Herr Niebert, wann sind Sie das letzte Mal geflogen?
Kai Niebert: Am Sonntagabend, als ich von einem Termin in Berlin nach Zürich zurückgekehrt bin.
Das hört sich nicht gerade vorbildlich an.
In den letzten Jahren haben wir die starke Tendenz erlebt, dass Nachhaltigkeit privatisiert wird. Der Konsument solle es richten. Jeder solle selbst entscheiden, wie viel Fleisch er isst, wie oft und wohin er in die Ferien fliegt, ob er mit dem Auto oder dem Tram fährt. Ich halte das für falsch, und das kann man genau an diesem Flug von Berlin nach Zürich verdeutlichen.
Wie meinen Sie das?
Ich bin passionierter Nachtzugfahrer und ein Fan der alten James-Bond-Filme, die oft in Nachtzügen spielen. Die österreichische Bundesbahn hat glücklicherweise die Strecke von Zürich nach Berlin übernommen. Die Fahrt kostet allerdings mit Europasparpreis 240 Euro pro Weg im Einzelabteil. Macht für beide Strecken 480 Euro. Die Swiss fliegt mich hin und zurück für 160 Euro.
Woher kommt diese Diskrepanz?
Internationale Flüge sind von der Mehrwertsteuer befreit. Es gibt keine Kerosinsteuer und keine Energiebesteuerung, während die Bahn die Mehrwertsteuer und die Energiesteuer bezahlt sowie in Deutschland die sogenannte EEG-Umlage zur Förderung erneuerbarer Energien. Die Gebühr für die Nutzung der Geleise mit dem ICE von Zürich nach Berlin ist höher als die Landegebühr eines Fliegers in Berlin-Tegel. Das sind alles Dinge, die politisch gesteuert sind.
Was hat Ihr Flug von Berlin nach Zürich damit zu tun?
Er wurde vom deutschen Umweltministerium bezahlt, und die ermahnen mich natürlich, kosteneffizient zu reisen. Wir haben ein massives Steuerungsproblem. Es gibt nach wie vor mehr oder weniger versteckte Subventionen für fossile Energieträger. Im Zeitalter des Pariser Klimaabkommens, also dem Beschluss der Staaten, die Erwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen, halte ich dies für einen Anachronismus.
Sie verfolgen die Klimastreik-Bewegung, oder «Fridays for Future», wie sie in anderen Ländern genannt wird. Wie beurteilen Sie ihre Schlagkraft, kann sie etwas bewirken?
Es ist eine hochspannende Bewegung. In den letzten 20 Jahren haben erst die Wissenschaftler und danach die Umweltverbände das Thema in die Öffentlichkeit getragen und Druck aufgebaut. Jetzt ist unabhängig davon eine weitere Bewegung entstanden, in der junge Menschen sagen, dass es nicht so weitergehen kann. Man klagt oft über eine immer unpolitischere Gesellschaft. Die Klimastreiker sind ein hervorragender Gegenbeweis. Sie sind motiviert und engagiert.
Auf der anderen Seiten hat gerade eine «Blick»-Umfrage ergeben, dass die Jungen den Handlungsbedarf erkannt haben, aber es soll ihnen bitte schön nicht weh tun.
Die Einstellung zum Klimawandel ist nicht das Problem. Eine Umfrage des deutschen Bundesamts für Naturschutz hat ergeben, dass 93 Prozent bereit wären, Einbussen bei der Lebensqualität in Kauf zu nehmen, um künftige Generationen zu schützen. Mehr geht gar nicht! Auch in Umfragen zu den grössten Sorgen und Nöten befindet sich der Klimawandel weit vorne. Das Thema ist in den Köpfen angekommen, und zumindest rhetorisch sind alle bereit, etwas zu tun.
Nur dass den schönen Worten häufig keine Taten folgen.
Bei den jungen Menschen haben wir am ehesten die Chance, über Fragen der Lebensqualität zu reden. Trägt es dazu bei, am Wochenende nach Mailand zum Shoppen zu fliegen ...
... oder nach Barcelona oder Berlin zum Party machen ...
... ich habe da meine Zweifel. Ein grosser Teil der Klimastreik-Jugend befindet sich zwischen dem Ende der Schulzeit und dem Beginn des Studiums oder Arbeitslebens. Die Forschung zeigt, dass Änderungen in den Routinen am ehesten in solchen biografischen Brüchen möglich sind. Darum ist der Druck, der von den Jungen ausgeht, so vielversprechend. Man kann darüber nachdenken, ob man ein Auto braucht, ob man siebenmal die Woche Fleisch essen muss, oder ob Fernreisen das Leben glücklicher machen.
