Der Wechsel von SP-Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ins Innendepartement nach nur einem Jahr sorgte für Wirbel. Nur nebenbei wurde erwähnt, dass auch der ehemalige Tessiner Kantonsarzt Ignazio Cassis (FDP) für den Job infrage gekommen wäre. Doch wie vor einem Jahr zog es der 62-Jährige vor, im Aussendepartement zu bleiben.
Daraus ergeben sich zwei Vermutungen: Cassis will nicht mehr lange bleiben (wohl zum Leidwesen seiner Partei). Vor dem Rücktritt aber möchte er den Neustart im Verhältnis zur Europäischen Union (EU) anpacken. Vor zweieinhalb Jahren hatte der Bundesrat das von verschiedenen Seiten kritisierte institutionelle Abkommen einseitig beerdigt.
Es war eine Kapitulation vor dem innenpolitischen Widerstand und ein Zeichen von eklatanter Führungsschwäche. Seither hat sich der Bundesrat an einen Neustart herangetastet, mit sogenannten Sondierungsgesprächen. Jetzt ist es so weit. Am Freitag verabschiedete er den Entwurf eines neuen Verhandlungsmandats.
Die Voraussetzungen sind gegeben, und das nicht nur, weil die EU die bilateralen Verträge erodieren lässt und der Schweiz bislang den Zugang zum Forschungsprogramm Horizon Europe verweigert. Die personelle Konstellation im Bundesrat hat sich verändert. Das Rahmenabkommen hatten nur Cassis und Viola Amherd vollumfänglich unterstützt.
Jetzt tritt der EU-Skeptiker Alain Berset ab, der die Linie der Gewerkschaften vertreten hatte. Auf ihn folgt Beat Jans. Der Basler aus dem Dreiländereck ist europhil und macht kein Geheimnis daraus. Auch Elisabeth Baume-Schneider scheint gegenüber der EU offener zu sein als ihre zur Übervorsicht neigende SP-Vorgängerin Simonetta Sommaruga.
Im Interview mit der «NZZ am Sonntag» sprach Baume-Schneider aus, was viele in Bern denken: «Wir können uns im Europadossier kein zweites Scheitern erlauben.» Geht auch der Neustart in die Hose, macht sich die Schweiz unmöglich. Ihre Glaubwürdigkeit würde nicht nur gegenüber der EU leiden. Der Bundesrat darf sich nicht erneut davonschleichen.
Einfach wird es nicht. Die am Freitag präsentieren Unterlagen lassen darauf schliessen, dass sich ein neues Abkommen höchstens punktuell vom Rahmenvertrag unterscheiden dürfte. Der Ansatz ist ein anderer: Statt in einem übergeordneten Rahmen soll die «dynamische» Übernahme von EU-Recht vertikal innerhalb der sektoriellen Verträge erfolgen.
Im Endeffekt ist das kein grosser Unterschied. Auch wenn es der Bundesrat zu verwedeln versucht, wird der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg in allen Belangen, in denen EU-Recht ins Spiel kommt, das letzte Wort haben. Die Brüsseler Kommission kann unmöglich einen Drittstaat wie die Schweiz besserstellen als die eigenen Mitglieder.
Es ist ein so typischer wie beelendender Aspekt der Schweizer Europadebatte. Sie ist von Verblendung statt Realitätssinn geprägt. Zu viele haben das Gefühl, sie könnten von der EU den Fünfer, das Weggli und den Schoggistengel haben. Also vollen Zugang zum Binnenmarkt, ohne die damit verbundenen Verpflichtungen zu übernehmen.
Es ist die gleiche Selbsttäuschung, mit der sich die Briten in den Brexit hineinschwindeln liessen. Eine Mehrheit von ihnen bereut heute den EU-Austritt. In der Schweiz spielen besonders die Gewerkschaften auf dieser Klaviatur. Ginge es nach ihnen, müsste die Schweiz den Zugang zum Arbeitsmarkt und den Schutz der Löhne selber regeln können.
Für die EU-Kommission ist dies undenkbar, denn die Personenfreizügigkeit ist ein Grundpfeiler des Binnenmarktes. Immerhin scheint sie bereit zu sein, das heutige Schutzniveau zu garantieren. Dennoch zogen die Gewerkschaften schon vor dem Vorentscheid des Bundesrats zum Verhandlungsmandat im November ihr Powerplay auf.
Immerhin verzichteten sie darauf, «rote Linien» zu ziehen. Das lässt auf eine gewisse Flexibilität schliessen. Vor allem aber ist es ein Signal an die Sozialpartner. Nur wenn sie innenpolitische Zugeständnisse erhalten, geben sie ihren Widerstand auf. Severin Moser, Präsident des Arbeitgeberverbands, spricht unverblümt von Erpressung.
Die Arbeitnehmervertreter spekulieren ihrerseits ungeniert darauf, dass einmal mehr eine EU-Abstimmung nur gewonnen werden kann, wenn eine breite Mitte-links-Allianz dahintersteht. Bürgerliche und Wirtschaft können sich dafür bei der SVP «bedanken». Die grösste Regierungspartei macht in diesem Schlüsseldossier auf totale Obstruktion.
In keinem «normalen» Land würde sie damit durchkommen, in der Schweiz schon. Der Weg zu einem neuen Abkommen wird auf jeden Fall steinig, denn die Skepsis ist vielfältig. Das betrifft auch die einst überwiegend europafreundlichen Medien, einschliesslich das SRF. Partikularinteressen sind häufig wichtiger als das Gesamtinteresse des Landes.
Der Bundesrat und insbesondere Aussenminister Ignazio Cassis haben viel Arbeit vor sich. Ein gemeinsames Dokument hält fest, dass die Verhandlungen 2024 abgeschlossen werden sollen, bevor das Mandat der heutigen EU-Kommission ausläuft. Danach müsste Cassis ein Abkommen durch den Bundesrat, das Parlament und eine Volksabstimmung bringen.
Gelingt ihm dies, wäre es ein später und umso süsserer Triumph für den Vielgescholtenen.
Nochmal 1. Lobbyisten raus aus dem Haus.
2. Offenlegung der Mandate und Zahlungen von den Politikern. Und es würde ganz anders aussehen. In fielen Bereichen.
Dieser Satz ist herrlich, da er präzise das Problem vieler meiner Mitbürger:Innen erklärt.
Als Doppelbürger mit EU Pass kann es mir ja egal sein. Aber es liegt mir doch sehr viel an einer zukunftsorientierten und offenen Schweiz.