das ist wissenschaftlich belegt», sagt Meyer-Gerspach. Dies sei aber erst der Anfang. Auch Herz-Kreislauf-Erkrankungen, muskuloskelettale Erkrankungen (Arthrose, Rückenbeschwerden etc.) und Krebsleiden können direkt oder indirekt im Zusammenhang mit einem überhöhten Zuckerkonsum stehen.
«Die menschliche Nahrung kam über Jahrtausende ohne zugesetzten Zucker aus». So habe sich auch unser Organismus entwickelt. Die Behauptung, dass Zucker ein wichtiger Energieträger ist, sei ein Irrtum. «Unser Körper braucht keinen Zucker aus der Nahrung», betont Meyer-Gerspach. Energie könne der Körper selbst durch alle stärkehaltigen Lebensmittel wie Brot, Teigwaren, Reis, Polenta, Couscous und aus proteinhaltigen Lebensmitteln wie Fleisch, Milch und Bohnen produzieren, dafür brauche es den Zucker nicht.
Eines der grössten Probleme ist vor allem der unwiderstehliche Geschmack des Zuckers. «Wir haben uns so sehr an die Süsse gewöhnt, dass wir nicht so einfach davon loskommen», erklärt die Ernährungswissenschaftlerin Annette Matzke der Allianz Ernährung und Gesundheit.
Zucker sei eine psychoaktive Substanz, welche einige Eigenschaften mit Drogen teile. So werden beim Konsum zum Beispiel die Dopaminrezeptoren im Belohnungszentrum des Gehirns stimuliert. Dieser Vorgang mache Lust auf noch mehr Süsses und erschwere dann den Verzicht. Weiter könne es bei übermässigem Konsum und plötzlichem Entzug zu Entzugssymptomen wie Heisshungerattacken kommen.
Gelingt der Verzicht, dann gewöhne man sich schnell an weniger süsse Speisen, sagt die Ernährungswissenschaftlerin: «Nach einer gewissen Karenzzeit erholen sich die Geschmacksknospen und süsse Speisen werden plötzlich viel süsser empfunden, die Sättigung setzt früher ein und die Einschränkung fällt leichter».
Zucker gibt es in vielen Formen und unter so vielen Namen, dass sich die Suche nach Zucker auf einem Zutatenetikett so anfühlt, als würde man das Buch «Wo ist Walter?» lesen.
In unserer Nahrung kommt Zucker vorwiegend in Form von Saccharose (Haus-, Kristall- sowie Rübenzucker) oder aber als Glukose (Traubenzucker) oder Fruktose (Fruchtzucker) vor.
«Vielfach zu Verwirrung kommt es bei verschiedenen Zuckerprodukten und Sirupen, die vermeintlich gesünder sind, aber letztendlich spätestens nach Zersetzung im Dünndarm aus nichts anderem als Fruktose und Glukose bestehen», kommt
Anne Christin Meyer-Gerspach in ihrer Übersichtsarbeit zum Schluss. «Letztendlich bestehen alle aus Traubenzucker oder Fruchtzucker und haben regelmässig und in grossen Mengen eingenommen schädliche Effekte auf den Körper.»
So bestehen Dattelsüsse, Agaven- oder Birnendicksaft vor allem aus Fruktose, Honig aus Glukose und Ahornsirup sowie Kokosblütenzucker zu 95 Prozent aus Saccharose. Von der Industrie werden diese vermeintlich gesünderen Zuckerprodukte oft als natürlich beworben, da diese nicht künstlich hergestellt werden.
Doch die natürliche Süsse macht ein Produkt deshalb noch lange nicht gesünder: «Letztendlich bestehen alle aus Traubenzucker oder Fruchtzucker und haben regelmässig und in grossen Mengen eingenommen schädliche Effekte auf den Körper», sagt Meyer-Gerspach. Auf die Gesundheit wirken sich die Zuckerarten allerdings unterschiedlich aus: «Die Glukose führt zu einem Anstieg des Blutzuckerspiegels mit nachfolgender Insulinfreisetzung, während Fruktose keinen Einfluss auf die Insulinfreisetzung hat. Hingegen wird Fruktose in der Leber zu Fett umgebaut, weswegen bei akutem Fruktosekonsum ein Anstieg der Blutfette beobachtet werden kann.»