Müssen wir Älteren also auf die Jungen hoffen, dass sie es besser machen?
Biografische Brüche gibt es immer wieder, in denen man sich ändern kann. Ich warne davor, diesen jungen Menschen alles aufzubürden. Ich habe mit meinen Studierenden einmal das Experiment unternommen, klimaneutral zu leben. Dafür darf man nur zwei Tonnen CO2 pro Person und Jahr ausstossen. Heute sind wir bei neun Tonnen. Da muss also noch einiges passieren.
Was haben Sie konkret gemacht?
Wir haben beschlossen, vier Wochen klimaneutral zu leben, anhand von gängigen CO2-Rechnern. Jeder Woche haben wir eine Auswertung gemacht. Für mich war es kein Problem, auf Fleisch zu verzichten und vegetarisch zu leben. Andere hatten mehr Mühe damit. Mit dem Fahrrad bin ich schon immer zur Arbeit gefahren. Irgendwann aber musste ich mit dem Zug nach Berlin fahren, so dass mein CO2-Konto für die Woche bereits am Mittwoch aufgebraucht war. Und am Donnerstag sagte mir mein damaliger Bürokollege: Kai, du solltest langsam wieder mal duschen.
Es war eine durchzogene Erfahrung.
Wir haben herausgefunden, dass wir für rund ein Drittel unserer CO2-Emissionen selbst verantwortlich sind. Diesen Teil können wir durch unser Konsumverhalten steuern. Aber schon Entscheidungen, wie die Wohnung beheizt wird oder wir über eine längere Strecke von A nach B kommen, liegen nur beschränkt in unserer Hand. Darum geht es bei der Bildung im Bereich Klimaschutz nicht nur um Eigenverantwortung, sondern auch um politische Partizipation. Und das ist das Spannende an den Jungen von Fridays for Future, die haben beides im Blick.
Die Politik reagiert auch auf den Klimastreik. In einigen Kantonen wird der Klimanotstand ausgerufen, während andere Politiker die Klimastreiker als Kindersoldaten bezeichnen.
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat in Zusammenhang mit Fridays for Future sogar von «hybrider Kriegsführung» gesprochen. Das ist vollkommener Unsinn. Es gibt den Vorwurf, die Jungen seien alle von ihren Eltern oder bösen Kräften gesteuert. Das Einzige, was die Bewegung steuert, ist eine untätige Politik. Wer befindet sich denn im Klimastreik? Ist es die Jugend, oder ist es eine Politik, die seit 15 Jahren die CO2-Emissionen nicht senken kann?
Die Jungen haben ihre Zukunft noch vor sich. Trifft die Bewegung deshalb einen Nerv?
Ein konsequenter Klimaschutz kostet Geld, das ist keine Frage. Die Weltenergieagentur hat letztes Jahr in einer Studie berechnet, wie viel eine weltweite Energiewende kostet, um den Pariser Klimavertrag bis 2050 einzuhalten. Sie ist auf rund 29 Billionen US-Dollar gekommen.
Eine gewaltige Summe.
Man muss sich vor Augen führen, was Vorzeigeexperimente kosten wie jenes in Hinwil, mit dem das CO2 aus der Luft gesaugt wird. Ein spannender Ansatz, aber leider viel zu teuer: Im Moment werden dort rund 900 Tonnen pro Jahr abgesaugt, mit Kosten von 600 Franken pro Tonne. Wenn ich das auf die Menge hochrechne, mit der man das Klima stabil halten kann, kostet das rund 20 Billionen Franken – pro Jahr! Damit erhält der Generationenkonflikt eine finanzielle Dimension. Wollen wir heute in eine nachhaltige Infrastruktur investieren, oder feiern wir die Party weiter auf Kosten künftiger Generationen, die einmal horrende Summen dafür bezahlen muss, hinter uns aufzuräumen?
Wie schärft man das Bewusstsein für solche Zusammenhänge?
Die Leuten merken, dass alles immer billiger geworden ist, auf Kosten von Mensch und Natur. Diese Kostenschraube nach unten ist ein riesiges Problem, auch wenn es zum Glück in der Schweiz weniger ausgeprägt ist als in anderen europäischen Ländern. Es treibt den Klimawandel an.
