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Flugscham muss nicht sein – trotzdem kann man ohne Fliegen gut leben

Swissair-Bordservice in den 1970er Jahren
Swissair-Bordservice in den 70er Jahren, als Fliegen noch etwas Besonderes war.bild: ETH-Bibliothek Zürich
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Man kann ohne Fliegen gut leben – ein Erfahrungsbericht

Ein Begriff macht in der Klimadebatte gerade Karriere: Flugscham. Muss man sich für die Fliegerei schämen? Nicht zwingend, aber das Leben ohne ist auch nicht ohne.
20.04.2019, 06:35
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Greta Thunberg war wieder unterwegs. Am Dienstag besuchte die schwedische Klimaaktivistin das Europaparlament in Strassburg. Tags darauf schüttelte sie Papst Franziskus auf dem Petersplatz in Rom die Hand. Gereist ist Greta natürlich wie immer mit dem Zug. Fliegen ist für sie tabu. In ihrer Heimat Schweden hat sich deshalb ein neuer Begriff etabliert: Flygskam – Flugscham.

Das Wort macht gerade Karriere, vermutlich wird es bald in den Duden aufgenommen. Unabhängig davon, ob man sich für die Fliegerei schämen sollte, haben die 16-jährige Schwedin mit dem Asperger-Syndrom und die Klimastreikbewegung in kurzer Zeit enorm viel erreicht. Die Bedrohung, die der Klimawandel darstellt, ist in der breiten Öffentlichkeit angekommen.

epa07511926 A handout photo made available by Vatican Media shows Pope Francis (L) greeting Swedish climate activist Greta Thunberg (R) during the weekly general audience in Saint Peters Square, Vatic ...
Eine klare Aufforderung von Greta an Papst Franziskus.Bild: EPA/ANSA

Eigentlich weiss man es schon lange, spätestens seit Al Gores Film «Eine unbequeme Wahrheit» von 2006. Passiert aber ist wenig, trotz des Pariser Klimaabkommens. Nun reden plötzlich alle davon. Für Christoph Blocher mag das Klima ein «Modethema» sein, seine SVP-Bauern aber bekommen die Folgen des immer extremeren Wetters direkt zu spüren.

«Vor meinem 18. Geburtstag bin ich genau einmal geflogen, nach London. Die Abschlussreise meiner Sek-Schulklasse führte 1979 mit dem Zug nach Paris.»

Selbst die Erdölvereinigung wirbt in ihrer neusten Kampagne für die «CO2-arme Ölheizung». Swiss-CEO Thomas Klühr hat an der Bilanzmedienkonferenz der Airline des Langen und Breiten über das Klima referiert. Die Grossverbraucher von fossilen Energieträgern befinden sich offenbar unter Rechtfertigungsdruck. Das ist ein beachtlicher Erfolg für die streikenden Schülerinnen und Schüler.

Der Berliner Erzbischof Heiner Koch verglich in seiner Predigt am Palmsonntag die Klimademos mit dem Einzug Jesu in Jerusalem, an den dieser Tag erinnert. Greta Thunberg als neuer Jesus? Oh Jesses! Es genügt, dass man sie für den Friedensnobelpreis nominiert hat. Al Gore hat ihn schon bekommen, nicht zuletzt dank «Eine unbequeme Wahrheit».

Die Einsicht, dass etwas geschehen muss und die Zeit uns davonläuft, ist in den letzten Monaten beträchtlich gewachsen. Doch führt dies auch zu einer Änderung unseres Verhaltens? Gerade bei der Fliegerei besteht Handlungsbedarf. Sie ist in den letzten Jahren dreckbillig geworden, weshalb Flugreisen gerade in der Schweiz in den letzten Jahren fast explosionsartig zugenommen haben.

Das führt zu einer Entwicklung, die ich als «Huschhusch-Fliegerei» bezeichne: Mal husch für ein paar Tage nach Mallorca, mal husch ein Shopping-Trip nach London. Oder gleich New York? Dubai ist auch cool. Über Ostern statt ins Tessin nach Kreta – klar doch!

ZUM THEMA GELAENDEWAGEN UND STADTVERKEHR STELLEN WIR IHNEN HEUTE FOLGENDES NEUES BILDMATERIAL ZUR VERFUEGUNG --- A BMW SUV and bicycle courier in traffic at the intersection Uraniastrasse and Sihlstra ...
Der Offroader-Boom ist nicht weniger problematisch als die Vielfliegerei.Bild: KEYSTONE

Ich kann mit dieser Herumfliegerei nichts anfangen. Ich bin in den 1970er Jahren aufgewachsen. Damals waren Linienflüge teuer und auch für Menschen kaum erschwinglich, die nicht in Armut lebten. Vor meinem 18. Geburtstag bin ich genau einmal geflogen, nach London.

