Es ist nicht das erste Mal, dass in Brienz eine Krisensituation ausgerufen wurde. Seit Jahren rumpelt es immer wieder im Dorf. Darum steht auch die Kirche von Brienz seit langer Zeit schief.
Doch diesmal ist es anders. Diesmal ist es wirklich ernst. Bis am Freitagabend um 18 Uhr müssen alle Brienzerinnen und Brienzer ihr Zuhause verlassen haben. Ein Felsvolumen von zwei Millionen Kubikmetern bewegt sich so stark, dass in den kommenden ein bis drei Wochen damit zu rechnen ist, dass es abbricht. Der Führungsstab hat deshalb die Phase Orange eingeleitet – die Evakuierung von Brienz.
Wie Pascal Porchet vom Amt für Militär und Zivilschutz informiert, werden alle Zufahrtsstrassen gesperrt sein. Nur die Anwohner dürfen die Strassen benutzen, für Menschen, die nicht in Brienz wohnen, gilt ein Fahrverbot.
Ab Freitagabend ist das Dorf gänzlich gesperrt. Nur über einen Checkpoint kann man ein- und ausfahren. Damit will man sichergehen, dass man stets darüber informiert ist, wer sich im Dorf befindet, so Porchet weiter. Zudem wird das Dorf videoüberwacht, um Plünderungen zu vermeiden.
Falls sich die Situation vor Freitag unerwartet schnell verschlechtert, kann Alarm ausgelöst werden. Wenn die Alarmsirenen im Dorf ertönen, bedeutet das, dass alle das Dorf ohne Verzögerung verlassen müssen. Auch werden die Bewohnerinnen und Bewohner über SMS alarmiert, heisst es in einer Informationsbroschüre. Wer Unterstützung benötigt, kann zum Notfalltreffpunkt am Dorfbrunnen gehen.
Am Samstagmorgen erhalten die Anwohnerinnen und Anwohner einen zeitlich begrenzten Zutritt zum Dorf. Auch hier: Der Zutritt verläuft nur über den Checkpoint, der vom Zivilschutz überwacht wird.
Vier bis zehn Tage vor dem Felssturz beginnt die Phase Rot: «Dann gibt es ein totales Betretungsverbot», sagt Porchet.
Auf die Phase Rot folgt die Phase Blau. Diese tritt ein, wenn die Felssturz-Gefahr unmittelbar bevorsteht. Zum Betretungsverbot hinzu kommt, dass die beiden westlichen Häuser von Surava evakuiert werden. Die Landwasserstrasse und die Bahnlinie entlang der Albula sowie die Kantonsstrasse zwischen Tiefencastel und Vazerol werden gesperrt.
In Brienz sind laut Christian Gartmann, Mediensprecher der Gemeinde, rund 85 Personen gemeldet. 50 bis 60 Personen bräuchten nun provisorisch eine zweite Wohnung. Zur Unterstützung stellt die Gemeinde ein Möbellager zur Verfügung und hilft bei der Wohnungssuche.
Von diesen 50 bis 60 Personen haben aber noch nicht alle eine vorübergehende Unterkunft gefunden. Laut Gartmann bräuchte man vor allem noch Wohnungen, die in der Nähe liegen.
Noch keine Unterkunft hat Ruth Tarnutzer. Die 59-Jährige muss ebenfalls bis am Freitag raus sein. «Ich weiss nicht, wo ich hingehen werde», sagt sie gegenüber dem Blick. Frustriert sei sie nicht: «So ist die Natur halt.»
Mehr Glück bei der Wohnungssuche hatte ein junges Pärchen. Gegenüber «Blick» erzählt es, dass ihre Vermieterin ihnen eine Wohnung auf der Lenzerheide zur Verfügung stellen konnte. Zuvor herrschte jedoch Unruhe: «Wir wussten nicht, was wir tun sollten.» Generell sei die Lage beunruhigend. «Man weiss nie, was passieren wird», so die junge Frau.