Was kann man dagegen tun? In der «Blick»-Umfrage sagten die meisten Befragten, sie würden vermehrt saisonale und regionale Produkte kaufen. Hilft das wirklich?
Ein grosser Teil der CO2-Emissionen entfällt auf den Energiebereich. Die Schweiz hat insofern Glück, als sie einen grossen Teil des Stroms aus erneuerbaren Quellen bezieht. Aber woher kommen Heizung und Warmwasser? Diese Frage müssen wir schnellstmöglich beantworten. Wir haben kürzlich eine Wohnung in einem frisch sanierten Haus bezogen, aber im Keller steht immer noch die alte Ölheizung. Das darf doch heute nicht mehr passieren!
Fehlt der Wille, das Richtige zu tun?
Hier setzen die jungen Menschen an, sie wollen die politische Untätigkeit aufbrechen. Ich habe die Debatte in der Kohlekommission in Deutschland erlebt. Ein Kohleausstieg wäre auch ökonomisch bis 2030 möglich. Aber diverse politische Hemmnisse haben dazu geführt, dass Deutschland erst 2038 aussteigen will. Die jungen Leute auf der Strasse haben einen starken Realitätssinn, wenn sie den Kohleausstieg 2030 fordern. Ich kann ihnen als Wissenschaftler nur recht geben.
Sie sind Erziehungswissenschaftler. Was könnte man pädagogisch unternehmen, um neben der Klimastreik-Jugend auch die grosse Masse der jungen Leute zu erreichen?
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, im Unterricht anzusetzen, ohne die Lehrpläne zu ändern. Man muss erst einmal den Lehrpersonen deutlich machen, dass es sich primär um ein politisches Problem und eine Frage der Partizipationsfähigkeit handelt. Wenn ich mir die jungen Leute auf der Strasse anschaue, haben die Kollegen in der Schulpraxis erst einmal vieles richtig gemacht.
Und was macht man konkret?
Die jungen Leute müssen nicht die chemischen Prozesse beim Klimawandel kennen. Sie müssen verstehen, dass wir im Moment doppelt so viel CO2 ausstossen, als natürlich in der Vegetation und in den Ozeanen gespeichert werden kann. Wir müssen den Ausstoss wieder auf das gleiche Level bringen, um den Klimawandel zu stoppen. Im nächsten Schritt kann man sich fragen, was wir im Alltag dazu beitragen können. Das lässt sich problemlos in der Schule thematisieren, nicht nur in den Naturwissenschaften oder im Politikunterricht.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Ich habe einen vier- und einen achtjährigen Sohn. Dem jüngeren lese ich gerne am Abend die alten Märchen vor: Von den Siebenmeilenstiefeln, mit denen man in einem Schritt sieben Meilen zurücklegt, oder dem armen Schuhmacher, für den Elfen nachts im Keller Schuhe herstellen. Oder das «Tischlein deck dich». Diese Geschichten haben einen kulturellen Hintergrund. Die Siebenmeilenstiefel verkörpern den Wunsch nach grenzenloser Mobilität, das «Tischlein deck dich» die Befreiung von Hunger und der Schuster die Hoffnung auf materiellen Wohlstand.
Was haben Grimms Märchen mit dem Klimawandel zu tun?
Diese drei Wünsche haben wir uns heute erfüllt, dank billigem Öl. Die Siebenmeilenstiefel heissen Ryanair und fliegen uns für einen Spottpreis nach Mallorca. Das «Tischlein deck dich» findet man in jedem Supermarkt, häufig in Form von Lebensmitteln, die unter menschlich und ökologisch bedenklichen Bedingungen produziert werden. Und die Elfen des Schusters sitzen nicht mehr im Keller, sondern in Bangladesh, wo sie unsere T-Shirts zusammennähen. Das sind doch wunderbare Gelegenheiten, um in der Schule unsere Lebens- und Denkmuster zu hinterfragen.
Die politischen Mühlen mahlen langsam, wenn man etwa an unsere Debatte über das CO2-Gesetz denkt. Haben wir überhaupt noch genug Zeit, um die Kurve zu kriegen?
Es wird extrem eng. Wir haben in Paris beschlossen, den Klimawandel auf deutlich unter 2 Grad zu begrenzen, wenn möglich auf 1,5 Grad. Wir stossen derzeit rund 36 Gigatonnen CO2 pro Jahr aus. Um das Pariser Ziel zu erreichen, dürfen wir noch 260 Gigatonnen produzieren. Der Rest ist Grundschulmathematik. In rund sieben Jahren ist es vorbei, wenn wir so weitermachen wie heute. Dann müssten wir von heute auf morgen auf Null fallen. Das ist völlig illusorisch.