«Der gedankenlose Flug- und SUV-Boom ist Ausdruck unserer Wohlstandsverwahrlosung.»

Die Abschlussreise meiner Sek-Schulklasse führte 1979 mit dem Zug nach Paris. Das war vor dem TGV, die Fahrt dauerte fast doppelt so lange wie heute. Aber wir fühlten uns grossartig, denn Schulreisen ins Ausland waren damals absolut nicht üblich. Heute sind sie fast normal. Und meinen ersten Langstreckenflug machte ich mit 24, von Hongkong nach London.

Diese Erfahrung wirkt bis heute. Ich betrachte mich als Wenigflieger. Auch in einem anderen Bereich wirkt meine Sozialisation in den 70ern. Offroader waren damals so exotisch wie ein Ferrari oder Lamborghini. Heute sind diese Spritfresser im Strassenverkehr omnipräsent, ihr Absatz nahm in den letzten Jahren ähnlich stark zu wie die Fliegerei.

Ein allradgetriebenes Fahrzeug macht Sinn im Gebirge, aber sicher nicht im Schweizer Mittelland mit seinem gut ausgebauten Strassennetz. Hier dient es als Statussymbol oder der Befriedigung eines diffusen Bedürfnisses nach Sicherheit. Um es klar und deutlich zu sagen: Der gedankenlose Flug- und SUV-Boom ist Ausdruck unserer Wohlstandsverwahrlosung.

«Fernreisen können durchaus Sinn machen, auch und gerade unter dem Aspekt des Umweltschutzes.»

Denn das Leben in den 70er Jahren war keineswegs schlecht. In Teilen der westlichen Welt werden sie als eine Art «goldenes Zeitalter» verherrlicht, in dem es Arbeit für alle gab ohne Bedrohung durch Billigkonkurrenz aus Fernost oder Roboter. Es gab keine Smartphones und nur wenige Fernsehprogramme, dafür bemannte Bahnhöfe und eine Post in jedem Dorf.

Die 10 «besten» Argumente der Klimaskeptiker

Video: watson/Knackeboul, Madeleine Sigrist, Lya Saxer

Wenn wir uns wirklich Sorgen um das Klima machen, genügen staatliche Vorschriften nicht. Die Flugticketabgabe wird mit dem neuen CO2-Gesetz vermutlich kommen, aber es braucht auch Eigenverantwortung. Muss man deshalb auf das Fliegen verzichten? Nur noch Ferien im Wallis oder an der Adria? Sicher nicht, aber wir sollten bewusster fliegen.

Fernreisen können durchaus Sinn machen, auch und gerade unter dem Aspekt des Umweltschutzes. Bedrohte Landschaften und Tierarten können gerettet werden, wenn die lokale Bevölkerung erkennt, dass ihr Schutz Touristen anzieht, die Geld und Arbeit bringen. Aber mal schnell nach Barcelona oder Berlin jetten, bringt keinen Gewinn an Lebensqualität.

Man kann leben ohne Huschhusch-Flüge und Mittelland-Offroader. Sehr gut sogar. Ich kann es bestätigen.

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171 Kommentare
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Erarehumanumest
20.04.2019 07:47registriert August 2016
Das Problem ist halt: Eine Woche auf Santorini inkl. Flug und Hotel ist immer noch günstiger als ein Wochenende in Zermatt...In der Schweiz mache ich aufgrund der horrenden Hotelpreise halt nur noch Tagesausflüge...
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zombie woof
20.04.2019 10:47registriert März 2015
Flugscham? Wie wärs mal damit: Gegen 40 Mio Container sind weltweit im Umlauf, von ca. 4500 Containerschiffen transportiert. Transportkosten für eine Jeans von Asien nach Europa ca. 35 Rappen.Nur die neueste Generation von Containerschiffen ist mit modernen Motoren ausgerüstet, der grosse Teil der Schiffe aber nach wie vor mit Schweroelmotoren ausgerüstet, also Dreckschleudern vom Gröbsten. Das kann man jetzt beliebig mit anderen Gütern erweitern. Ist die ständige Verfügbarkeit von allem möglichen, billigen Schrott wirklich nötig? Man nehme sich mal an der eigenen Nase.
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fotzelschnitte
20.04.2019 07:20registriert November 2017
Schon etwas gar schwach Herr Blunschi.....
ich hätte jetzt ein paar gute Argumente gegen die Fliegerei erwartet!
Menschen kann man nicht "umerziehen" indem man ihnen sagt, das es Früher auch ohne Fliegen ging. Zu behaupten, dass es keine Lebensqualität bringt, nach Barcelona zu Jeten stimmt halt auch nicht für alle.
Früher war alles besser und deshalb lassen wir den modernen Quatsch lieber sein, ging ja damals auch ohne, sind halt schon sehr schwache Argumente. Oster-Lückenfüller- Artikel.....
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