Weniger bekannt sind künstlich hergestellte Süssstoffe wie Sucralose, Saccharin und natürlich vorkommende Zuckeraustauschstoffe wie Erythrit oder Xylit.
Süssstoffe haben eine Süsskraft, die 30- bis 3000-fach höher ist als jene Zucker und enthalten kaum Kalorien. Im Vergleich haben Süssstoffe einen weiteren Vorteil: «Die Süssstoffe sind in Bezug auf Karies zahnschonend», sagt Ernährungswissenschaftlerin Anne Christin Gerspach. In Bezug auf die Gesundheit sind Süssstoffe allerdings noch unzureichend erforscht: «Es gibt Hinweise, dass einzelne Süssstoffe langfristig eingenommen einen negativen Effekt auf den Blutzuckerspiegel haben oder unsere Darmbakterien ungünstig beeinflussen können, was letztendlich auch eine Rolle bei der Entstehung von Adipositas oder Diabetes spielen kann». Bis weitere Studienergebnisse vorliegen, sollten Süssstoffe laut Ernährungswissenschaftlerin bei erhöhtem Konsum zumindest kritisch beurteilt werden.
Aus der Zuckermasse heraus stechen die Zuckeraustauschstoffe, auch Zuckeralkohole oder mehrwertige Alkohole genannt. Sprich: Zucker und Alkohol vermischt. Ihr Vorteil: «Die zuckerähnlichen Substanzen haben keinen Effekt auf den Blutzuckerspiegel und das Insulin und dennoch eine sättigende Wirkung», erläutert Anne Christin Gerspach.
Wegen ihres relativ hohen Preises kommen sie in Lebensmittel aber nur selten vor. Einzig: «Werden grössere Mengen in kurzer Zeit konsumiert, können einige Stoffe zu Blähungen und Diarrhoe führen.»
Könnte man also den Zucker eigentlich durch geringe Mengen an Zuckerstoffe ersetzen – und die Schweiz würde viel gesünder leben? «Es darf nicht das Ziel sein, den Zucker eins zu eins zu ersetzen», betont Ernährungswissenschaftlerin Matzke. Es sei wichtig, dass man den Zuckerkonsum generell massiv reduziert. Dazu brauche es eine Reduzierung des Zuckers in sämtlichen Produkten, fordern sowohl die Ernährungswissenschaftlerinnen. Erst dann könne man darüber diskutieren, welche gesünderen Alternativen man den Lebensmitteln beifügen soll – und wie viel davon.
Weniger Zucker in den Lebensmitteln – das ist auch das Ziel der offiziellen Schweiz. Das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) setzt sich in Zusammenarbeit mit den Produzenten für eine Zuckerreduktion in Lebensmitteln ein, heisst es auf der Webseite. Trotzdem harzt es gewaltig, wenn man den Zuckerkonsum anschaut.
Die vielen Zuckersorten zeigen die ganze Komplexität: Zucker kann sich hinter so vielen chemischen Begriffen wie Saccharose, Glukosesirup oder Isomaltulose verstecken, die für viele Konsumentinnen und Konsumenten nur schwer als Zucker zu erkennen sind.
Hier beginnt das eigentliche Problem.
Hinzu kommt, dass Zucker auch in Lebensmitteln lauert, die nicht als süsse Speisen wahrgenommen werden, so in Fertigprodukten wie Pizzen, Salatsaucen oder Broten und so weiter. Der Grund: «Vorgefertigte Produkte sollen in Farbe, Aussehen und Geschmack attraktiv sein und ausserdem haltbar sein. Dies erreicht man nur mithilfe bestimmter Zutaten und Zusatzstoffe. Dazu zählt auch der Zucker», erklärt Annette Matzke.