Wie können wir möglichst schnell den Umstieg einleiten?
Wir werden das nur hinbekommen, wenn wir spätestens ab 2030 keine Verbrennungsmotoren mehr auf den Markt bringen und sie sogar aus dem Markt heraus nehmen. Das muss heute entschieden werden. Der Innovationszyklus bei Automotoren beträgt rund acht Jahre. Der nächste Motor um 2022 wird nochmals der hoch effiziente Diesel sein. Was 2030 kommt, ist im Moment nicht entschieden. Dafür braucht es klare politische Vorgaben.
Ist das realistisch?
Eine Umfrage der Vereinten Nationen unter Top-CEOs hat ergeben, dass acht von zehn überhaupt kein Problem mit strengeren Grenzwerten haben, so lange sie alle in der Branche treffen. Dann fängt das Rennen um den effizientesten Beitrag an, und den können die Unternehmen liefern.
Man zweifelt daran, wenn man an das Tauziehen um tiefere CO2-Grenzwerte bei Autos denkt oder an die Pläne für zahlreiche neue Kohlekraftwerke. Ist der Klimastreik nicht ein Tropfen auf den heissen Stein?
Ich wage keine Prognose, wie erfolgreich die Bewegung sein wird. Das hat viel mit Ausdauer zu tun. Ich möchte aber auf die Proteste vom letzten Sommer im Hambacher Forst in Nordrhein-Westfalen verweisen, der auf einem Kohleflöz steht. Obwohl heute allen klar ist, dass wir mehr Klimaschutz brauchen, wollten die Landesregierung und das Unternehmen RWE den Wald abholzen, um die Kohle zu fördern. Ich habe Interviews mit der «New York Times» oder der «LA Times» geführt, die sich gefragt haben, wie das möglich ist. Die Proteste und ein Gerichtsurteil haben dazu geführt, dass ich Ihnen heute garantieren kann, dass keiner in diesem Wald mehr eine Axt anlegen wird. Die Mischung aus öffentlichem Druck und Rechtsprechung hat maximale Wirkung entfaltet.
Was kann daraus entstehen?
Wenn die Politik weiter untätig bleibt, war Hambach nur ein laues Lüftchen. Dann wird eine Jugendbewegung entstehen, die stark von der Wissenschaft unterstützt und sehr radikale Forderungen stellen wird. Dem wird sich die Politik nicht entziehen können, auch dank der Justiz.
Welche Rolle spielen die Gerichte?
Wir haben gerade den Fall eines peruanischen Bauern, der am Rande eines Gletschers lebt und von seinem Wasser abhängig ist. In absehbarer Zeit wird dieser Gletscher weg sein, weil der Klimawandel ihn abtaut. Was macht dieser Bauer jetzt? Er ist in Deutschland vor Gericht gezogen und hat den RWE-Konzern verklagt, um einen Teil seines Schadens zurückzufordern. Die Klage wurde zugelassen, die Beweisaufnahme läuft. Ein weiterer Fall betrifft drei Familien, die auf den Halligen leben, kleinen Inseln in der Nordsee. Sie haben die deutsche Bundesregierung wegen Untätigkeit verklagt, weil ihr Lebensraum schwindet. Wenn solche Klagen durchkommen, wird dies weltweit zu einem enormen Dammbruch führen. Ich denke da auch an Skigebiete in der Schweiz, die vom Klimawandel bedroht sind und sich ihre Ausfälle von RWE und Co. zurückholen könnten.
Sie haben zwei Kinder, die ihr Leben noch vor sich haben. Was denken Sie, schaffen wir das?
Es ist möglich, und es ist schneller möglich, als viele denken. Wir leben in einer hoch spannenden Zeit. Wir werden in Deutschland das Ende der Kohleverstromung erleben, was vor wenigen Jahren undenkbar war. Wir werden in absehbarer Zeit das Ende des Verbrennungsmotors erleben. Die Landwirtschaft wird sich umstellen müssen, auch aus Artenschutzgründen. Die Umbauprozesse sind in Gang gekommen, wenn auch aus meiner Sicht viel zu langsam. Ich glaube aber nach wie vor an die Vernunft und das Gute im Menschen und weiss, dass es aus wissenschaftlicher Sicht möglich ist. Ich glaube daran, dass wir es als Gesellschaft durchsetzen können und wollen.