Vor genau zehn Jahren beendete ich meine Velotour durch Europa. 24 Länder in sechs Monaten. Von Zürich ans Nordkapp, dann runter nach Istanbul. Nach 12'000 Kilometern im Sattel war ich zwar erschöpft.
Aber auch verdammt zuversichtlich.
Im Kosovo trank ich bis spät in die Nacht Raki, in Finnland ging ich im Sumpf Moltebeeren pflücken und in Bosnien wurde ich auf vier Kilometern drei Mal zum Essen eingeladen. Es war eine unbeschwerte Zeit.
Überall hiessen mich die Leute willkommen; ich hatte das Gefühl, ich könnte jedes Land der Welt mit dem Velo bereisen.
Das optimistische Grundgefühl verstärkte sich durch zwei Reisen, die ich kurz zuvor gemacht hatte. 2012 tourten ich und drei Kollegen vier Wochen mit dem Auto durch die Ukraine. In Donetsk bestaunten wir die Spanier um Xabi Alonso, die im EM-Viertelfinal Portugal ausschalteten und schliesslich Europameister wurden. In Berdjansk, am Asowschen Meer, jassten wir im Hof unseres Airbnbs, bis die Sonne wieder aufging.
Kurz vor meiner Veloreise war ich zudem in Israel. Unbeschwert war diese Reise nicht. Doch man fühlte sich sicher.
Schon damals nahm ich Spannungen wahr. Im Süden Kosovos fuhr ich durch eine mehrheitlich von Serben bewohnte Stadt, in der gefühlt an jeder Ecke Überwachungskameras installiert waren. An einer WG-Party in Charkiw hörte ich den Ukrainern zu, wie sie sich stundenlang darüber stritten, ob an den Schulen die russische Sprache Pflicht sein sollte. Am Flughafen in Tel Aviv brauchten wir bei der Ausreise drei Stunden, da der Geheimdienst jede Unterhose überprüfen wollte.
Dennoch: Damals, als 25-Jähriger, hatte ich das Gefühl, die Welt, oder zumindest Europa, würde sich in die richtige Richtung entwickeln. In eine friedliche Zukunft.
Heute, zehn Jahre später, stelle ich ernüchtert fest: Ich habe mich geirrt. In der Ukraine tobt ein grausamer Krieg, im Kosovo gibt es grosse Spannungen, in Israel starben in den vergangenen Tagen Hunderte Menschen in einem Konflikt, der sich auf absehbare Sicht nicht zu lösen scheint.
Die aktuellen Entwicklungen geben Anlass zur Sorge. Gleichzeitig rufen sie in Erinnerung, was für ein Privileg es ist, in der Schweiz zu wohnen. In einem Land, in dem sich die Politikerinnen und Politiker nach einer harten «Arena»-Debatte auf ein Bier treffen. In einem Land, in dem es einen FC Nationalrat gibt und sich die meisten Politikerinnen und Politiker mit Respekt begegnen.
Das demokratische System, das wir in der Schweiz haben, ist keine Selbstverständlichkeit. In den vergangenen zehn Jahren ist das Demokratielevel im globalen Durchschnitt auf das Niveau der 1980er-Jahre zurückgegangen. Nur noch etwa ein Viertel der Menschen weltweit lebt in einer liberalen Demokratie, in der freie und faire Wahlen möglich sind. Vor zehn Jahren war es noch über die Hälfte. Das zeigen Daten der Universtität Göteborg.
«Die Demokratie ist die schlechteste Staatsform, ausgenommen all diese anderen, die man von Zeit zu Zeit ausprobiert hat», sagte einst der britische Premierminister Winston Churchill. Seine Aussage hat nichts an Aktualität eingebüsst.
Dennoch sind die noch schlechteren Staatsformen auf dem Vormarsch. 42 Länder sind im vergangenen Jahrzehnt autokratischer geworden, nur 14 demokratischer.
Die Schweiz schneidet im internationalen Vergleich stark ab. Nur gerade drei Länder haben laut der Universität Göteborg einen noch besseren Demokratie-Index – es sind Dänemark, Schweden und Norwegen.
Natürlich ist auch hierzulande nicht alles perfekt. Lobbyismus, intransparente Geldflüsse und grosse Unterschiede bei den Wahlkampfbudgets lassen grüssen. Doch insgesamt machen wir es nicht schlecht.
In einer Zeit wie dieser, in der in und um Europa Kriege geführt werden, ist es wichtig, ein Zeichen zu setzen. Zu sagen, dass man hinter der freiheitlichen Demokratie steht, in der Konflikte im Ratssaal und nicht auf dem Schlachtfeld ausgetragen werden.
Noch bis Dienstag kannst du in den meisten Kantonen brieflich wählen. Sonst kannst du immer noch an die Urne gehen. Damit wir auch in Zukunft unbeschwert durch Europa pedalen können.
Denn die Ersten, die sich über eine niedrige Wahlbeteiligung freuen würden, sind Antidemokraten wie Putin, bin Salman und Co.