Die Industrie ersetzt den Haushaltszucker (Saccharose) häufig durch Maissirup, sagt Anne Christin Meyer-Gerspach. Die Industrie kann also gewöhnlichen Zucker entfernen, ihn durch einen anderen ersetzen – und trotzdem mit der Aufschrift «ohne Zucker» werben.
Gesetzlich ist dies möglich, denn: Die Bezeichnung «ohne Zucker» oder «ohne Zuckerzusatz» bedeutet, dass im Produkt kein normaler Zucker enthalten ist, Süssstoffe und Zuckeraustauschstoffe sind jedoch zugelassen.
Und dann gibt es noch Begrifflichkeiten, die uns suggerieren, dass ein Produkt wohl gesünder sein muss wie: «weniger süss», «natürlich gesüsst» oder «ohne Zuckerzusätze». Diese Begriffe sagen laut Ernährungswissenschaftlerin Annette Matzke aber nichts über den wahren Zuckergehalt eines Produktes aus.
In der Nährwertdeklaration auf der Rückseite eines Produktes kann man lesen, wie viel Zucker insgesamt im Lebensmittel pro 100g oder 100ml enthalten ist. Aber auch diese Deklaration schafft nicht immer Klarheit, bemängelt Ernährungswissenschaftlerin Esther Infanger. Denn: «Diese Angabe unterscheidet nicht zwischen natürlich vorkommenden und zugesetzten Zuckerarten. So findet sich auch auf einem Naturjoghurt ein Anteil Zucker in der Nährwerttabelle, obwohl das Produkt voll und ganz ungesüsst ist.»
Die Industrie hat also einige Tricks auf Lager, um ein Produkt zu entsüssen, ohne dass der Geschmack entscheidend an Süsse einbüsst – und trotzdem nicht deklariert werden muss.
Ein Beispiel:
Ein Produkt, welches wegen seines hohen Zuckergehalts oft im Rampenlicht steht: Ketchup. In der herkömmlichen Ketchuptube stecken nicht nur zermatschte Tomaten, Tomatenmark, Essig und Gewürze, sondern auch Zucker. Und nicht zu knapp: pro 100g rund 22,8 Gramm – also knapp 8 Würfelzucker.
Ketchup kann man aber auch «ohne Zusatz von Zucker» kaufen. Trotzdem weist die Nährwertdeklaration auf der Rückseite des Produkts einen Zuckergehalt aus:
Circa 4,4 Gramm Zucker wird gemäss Nährwerttabelle pro 100 Gramm ausgewiesen – in der Tube mit der Aufschrift: «ohne Zusatz von Zucker». Dieser Zucker stammt von den natürlichen Zutaten – Tomaten und Zitrone. Das Süssungsmittel hingegen gilt nicht als zugesetzter Zucker, sondern als Lebensmittelzusatzstoff und fällt somit in die Sparte Kohlenhydrate.
Wegen ihres hohen Zuckergehalts angeprangert werden oft auch Frühstückscerealien. So steht auf der Webseite des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen: «Frühstückscerealien werden als gesunde Lebensmittel wahrgenommen, obwohl sie mit den Gehalten an zugesetztem Zucker eher zu den Desserts gezählt werden müssten».
Mit der Unterzeichnung der Fortsetzung der Erklärung von Mailand sprachen sich die wichtigsten Unternehmen (u. a. Coop, Migros, Nestlé, Kelloggs) zu einer weiteren Reduktion des zugesetzten Zuckers um 10 % in Joghurts und 15 % in Frühstückscerealien bis 2024 aus.
Cerealien gibt es immer häufiger «zuckerfrei» ohne Zusatz von Zucker. Doch auch hier wird der Zucker meist nur durch andere Zutaten ersetzt.
