Wir sitzen auf dem Sofa. Du und dein Sofa. Ihr seid schon immer dickste Freunde gewesen. Treu ergeben hast du dich jeden Abend in deine Ecke gemümmelt. Auch wenn ich oder deine Söhne Michi und Roger zu Besuch sind, verdünnisierst du dich in die Stube, machst es dir gemütlich.
Es ist Samstagabend, im Fernseher läuft ein schlechter Krimi. Du beschwerst dich, immer so langweilig seien die deutschen, du mögest viel lieber die aus dem Norden. «Verblendung» ist dein liebster Krimi bis jetzt — natürlich die schwedische Version, die amerikanische findest du scheisse, «viel zu viel Action und Geballer».
Wir reden nicht viel. Das haben wir noch nie gemacht, du und ich. Wir sind eher die «dummen Schnurris», können uns stundenlang das Maul über die Nachbarn zerreissen. Über uns sprechen wir nicht. Warum auch?
Wir sitzen auf dem Sofa. Und ich wünschte mir, wir könnten miteinander sprechen. Über uns. Über dich. Über mich. Über diesen Krebs, der mir meinen Vater raubt. Darüber, dass dieser Krebs dich bereits in seinen Fängen hat, obwohl du physisch noch am Leben bist.
Mitte August 2014. Es sei einfach schade um das feine Bier, hast du gewettert, als du an der Hochzeit deines Ältesten ständig die Flasche ausgeleert hast. Du hättest manchmal das Gefühl, du spinnst. Du meintest, wie könne man denn so blöd sein, sein eigenes Bier auszuleeren. Wir haben gelacht. Und Witze darüber gemacht, dass du alt wirst. Und selbstschuld. Wir meinten, wie kann man denn so blöd sein, sein eigenes Bier auszuleeren.
Wir sitzen auf dem Sofa. Es dunkelt ein. Bier trinkst du keines mehr. Obwohl Bier jahrelang dein liebster Durstlöscher gewesen war. Meine Klassenkameradinnen sagten, du seist Alkoholiker. Für mich war es normal, dass du jeden Abend zwei, drei, vier, fünf Bier runtergeleert hast. Dein Alltag war schwer. Drei Kinder durchfüttern, einen Bauernhof finanzieren. Heute muss Mami dich zwingen, trink doch mal ein Glas, sagt sie. Tu's für mich, wenn nicht schon für dich, bettelt sie dich an. Du blockst ab, keinen Durst. Schmeckt doch eh alles scheisse.
September 2014. Ich habe dich seit der Hochzeit deines Ältesten nicht mehr gesehen. Rückfahrt von Kroatien, elf Stunden Fahrt, ich bin die ganze Strecke durch Italien gefahren, ohne Pause. Das hat dich schon immer stolz gemacht, mein Autofahrstil. Du fährst wenigstens anständig, nicht so «meitlimässig» wie deine Mutter, hast du mir oft gesagt. Kurz nach Chiasso, ein Anruf von Anatina. Das kann nichts Gutes heissen, Anatina ist in Amerika. Ich rufe zurück, ihre Mutter nimmt ab. Ohne Umschweife, direkt: Anatina ist tot. Sie hatte einen Autounfall, sagt sie. Zwei Stunden später in Zürich, in meiner Ghetto-WG, wie du sie manchmal genannt hast. Zuerst zu Hause anrufen, die schlechten Nachrichten überbringen. Mami nimmt nicht ab. Du nimmst nicht ab. Auf dem Festnetz nimmt auch niemand ab. Das kann nichts Gutes heissen. Zehn Minuten später rufst du mich zurück.
«Gina, ich sterbe.»
Deine Worte. Deine Stimme bricht, du schluchzt am anderen Ende der Leitung. Das war das erste Mal, dass ich dich weinen hörte. Bisher auch eines der letzten Male.
Wir sitzen auf dem Sofa. Du hast dein iPad in der Hand, spielst Majong. Das ist wie dreidimensionales Memory. Das iPad, ein Geschenk zu Weihnachten von Mami und mir, ist dein liebstes Ding seit der Diagnose. Stunden verbringst du auf dem Sofa, spielst Majong, liest meine Artikel auf watson. Der Krimi ist fertig, jetzt läuft «Die Braut, die sich nicht traut» mit Julia Roberts. Deine Lieblingsschauspielerin, schon immer gewesen. Du hast immer gesagt, Mami sieht aus wie Roberts, gleiches Lachen. Trotzdem interessiert dich der Film nicht, dein iPad ist spannender.
Mitte September 2014. Ich warte am Flughafen, hole meinen Bruder Michi und seine Frau Michelle ab. Sie waren in den Flitterwochen, haben noch keine Ahnung was sie erwartet. Die Diagnose steht fest. Hirntumor, viertes Stadium, Metastasen vom Lungentumor vor zwei Jahren. Sie geben dir noch ein, maximal zwei Jahre. Im Auto, die Themen belanglos. Schön war's in Thailand, viel eingekauft, die Seele baumeln lassen. Die Hiobsbotschaft gibt's erst am Abend, zusammen mit den Schwiegereltern, alles schon geplant. Welcome Back, schön seid ihr wieder zu Hause. Übrigens, Papi hat Krebs, er stirbt.
Du hast nie verstanden, warum es mich nach Zürich in die Stadt zieht. Ist doch schön hier, hast du gesagt, hier hast du alles. Was willst du in Zürich in einem muffligen Zimmer? Dass mich unser Bauernhof eingeengt hat, war für dich unverständlich. Diese Einengung hat sich verstärkt seit der Diagnose. Nach Hause kommen ist nicht mehr nach Hause kommen. Es ist der Einzug in ein Kriegsgebiet kurz nach der Schlacht — Stress, Anspannung und eine Stimmung auf dem Tiefpunkt.