Eine Evakuierung bedeutet, dass beabsichtigt wird, zum verlassenen Ort zurückzukehren. Im gegenteiligen Fall wird von einer Räumung gesprochen. In diesem Fall wäre das Dorf unbewohnbar. Eine Evakuierung kann jedoch Wochen oder gar Monate dauern. Bewohnerinnen und Bewohner sollen alles mitnehmen, was sie in den nächsten Wochen und Monaten brauchen. Das Haus oder die Wohnung soll so gesichert werden, als würde man für eine längere Zeit verreisen.
Die Geologen gehen davon aus, dass es zu einem eher langsamen Abbruch kommen wird. Mit 60-prozentiger Wahrscheinlichkeit stürzen demnach einige Hunderttausend Kubikmeter Felsmaterial ab. Das Dorf dürfte dabei aber weitgehend unbeschädigt bleiben.
Mit einer Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent würde eine zähe Masse mehrere Meter pro Tag in Richtung Dorf rutschen, welches so auch in Mitleidenschaft gezogen werden könnte.
Nur mit einer Wahrscheinlichkeit von 10 Prozent rechnen die Geologen mit einem klassischen Bergsturz durch herabstürzende Felsbrocken und eine Gesteinslawine. «Derzeit können wir nichts anderes machen, als auf den Berg zu warten», sagt Gartmann.
Laut der Gemeinde haben die grössten Schweizer Versicherungen die Versicherungsdeckung bei einer allfälligen Evakuation bestätigt. Bei der kurzfristigen Unterstützung soll es ebenfalls nicht an Geld mangeln. Die Kantonsregierung gab am Dienstag 500'000 Franken für Soforthilfe frei, wie Regierungsrat Martin Bühler bekannt gab. Zuvor hatte bereits die Gemeinde 200'000 Franken für Überbrückungslösungen zugesprochen. Es gehe darum, unkomplizierte Lösungen zu finden, so Bühler.
Kleinere Tiere wie Katzen und Hunde müssen ebenfalls am Freitag evakuiert werden – zusammen mit ihren Besitzerinnen und Besitzern.
In Brienz gibt es aber auch zwei Landwirtschaftsbetriebe mit grösseren Tieren – Kühe und Vieh. «Wir haben es mit den beiden Landwirtschaftsbetrieben so abgesprochen, dass wir am Ende der Phase Orange die Kühe und das Vieh verladen», so Daniel Albertin, Gemeindepräsident, gegenüber «Blick». Diese werden dann anderswo untergebracht und versorgt. Die kleineren Tiere bleiben in der Obhut der Landwirte.
Laut Gartmann werde man ab Freitag Kontrollen durchführen. «Wir werden von Haus zu Haus gehen, um zu schauen, ob noch jemand dort ist.» Sollte sich jemand vehement gegen die Evakuierung wehren, müsse die Polizei beigezogen werden.
Gegen ein Felsvolumen von zwei Millionen Kubikmetern kann Brienz laut Experten nicht mit Verbauungen geschützt werden. Das Volumen und die Energien, die auf ein Schutzbauwerk einwirken würden, wären schlicht zu gross. Ein Damm oberhalb des Dorfes müsste unrealistisch hoch gebaut werden, damit er von einem Bergsturz nicht überflossen würde.
Simon Löw, emeritierter Professor für Igenieurologie der ETH Zürich und Berater der Regierung Graubündens, sagt gegenüber SRF: «Nein. In Brienz gibt es keinen Permafrost, der auftaut. Auch gibt es keinen Zusammenhang zwischen den jährlichen Niederschlägen und der Rutschgeschwindigkeit des Hangs. Die Instabilität des Hangs in Brienz hat also nichts mit dem Klimawandel zu tun.» Das sei ein Unterschied zu vielen anderen instabilen Gebieten in den Alpen, in denen der auftauende Permafrost die Hauptursache sei.