Um dies zu veranschaulichen, haben wir ein beliebiges Produkt herausgepickt, welches in einem der grossen Detailhändler erhältlich ist und besonders wegen seiner langen Zutatenliste ins Auge springt. Das Produkt wirbt mit: vegan, ballaststoffreich und ohne Zuckerzusatz*. Beim Sternchen wird darauf hingewiesen, dass der Zucker aus natürlichen Zutaten stammt.
Ein Blick auf die lange Zutatenliste verrät: Die Cerealien stammen tatsächlich aus natürlichen Lebensmitteln wie Feigen oder Johannisbeeren – aber auch hier wurde mit Süssstoffen und Zuckeraustauschstoffen nachgesüsst.
Am meisten Magenschmerzen bereiten den Wissenschaftlerinnen allerdings die Süssgetränke. Fast 40 Prozent des zugesetzten Zuckers in unserer Ernährung stammt aus Getränken, gefolgt von süssen Produkten wie Brotaufstriche, Kuchen und Kekse. Dies zeigte die nationale Ernährungserhebung menuCH.
Die Empfehlung der WHO zur Zuckerreduktion beruht vor allem auch auf der Reduktion der Süssgetränke. Denn das Problem der Süssgetränke: «Mit Süssgetränken nimmt man in relativ kurzer Zeit eine grosse Menge an Zucker zu sich», erläutert Ernährungswissenschaftlerin Annette Matzke.
Das überraschende: Fruchtsäfte und Smoothies gehören laut der Ernährungswissenschaftlerin zu den vermeintlich gesunden Produkten. Sprich: Lebensmittel, die als gesund angesehen werden, allerdings sehr viel Zucker enthalten. «Wenn man nur auf den Zuckergehalt achtet, sind Fruchtsäfte nicht besser als Süssgetränke wie Cola und Fanta», so Matzke.
Besonders viel Zucker enthalten Getränke, die sich an Kinder richten. Im Schnitt weisen diese gar einen höheren Zuckergehalt auf als Getränke, die sich nicht an Kinder richten, sagt Meyer-Gerspach. Das ist fatal. Denn: Gerade Kinder können den eingenommenen Zucker durch ihr geringeres Körpervolumen viel schlechter verarbeiten als Erwachsene, so die Ernährungswissenschaftlerin.
Der Schlüssel, um die «Epidemie des 21. Jahrhunderts» zu besiegen, wie es oft genannt wird, ist gemäss den Wissenschaftlerinnen klar: «Es braucht dringend Aufklärung, damit Lebensmittel mit weniger Süsse langfristig gekauft werden», so Matzke. Die Bevölkerung müsse bezüglich verstecktem Zucker, den Gesundheitsfolgen und Irrtümern sensibilisiert werden. Des Weiteren würden Lebensmittel-Kennzeichnungen wie der Nutri-Score den Konsumenten helfen, beim Einkaufen eine bessere Wahl zu treffen.
Dies alleine reiche aber nicht aus. Es brauche auch politische Instrumente, welche die Industrie in die Knie zwingen. Aktuelle Massnahmen wie die Erklärung von Mailand reichen gemäss der Wissenschaftlerinnen bei Weitem nicht aus, da diese auf Freiwilligkeit beruhten. Der Anreiz sei deshalb gering, den Zuckergehalt entscheidend zu verringern. Besonders wichtig sind für Matzke und Co. deshalb eine Einschränkung der Werbung für zuckerhaltige Lebensmittel und eine leicht verständliche Deklaration über den genauen Zuckergehalt. Denn für Anne Christin Meyer-Gerspach ist klar: «Die Schäden von überhöhtem Zuckerkonsum sind nicht nur unangenehm, sondern verursachen hohe Kosten, die am Ende alle tragen.»
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Sarkasmusdetektor
Hadock50
Die Nahrungsmittelproduzenten "schummeln" im gesetzlich legalen Rahmen.
...Da müssten eben die Politik aktiv werden, nicht dass man Zucker verbietet, sondern das der Süssstoff-inhalt von Produkten klar ausgewiesen werden muss
(Ohne Hintertüre)