Oktober 2014. Mittlerweile wohne ich wieder zu Hause, mein Studium hat angefangen, aber nur Teilzeit. Ich will Zeit mit dir verbringen. Die Zeit, die du noch hast. Hör zu Meitli, hast du gesagt, wehe du machst die Schule nicht fertig, waren deine Worte. Dass ich mein Leben um 180 Grad umgekrempelt habe, für dich, für uns, siehst du nicht. Seit der Diagnose siehst du gar nichts mehr, alles ist schlecht. Alles ist gegen dich.
Wir sitzen auf dem Sofa. Julia Roberts hat gerade ihren vierten Verlobten in den Wind geschossen. Du schaust mich an, schön bist du hier, sagst du. Warum ich nicht öfters nach Hause komme, fragst du mich. Weil deine Krankheit mich kaputt macht, möchte ich sagen. Ach, Schule und Arbeit nimmt viel Zeit ein, sage ich. Aber ich komme so oft ich kann. Eine Lüge.
November 2014. Die Chemotherapie hat dich mit aller Härte umgehauen. Du siehst aus wie Walter White in «Breaking Bad», haarlos und mager. Dein Tagesablauf ist simpel: aufstehen, aufs Sofa liegen, aufstehen, ins Bett liegen. Du schläfst den ganzen Tag. Schläfst du nicht, bist du wütend. Wütend wegen deinen Schmerzen, wegen Hunger, wegen Übelkeit, wegen dem Lärm, wegen der Sonne, wegen dem Wind. Alles macht dich wütend. Ich komme nicht mehr gerne nach Hause, es ist anstrengend.
Die Chemo hast du vor vier Wochen abgebrochen. Es geht dir besser, körperlich. Du fragst mich, ob ich Zeit für Mittagessen habe, nächste Woche. Ich bin überrascht. Der Gedanke mit dir zwei Stunden alleine zu sein, überfordert mich. Über was sollen wir reden? Das Wetter? Meine Arbeit? Über den Krebs sprechen wir sicher nicht, das ist Tabuthema.
Dezember 2014. Mami wird ihren Bauernhof auflösen. Es ist abgemacht. Wir haben uns um alles gekümmert. Michi um die Immobilien, Roger um die rechtlichen Fragen, ich kümmere mich um dich. Und um Mami. Es geht ihr schlecht, sie ist müde. Ständig mit dir in den Spital fahren, dich pflegen, den Hof aufgeben — es ist zu viel. Dir ist es recht. Du wolltest schon immer diese Geldschleuder namens Bauernhof aufgeben. Der kostet zu viel, hast du immer gewettert, nie können wir länger in die Ferien, immer ist was, waren deine Worte. Als wir alles besprochen haben, nimmst du Mami in den Arm. Das einzige Mal seit der Diagnose.
Wir sitzen auf dem Sofa. Mami in der einen Ecke, du in der anderen. Ich sitze dazwischen. Wenn du sprichst, wird Mami wütend, hör mal auf immer so blöde Sprüche zu machen, zischt sie. Du bist so mühsam, immer hast du irgendwas, meint sie. Du lachst dümmlich und machst weiter mit deinen Blödeleien. Merkst du nicht, wie du sie verletzt? Du schenkst ihr keine Aufmerksamkeit, keine Liebe. Du umarmst sie nicht mehr, warum? Papi, du stirbst. Umarme Mami, bevor es das letzte Mal ist.
Januar 2015. Wir sind auf dem Nachhauseweg. Acht Tage war die ganze Familie in unserer Skihütte in Arosa. Acht Personen zusammengepfercht in vier Räumen. Ich bin erschöpft, eine Woche später gehen die Prüfungen los. Angekommen in Zürich bei meinem Freund, der Zusammenbruch. Ich heule. Und höre nicht mehr auf. Drei Tage lang, ununterbrochen. Ich heule, weil ich heule. Es ist so anstrengend. Ich mag nicht mehr. Es ist zu viel. Du willst und forderst ununterbrochen. Und wir machen. Aber es ist zu viel. Die Prüfungen schreib ich nicht. Der einzige Vorteil an dieser beschissenen Krankheit ist, dass man immer ein Arztzeugnis kriegt, sagt mein Bruder. Ich hol mir eins, drei Wochen tu ich nichts.
Langsam werden wir drei schläfrig, alle drei müssen wir morgen früh aufstehen. Ihr geht ins Tessin, ich Schulsachen erledigen. Ob Mami schon gepackt habe, fragst du sie. Ihr müsst noch packen, sonst gibt's morgen einen riesigen Stress. Sie schaut dich entnervt an. Jaja, packen tue sie schon noch, alles im Griff.
Februar 2015. Alles im Griff? Ich begleite dich an einen Arzttermin. Es sieht besser aus, als erwartet. Trotzdem stehen die Chancen schlecht. Zu Hause erzählst du, der Krebs wäre sozusagen geheilt. Ich werde wütend, schreie dich an. Merkst du eigentlich nicht, dass du stirbst? Du stirbst! Und so wie du dich aufführst, bist du schon gestorben. Du erschrickst. Trotzdem gibst du keine Antwort, verschwindest auf dein Sofa, deinen Zufluchtsort.
Ich sitze auf dem Sofa. Und schreibe diesen Text. Einen Text über das schwierigste halbe Jahr, das mir je passiert ist. Ich komme langsam damit klar, dass du sterben wirst. Unverständlich bleibt, wie du die verbliebene Zeit nutzen wirst. Du lebst in den Tag, keine Pläne, keine Wünsche.
Du fühlst dich alleine. Auf deinem Sofa.